Was tun, Lenin?

Gaudenz Pfister. Lenins Broschüre «Was tun?» gehört zu den Schlüsseltexten des Marxismus-Leninismus, weil sie drei fundamentale Fragen beantwortet: Was ist die Aufgabe einer kommunistischen Partei? Wie soll sie organisiert sein? Wie soll sie Propaganda machen? Lenins Antworten sind keine Rezepte, sondern helfen beim Suchen von Antworten.

Es ist die Aufgabe einer kommunistischen Partei, in die Kämpfe der Arbeiter:innen und anderen Schichten, die spontan aufgrund von Ausbeutung und Unterdrückung entstehen, eine kommunistische Ausrichtung und Bewusstsein hineinzutragen. Eine solche Partei braucht Genoss:innen, die sich der Politik widmen (für Lenin müssen es Berufsrevolutionär:innen sein). Es braucht eine zentrale Zeitung, die die Positionen der Partei propagandistisch aufbereitet – heute könnte es auch ein anderes Medium sein. Und indem die einzelnen Parteiorganisationen in der Produktion der Zeitung zusammenarbeiten, entsteht in der Praxis eine gemeinsame, zentrale Partei. Ginge es nur um diese Antworten, könnte der Text einiges kürzer sein, in den Gesammelten Werken (LW) umfasst der Text knapp 200 Seiten. Lenin braucht viele Seiten, um die Argumentationen seiner damaligen ideologischen Gegner, der «Ökonomisten» zu zerpflücken. Diese hielten den Kampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, den ökonomischen Kampf, für die einzige Möglichkeit, um die Arbeiter:innen zu mobilisieren. Erst in einer zweiten Stufe würden diese dann den Kampf gegen die zaristische Diktatur aufnehmen. Das erscheint intuitiv richtig, und es entspricht ja auch unserer Parteipraxis: Für höhere Löhne, gegen Inflation und den Anstieg der Krankenkassenprämien, das sind ökonomische Themen, die aufs Portemonnaie der Werktätigen schlagen. Das findet Lenin nicht falsch, aber er besteht darauf, dass das nicht die Hauptaufgabe einer kommunistischen Partei sein darf. Hier fallen die beiden berühmten Sätze, die diese Hauptaufgabe allgemein formulieren: «Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.» Denn: «Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschliesslich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag.» Lenin nimmt dabei die Situation in England als Negativbild: starke Gewerkschaften (Trade Unions), aber keine revolutionäre Partei

Lenins kühner Plan
Seine innerparteilichen Gegner:innen warfen Lenin vor, dogmatisch die Revolution zu predigen, statt für fassbare Verbesserungen zu kämpfen. Uns käme es auch phrasenhaft vor, würden wir statt «Nieder mit den Krankenkassenprämien!», «Nieder mit dem Kapitalismus!» auf Flugblätter schreiben. Seine Rechtfertigung zieht Lenin aus der marxistischen Theorie und der konkreten Situation. Der Glaube an die Machbarkeit einer Revolution ist uns heute abhandengekommen, aber auch zu Lenins Zeiten war nicht offensichtlich, wie schwach die zaristische Diktatur im Grunde war, denn diese stützte sich auf einen grossen Repressionsapparat und die allmächtige Geheimpolizei zerschlug jede neu entstehende Gruppe schnell wieder.
Lenin begründet nicht lange, warum die Revolution möglich ist, sondern er entwickelt einen Plan. Es gibt verschiedene Klassen, die mit der zaristischen Diktatur unzufrieden sind, aber es soll die Arbeiter:innenklasse sein, die diese Revolution anführt. Dazu braucht es die Partei, deren hauptsächliche Aufgaben Organisation, Agitation und Propaganda sind. Erst muss sie das politische Bewusstsein bilden. Nur wenn man alle verschiedenen Klassen mit ihren Stärken und Schwächen begreift, kann man politische Situationen lesen und ausnützen. Diese Fähigkeit muss gelernt werden. Lenin weist diese Aufgabe der Parteizeitung zu. Diese soll nicht möglichst viele Leser:innen erreichen (dafür gibt es Flugblätter), sondern vor allem die Mitglieder und die Interessierten bilden, nicht allgemein-abstrakt, sondern unbedingt aktuell.

Politik und Bewusstsein
Aktuell, aktiv und umfassend, das ist politisches Bewusstsein für Lenin. «Das Bewusstsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Missbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen (heute: kommunistischen) und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren.» Wenn man an den Wokismus denkt, der aus der richtigen Ablehnung der Unterdrückung von Queers und People of Colour eine Ideologie macht, die sich leicht an die Herrschaft schmiegt, ist dieser Satz sehr aktuell. Genauso umfassend denkt Lenin auch das Klassenbewusstsein. «Das Bewusstsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewusstsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten.»
Das Forum, auf dem sich dieses politische Bewusstsein konkret und brennend aktuell entwickelt, ist die Parteizeitung. Dort sollen nicht nur die Intellektuellen mitarbeiten, sondern auch die Leser:innen, die Parteimitglieder selber, die mit Zuschriften dazu beitragen sollen, dass die Situation im Land und in den Parteisektionen für alle transparent ist und Erfahrungen ausgetauscht werden. Drei Jahre nach «Was tun?» hat Lenin das noch deutlicher formuliert: «Möge jeder, der dieses Organ als das seine betrachtet und sich der Pflichten eines Sozialdemokraten, eines Parteimitglieds bewusst ist, ein für alle Mal die bürgerliche Gewohnheit ablegen, so zu denken und zu handeln, wie es legalen Zeitungen gegenüber üblich ist, von denen man sagt: Ihre Sache ist es, zu schreiben, unsere Sache ist es, zu lesen. An der sozialdemokratischen Zeitung sollen alle Sozialdemokraten mitarbeiten.»

Nicht ohne Gramsci
Lenins Argumentation fällt in eine zugespitzte Zeit, in welcher der Zarismus stark ist, weil er sich auf die Repressionsapparate stützen kann, aber gesellschaftlich isoliert ist, weil er verschiedene Klassen und Schichten gegen sich hat. Als am Ende des 1.Weltkrieges die russische Armee geschlagen ist, fällt der Zar ohne grosse Gegenwehr. Antonio Gramsci, der die Kommunistische Partei Italiens Anfang des 20.Jahrhunderts anführte, erkannte schon damals, dass westliche Gesellschaften nicht in der gleichen Situation sind. Er strebt genauso den revolutionären Umsturz an, und so interessiert ihn die Frage, worin sich die Regimes in den westlichen Ländern von demjenigen Russlands unterscheiden. Er stellt fest, dass diese Regimes es geschafft haben, sich in verschiedenen Schichten und Klassen zu verankern, so dass es nicht nur die Repression, sondern die Zustimmung von Teilen der Bevölkerung über die herrschende Klasse hinaus ist, die das Regime stützt. Diese Form der Herrschaft nennt Gramsci «Hegemonie», Vorherrschaft, weil es ein Austarieren von materiellen Interessen und eine ideologische Berieselung umfasst, die die aktive Zustimmung von weiten Teilen der kleinbürgerlichen und der proletarischen Klassen garantieren.
Diese Hegemonie sollten wir uns nicht als einheitliche Herrschaft vorstellen. Nach Gramsci gibt es ein längerfristig stabiles Kräfteverhältnis, das die sehr wohl existierenden Widersprüche innerhalb des Bürgertums und im Verhältnis zu den anderen Klassen fixiert (einen «historischen Block»). In der Schweiz sind es verschiedene Modelle des materiellen Ausgleichs und der ideologischen Einbindung, die miteinander konkurrieren und damit die Tagespolitik antreiben. Man kann zuschauen, wie die europa-freundliche Fraktion des Bürgertums strampelt, um das Hegemonie-Modell von Blochers SVP zu kopieren. Erst mit Gramscis Hegemonie-Konzept ist zu verstehen, was die SP und die Gewerkschaften heute darstellen. Wir denken über sie als «schon noch links aber nicht konsequent» und sehen sie (wie sie sich selber auch) in der Tradition der Arbeiter:innenbewegung. In den letzten Jahrzehnten haben kleinbürgerliche Intellektuelle die Führung übernommen. So scheint die SP den organisierenden Kern des fortschrittlichen Kleinbürgertums zu sein. Auch die Gewerkschaften werden mehrheitlich von kleinbürgerlichen Intellektuellen geführt. Zugespitzt kann es so formuliert werden: Das fortschrittliche Kleinbürgertum nutzt diese, um die mobilisierbaren Arbeiter:innen einzubinden. Ein ehemaliger SP-Regierungsrat, der Gewerkschaftsboss wird, ist eine wertvolle Karte im Pokerspiel um die Beziehungen zur EU.

Lenins Rat
Es fehlt heute nicht an fundierter Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus. Das linke «Denknetz» hat zu vielen Themen Dossiers erarbeitet, ebenso die Gewerkschaften, auf deren Argumentation zur Abstimmung über die Pensionskassenreform wir uns abgestützt haben. «Renten-Bschiss!» und der Appell ans Portemonnaie der Arbeitenden ist erst die gewerkschaftliche Position. Wir sehen nicht die Winkelzüge der verschiedenen Kapitalfraktionen, die ihren Interessenausgleich in komplizierten Kompromissen verstecken, und verpassen so die Gelegenheit für die politische Bildung, die uns die Gewerkschaften nie liefern werden.
Was bedeutet es, wenn die aktivsten Grosskapi-talist:innen unser Alterskapital in der Hand haben, um den Kapitalismus damit am Laufen zu halten? Wer hat mit wem welchen Kompromiss gemacht, um dieses undurchschaubare Paket zu schnüren? Warum haben nicht nur die fortschrittlichen Kleinbürger:innen in den Gewerkschaftszentralen, sondern auch die konservativen Kleinbürger:innen im Gewerbeverband dieses Paket torpediert? Mit solchen Fragen sehen wir erst, wie «die Verhältnisse tanzen».
Lenin dachte politisch kühn, er sah mit der Theorie von Marx, wie Gesellschaft und Geschichte von den Herrschenden gemacht werden und was wir machen können. Gleichzeitig war er ein Praktiker. Mit der zentralen Zeitung zu beginnen, bevor die zentralen Gremien funktionieren, ist paradox, aber praktisch richtig, weil die konkrete Zusammenarbeit die zerstreuten Gruppen zusammenbringt. Deshalb dürfen wir auch auf zwei weitere Ratschläge von ihm hören: den Redakteur:innen genug Zeit zum Recherchieren und Synthetisieren zu geben und die Beteiligung der Sektionen. Diese sollten nach dem Vorschlag von Lenin ein Viertel ihrer Arbeitszeit in die Zeitung investieren. Für tagesaktuelle Artikel ist der Rhythmus der Mitgliederversammlungen zu träge, aber Diskussionen über die brennend aktuellen Themen, in denen sich die Interessen der verschiedenen Klassen (versteckt hinter wohltönenden Phrasen) reiben, sind das Material für die politische Bildung. Die Themen selber sind schnell gefunden: Krankenkassen, Wohnungskrise, Pension und AHV, Bildung. Viel schwieriger ist das Verstehen. Aber wenn Agitation und Propaganda neben der Organisation Hauptaufgabe der Partei sind, dann ist das keine schlecht investierte Zeit.

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