Es braucht eine Repolitisierung
Thomas Knecht. Vor fünfzig Jahren wurden durch die Stonewall Riots in New York Impulse gegeben, die weltweit zur Organisierung der LGBTI-Queer-Bewegung beitrugen. Bis zur Liquidierung der Deutschen Demokratischen Republik und der forcierten Entpolitisierung war die Bewegung in Ost- und Westdeutschland links und antikapitalistisch.
Die ersten Auseinandersetzungen fanden statt, als Polizisten in der Nacht vom Freitag, den 27. Juni, auf Samstag, den 28. Juni 1969, ab etwa 01.20 Uhr eine Razzia in der Stonewall Inn durchführten, einer Bar mit homosexuellem Zielpublikum in der Christopher Street an der Ecke der 7th Avenue in Greenwich Village, New York. Zum ersten mal widersetzte sich eine grosse Gruppe von Schwulen, Lesben, Transmenschen, Transvestiten und Drag Queens der Verhaftung. An diesem Tag hielten sich besonders viele Schwule in New York auf, weil zuvor die Beerdigung der Schauspielerin und Schwulenikone Judy Garland stattgefunden hatte. Die Besucher des Stonewall Inn liessen sich das Vorgehen der Polizei nicht mehr wie so oft zuvor gefallen und die Polizisten wurden gewaltsam vertrieben.
Homophobie und Rassismus
Die Ereignisse führten zu einer breiten Solidarisierung im New Yorker Schwulenviertel. Auch in den Folgetagen wurde den inzwischen verstärkten Polizeischlägertruppen erfolgreich Widerstand geleistet. Erst nach fünf Tagen beruhigte sich die Situation. Vor den Stonewall Riots war es üblich, dass die Polizei die Identitäten aller Anwesenden bei derartigen Razzien erfasste und oft genug auch in der Presse veröffentlichte, mit verheerenden Folgen für die so zwangsweise Geouteten. Es ist davon auszugehen, das neben der Homophobie auch Rassismus eine Rolle spielte, dass das Stonewall Inn überfallen wurde. Denn dort verkehrten viele «Schwarze» und «Latin@s». Also ganz nach dem Motto: nicht nur schwul, sondern dazu noch von anderer Hautfarbe, und eventuell finden sich sogar noch ein paar Kommunisten.
Sechs Polizisten, von denen nur einer Uniform trug, kamen in besagter Nacht in das Lokal. Wie es genau zum Aufstand kam, ist unklar. Eine Version ist, dass eine Transperson eine Flasche nach einem Polizisten warf, nachdem sie von dessen Schlagstock getroffen worden war. Eine andere, dass eine Lesbe sich dagegen gewehrt hat, in ein Polizeiauto verfrachtet zu werden. Was fest steht ist, dass eine Schlägerei begann, in der die Polizisten schnell überwältigt wurden. Sie zogen sich in die Bar zurück. Der heterosexuelle Folk-Sänger Dave Van Ronk, der dort vorbei kam, wurde von den Polizisten ergriffen, in die Bar gezerrt und verprügelt.
Stonewall Inn-Barkeeper Tree Sequoia, inzwischen 80 Jahre alt, erinnert sich: «Wir hörten noch die Drag Queen Gypsy rufen: Fasst mich nicht an, mein Mann ist auch ein Bulle! Wir konnten schliesslich nach draussen flüchten. Da waren dann 25, 30 Leute. 50, 100, 150. Und dann fingen wir an, Steine und Flaschen zu werfen und Polizeiwagen zu schütteln. Und wir brachen das Schloss an einem Gefangenentransporter auf und alle kamen heraus. Eine Parkuhr wurde als Rammbock benutzt um wieder in die Bar zu kommen und die Polizisten zu vertreiben.»
In dieser Nacht gab es 13 Festnahmen, und vier Polizisten wurden verletzt. Die Zahl der verletzten Protestierenden ist unbekannt. Mindestens zwei Personen, die Widerstand leisteten, wurden von der Polizei schwer verletzt. Die Zahl der Protestierenden wird auf mindestens 2000 geschätzt, gegen die 400 Polizisten eingesetzt wurden. Die Polizei bekam Verstärkung durch die Schlägertruppe der «Tactical Patrol Force», einer Einheit, die darauf trainiert war, Demonstrationen von Vietnamkriegsgegnern zu bekämpfen. Aber in der nächsten Nacht kehrten die Protestierenden zurück. Kleinere Zusammenstösse zwischen ihnen und der Polizei folgten.
Gay-Pride-Bewegungen
Als eine der Folgen dieser Auseinandersetzungen kann die im Juli 1969 sich formierende «Gay Liberation Front» (GLF) in New York angesehen werden. Zum Ende desselben Jahres existierte die GLF bereits in vielen Städten der USA. Ab 1970 gründeten sich weltweit ähnliche Organisationen, unter anderem in Kanada, Australien, Neuseeland, Frankreich, Grossbritannien, Belgien, den Niederlanden und der BRD. Im gleichen Jahr organisierte die GLF im Gedenken an den Stonewall-Aufstand einen Marsch von Greenwich Village zum Central Park. Fast 10 000 Menschen nahmen an diesem Marsch teil. Damit war die Tradition des Christopher Street Day (CSD) begründet, mit der viele Gay-Pride-Bewegungen seither im Sommer das Andenken an diesen Wendepunkt in der Geschichte der Diskriminierung von Homosexuellen feiern.
Praunheim radikalisierte
In der BRD radikalisierten sich erstmals 1970 Homosexuelle als Reaktion auf Rosa von Praunheims Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt». Noch im selben Jahr gründeten sich die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW) und die Rote Zelle Schwul (Rotzschwul) in Frankfurt am Main. Sie war eine marxistisch-antikapitalistisch orientierte Aktionsgruppe, die zu Recht die homosexuelle Subkultur kritisierte. Diese sei eine «unfreiwillige Subkultur mit Zwangsmitgliedschaft». Die Homosexuellen «reproduzierten in ihr die gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen». Der Ansatz müsse sein, «dies zu erkennen und die Subkultur zu einem Kampfmittel gegen die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu machen. Ebenfalls wurde betont, «wir sehen in der Unterdrückung von Homosexualität nur einen speziellen Fall der allgemeinen Unterdrückung der Sexualität, die der Sicherung der politischen und ökonomischen Macht dient.» Daraus ergebe sich, «dass sich die Homosexuellen ihrer Lage als Lohnarbeiter bewusst werden müssen, um an der Seite der Arbeiterklasse für die Veränderung der Gesellschaft einzutreten.»
Alternative Infrastruktur
Als es in London im gleichen Jahr zu einem ersten Gay Liberation March kam, erinnerten auch in der Bundesrepublik vereinzelte Stimmen an den Christopher Street Day. Neben ein paar Demonstrationen und verschiedenen politischen Aktivitäten, die sich gegen die Diskriminierung von Queers richteten, entstand eine alternative Infrastruktur, die sich ausserhalb der kommerziellen Subkultur etablierte. Buchläden, Verlage, Zentren und Vereine aus der damaligen Zeit existieren vereinzelt heute noch. In Deutschland fanden im Jahre 1979 in Bremen und in Berlin die ersten CSDs unter eben dieser Bezeichnung statt. Grössere Lesben- und Schwulendemonstrationen gab es in der BRD schon seit dem Jahre 1972. Die erste fand statt am 29. April 1972 in der westfälischen Stadt Münster.
Ergebnis der Konterrevolution
Im Jahr der Weltfestspiele der Jugend und Studenten, die 1973 in Berlin, Hauptstadt der DDR stattfanden, gab es einen regen Austausch zwischen Mitgliedern der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) und Schwulen, die in der DDR politisch engagiert waren. Mehrere HAW-Aktivisten waren Mitglieder der SEW (Sozialistischen Einheitspartei Westberlin). Diese Genossen, zum Beispiel Volker Eschke, aber auch Parteiunabhängige HAW-Aktivisten hatten Kontakt zu Peter Rausch, Michael Eggert und anderen, die damals eine lose Vereinigung von Schwulen in der DDR bildeten. Von 1984 bis 1990 war die DeLSI (Demokratische Lesben und Schwulen Initiative) die einzige bundesweite Schwulen -und Lesben Organisation der BRD und stand wie andere fortschrittliche Kräfte der DKP nahe. Mitte der 1990er Jahre löste sich die DeLSI wie so vieles als Ergebnis der Konterrevolution in Osteuropa auf.
Kommerzielle Volksfeste
Wie bei so vielem, lässt sich mit dem Zusammenbrechen des Sozialismus seit 1989, offenbar auch bei den CSDs eine zunehmend anti-progressive Entwicklung feststellen. Denn inzwischen sind diese Demonstrationen vor allem kommerzielle Veranstaltungen mit Volksfestcharakter. Diese zunehmende Entpolitisierung hinterlässt ein Vakuum. Eine politische Queer-Bewegung existiert faktisch nicht mehr. Das Wesentliche für Stonewall jedoch war der Widerstand gegen die Staatsgewalt. Das legitime Anliegen der Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse ist heute aktueller denn je. «Ich glaube, es wäre unverantwortlich für mich, nur über den World-Pride-Monat zu reden. Nicht aber über die Ereignisse in der Stonewall Inn im Juni 1969 (…). Was die New Yorker Polizei damals tat, war falsch, schlicht und einfach. Die Massnahmen und die Gesetze waren diskriminierend und unterdrückend. Dafür entschuldige ich mich.», so der Polizeichef von New York James O’Neill vor wenigen Tagen.
DKP queer, Arbeitsgruppe der Deutschen Kommunistischen Partei, ist der Meinung, dass es an der Zeit für einen revolutionären Pol in der Community ist, der linke Alternativen zum kapitalistischen Wahnsinn und der rechten Anpassungspolitik des Lesben- und Schwulen-Verband Deutschlands (LSVD) thematisiert und aktiv dafür eintritt. Die Partei setzte sich mit ihrer Teilnahme an den diesjährigen CSDs für deren umgehende Repolitisierung ein.