Wäre ich nicht arm, wärst du nicht reich

sit. Dieses Jahr feiert Bertolt Brecht seinen 125.Geburtstag. Der Dichter und Kommunist vermittelt mit seinem Schaffen das kritische Denken und das Hinterfragen der bestehenden Verhältnisse – was heutzutage ein rares Gut geworden ist. Umso wichtiger ist es, Brecht als Mensch nicht sterben zu lassen. 

«Warum bist du Kommunist geworden?», fragte einst ein junger Genosse Karli Palma. Karli, der pensionierte PdA-Genosse, der schon sein Leben lang in der Partei engagiert war, antwortete ihm: «Solange es auf dieser Welt Menschen gibt, die hungern müssen, stimmt doch was nicht. Und das ist Grund genug». Er machte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: «Und ich habe Bertolt Brecht gelesen.» 

Nicht stehen bleiben
«Wer die Wahrheit nicht weiss, der ist bloss ein Dummkopf. Aber wer sie weiss, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher». Dies ist eines der vielen berühmten Zitate von Bertolt Brecht, der dieses Jahr am 10. Februar seinen 125.Geburtstag feierte. Ja, feierte (und nicht: gefeiert hätte), denn wie der Kommunist und Dichter auch sagte: «Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.» Und würde niemand mehr an Brecht denken, wäre diese Welt in einem noch schlimmeren Zustand, als sie eh schon ist.
Die Aktualität von Brecht ist seine Genialität. Diese besteht unter anderem darin, die Menschen zum Nachdenken zu bringen und mehr. Denn er fordert vor allem dazu auf, weiterzudenken, nicht stehenzubleiben. Der Sache also auf den Grund zu gehen. Zum Beispiel: Wer sind die Menschen, die die Wahrheit kennen, sie aber eine Lüge nennen? Woraus besteht genau diese Lüge? Von welcher Wahrheit ist die Rede? Und was genau ist das Verbrechen, dass sie begehen? Die Antworten auf diese Fragen führen zur Kritik, sowie zum Verstehen des Bestehenden.
Brecht vermittelt mit seinem Schaffen das kritische Denken, das Hinterfragen der Dinge. Und das ist ein rares Gut geworden in unserer Zeitepoche, in der kaum noch jemand etwas grundsätzlich hinterfragt – und unser Leben von einem etwa zwölf Zentimeter hohen und fünf Zentimeter breiten technischen Gerät diktiert wird. Brecht als Mensch nicht sterben zu lassen, heisst, das kritische Hinterfragen der Dinge anzuwenden und weiterzuvermitteln. Denn dies ist eine Voraussetzung, um das Bestehende zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Genau darum ging es Bertolt Brecht. Mit seinem Schaffen hat er einen wertvollen Beitrag dazu geleistet – und wird es auch noch in Zukunft tun. 

Sich der Selbstkritik stellen
Das kritische Hinterfragen und  das Analysieren ziehen sich wie ein roter Faden durch die Werke von Bertolt Brecht. So sind sie auch in seiner Schrift «Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit» zu finden. Gleich zu Beginn hält er fest: «Der Schreibende soll sich nicht den Mächtigen beugen, er soll die Schwachen nicht betrügen. Natürlich ist es sehr schwer, sich den Mächtigen nicht zu beugen und sehr vorteilhaft, die Schwachen zu betrügen.» Sätze, die durch ihre Einfachheit bestechen, aber – bei vertieftem Nachdenken – das Machtgefüge und die Machtverhältnisse des Bestehenden aufzeigen. Entstanden ist diese Schrift während der Zeit des Hitlerfaschismus. Bezeichnend ist, dass er den Finger nicht nur auf das Böse richtet. Sondern in einer extrem schwierigen Zeit, auch zur Selbstkritik auffordert. Brecht schreibt: «Ebenso ist Mut nötig, um die Wahrheit über sich selbst zu sagen, über sich, den Besiegten. Viele, die verfolgt werden, verlieren die Fähigkeit, ihre Fehler zu erkennen. (…) Zu sagen, dass die Guten nicht besiegt wurden, weil sie gut, sondern weil sie schwach waren, dazu ist Mut nötig».
Der Dichter unterstreicht hier – ob gewollt oder nicht – eine Wahrheit, die Rosa Luxemburg so formuliert hat: «Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung.» Sich der Selbstkritik zu stellen, ist eine Aufforderung an jenerLinke, auf dessen Fahne noch die Überwindung des Kapitalismus steht. Der 1.Mai sollte auch der Tag sein, an dem die revolutionäre Linke (aber nicht nur) zumindest einen Moment lang über die Worte von Rosa und Bertolt nachdenken sollte – um dort aber nicht stehenzubleiben. Denn dies wäre das definitive Ende, wie Brecht uns lehrt. 

Mit Marx einen Schritt weiter
«Genossen, bevor wir Sozialisten waren, waren wir Unglückliche», notiert sich einst Brecht. «Einen langen, mühsamen, von zahlreichen Kämpfen gepflasterten Weg musste Brecht bis dahin zurücklegen», schreibt Mesut Bayraktar in seinem lesenswerten Essay «Hunger ist ein schlechter Koch» (siehe Seite 11). In seiner ersten Schaffensphase blamiert Brecht die Ideen der Herrschenden «durch die Konfrontation mit ihren Interessen». Doch ab Ende der 1920er-Jahre reicht ihm das nicht mehr und er ging einen bedeutenden Schritt weiter. Ein Wendepunkt in Brechts Leben und seinen Arbeiten war, als er sich mit den Schriften von Karl Marx auseinandersetzte. So hielt der Dichter und Kommunist in einer seiner zahlreichen Notizen fest: «Als ich ‹Das Kapital› von Marx las, verstand ich meine Stücke. Man wird verstehen, dass ich eine ausgiebige Verbreitung dieses Buches wünsche.» 

Eine Wahrheit des Kapitalismus
Genosse Brecht teilt sich die diesjährige traditionelle Beilage in der 1.Mai-Ausgabe des vorwärts hauptsächlich mit zwei beeindruckenden Arbeitskämpfen – er ist bestimmt nicht böse darüber. Der Streik im Baskenland hat mit seinen 1345 Tagen bereits Geschichte geschrieben (siehe Seite 13). Noch nie dauerte ein Arbeitskampf so lange. Brecht hätte bestimmt ein Theaterstück daraus gemacht.
Der andere Streik war bei Redaktionsschluss noch voll im Gange: LKW-Fahrer:innen weigern sich auf einem Autobahnparkplatz bei Darmstadt in Deutschland, weiterzufahren (siehe Seite 15). Dies, weil sie seit über 50 Tagen nicht bezahlt wurden. Wenn wir über diesen Streik etwas vertiefter reflektieren, landen wir wieder bei Brecht.
Der «Dummkopf», der die «Wahrheit nicht weiss», ist in diesem Falle die breite Masse der Bevölkerung. Sie soll auch möglichst wenig von Arbeitskämpfen mitbekommen. Denn je «dümmer», desto kleiner die Gefahr für die Herrschenden. Der Inhaber der Firma behauptet, die Zahlungen seien alle korrekt erfolgt. Er kennt die Wahrheit und nennt sie eine Lüge, indem er das Gegenteil der Tatsachen behauptet. Sein Verbrechen besteht darin, die LKW-Fahrerin:innen bis aufs Blut ausbeuten zu wollen. Und so sind wir bei jener Wahrheit im Kapitalismus, die Brecht so festhält: «Wäre ich nicht arm, wärst du nicht reich.» 

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