Der grüne Marx
Christian Stache. Noch 200 Jahre nach Karl Marx‘ Geburt hält sich hartnäckig das Gerücht über den antiökologischen, sogenannten prometheischen Marx. Sowohl das philosophisch-ideologiekritische Früh- als auch das ökonomietheoretische Spätwerk weisen in die diametral entgegengesetzte Richtung. Marx war der erste Ökosozialist.
Noch bevor Ernst Haeckel Ende der 1860er-Jahre überhaupt das Feld der Ökologie parallel zu Charles Darwins bahnbrechender evolutionstheoretischer Forschungsarbeit erstmals definierte, entwickelte Marx zusammen mit seinem kongenialen Partner Friedrich Engels eine Gesellschaftstheorie, in deren Zentrum das praktische Verhalten der Menschen zueinander und zur Natur steht. Eben jene zwei Relationen bilden die beiden Seiten der gesellschaftlichen Arbeit, um die sich nicht nur im «Kapital» fast alles bei Marx und Engels dreht. In ihrem ambitionierten Projekt einer interdisziplinären Natur- und Sozialwissenschaft spielt das gesellschaftliche Naturverhältnis also keine Neben-, sondern eine von zwei Hauptrollen.
Ein lebendiges Naturwesen und sein Stoffwechsel mit der Natur
Für Marx ist der Mensch zunächst ein «lebendiges Naturwesen», das heisst «ein leidendes, bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die Pflanze» (MEW EB 1: 578) seien. Die Natur ist gleichzeitig «der unorganische Leib des Menschen» (ebd. 515). Die Menschen müssen sich ihrer bedienen und sie verändern, um ihre natürlichen und sozialen Bedürfnisse – Essen, Trinken, Kleidung usw. – zu erfüllen und sich selbst zu reproduzieren. Dieser «Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur», heisst es in Marx’ Opus magnum, sei die «ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens» (MEW 23: 198).
Indem sich die Menschen die Natur aneignen, indem sie produzieren, gehen sie, wie auch zahlreiche andere Tierarten, bestimmte Verhältnisse zueinander ein. Nur «innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen», betont Marx in «Lohnarbeit und Kapital», «findet ihre Beziehung zur Natur» (MEW 6: 407) statt.
Während die Menschen wie alle anderen Lebewesen zu jeder Zeit arbeiten bzw. produzieren müssen, sind die gesellschaftlichen Verhältnisse und der Stoffwechsel mit der Natur also mitnichten immer gleich organisiert. In jeder Phase der Natur- und Menschengeschichte gibt es, folgt man Marx und Engels, «ein historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander» (MEW 3: 38).
Kapital vs. Arbeit und Natur
In der aktuellen Epoche ist die gesellschaftliche Arbeit kapitalistisch organisiert. Das bedeutet zunächst, dass die Relationen der Menschen zueinander doppelt bestimmt sind. Zum einen gehen die Menschen auf dem Markt als politisch formal freie Individuen vermittelt über die Waren ein gesellschaftliches Verhältnis ein. Indem sie Waren kaufen und verkaufen, knüpfen sie ein Band, das sie miteinander verbindet.
Gleichzeitig existiert zwischen denselben Menschen in der Produktion ein sozioökonomisches Ausbeutungsverhältnis. Es basiert darauf, dass eine Klasse der Menschen, das Proletariat, kein Eigentum an Produktionsmitteln besitzt, während eine andere, die KapitalistInnenklasse, die Produktionsmittel monopolisiert hat. Die KapitalistInnen lassen die ArbeiterInnen für sich arbeiten, um sich die von ihnen produzierten Waren und den in diesen vergegenständlichten Profit anzueignen. Die ArbeiterInnen wiederum erhalten einen Lohn, der bestenfalls dazu ausreicht, ein wenig mehr als ihre unmittelbaren Alltagsbedürfnisse zu befriedigen und ihre Arbeitskraft zu erneuern.
In die Beziehungen auf dem Markt ist die Natur gar nicht eingebunden. Bruchstücke von ihr, etwa eine bestimmte Menge Erdöl oder das Fleisch von Tieren, bilden lediglich Anteile der Gebrauchswerte der zirkulierenden Waren. Im Produktionsprozess hingegen unterhalten die KapitalistInnen ein direktes Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis zur belebten und unbelebten Natur. Sie eignen sich die Natur, z.B. in Form von fossilen Energieträgern oder von Tieren, unmittelbar «gratis» (MEW 23: 630) in der für sie erforderlichen Quantität an und machen sie zu ihrem Privateigentum. Die Natur wird zur «Gratisnaturkraft des Kapitals» (MEW 25: 753).
Business as usual
Für die unabhängig voneinander agierenden PrivatproduzentInnen sind die Qualitäten, die relative Eigenständigkeit und die Eigengesetzlichkeiten der Natur bei ihrer Aneignung ebenso wenig von Bedeutung wie die Folgen der Produktion für die Natur oder die natürliche Reproduktion. Für die KapitalistInnen ist entscheidend, dass es zur Produktion von Waren und von Profit neben der Arbeitskraft der ProletarierInnen auch der Natur bedarf. Denn, obwohl die Natur keinen Wert schafft, erzeugt sie die verschiedenen Rohstoffe zur Herstellung unzähliger Waren.
Energieproduktion auf Basis fossiler Brennstoffe, Rohstoffraubbau oder Milliarden getöteter Tiere für die Fleischproduktion sind keine Betriebsunfälle, sondern kapitalistisches «Business as usual». Denn schliesslich gibt es keine gesellschaftliche Instanz, die demokratisch darüber entscheidet, was, wie und in welchen Mengen produziert wird. Dieses Votum nehmen die Herren und manchmal auch Damen EigentümerInnen und ManagerInnen von Glencore, Vattenfall, Tönnies, Nestlé usw. dem Rest der Gesellschaft ab.
Akkumulation von Profit
Der Stoffwechselprozess zwischen Gesellschaft und Natur findet also in der Produktion statt. In kapitalistischen Gesellschaftsformationen wird er zudem nicht von «den Menschen» organisiert, sondern gemäss der sozialen Relationen der Menschen zueinander von einer bestimmten Klasse innerhalb der Gesellschaft – den KapitalistInnen. Diese beutet als «wahrer Freimaurerbund» (MEW 25: 208) gegenüber der ArbeiterInnenklasse und der Natur beide in ein- und demselben Produktionsprozess, wenn auch qualitativ ungleich, aus.
Sie tun dies nicht ausschliesslich aus individueller Gier oder wegen ihres Willens zur Macht, sondern weil in kapitalistischen Produktionsweisen aufgrund der Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts über den Markt die wachsende Akkumulation von Profit zum Sinn und Zweck des gesellschaftlichen Arbeitens gesetzt wird. Die gesellschaftliche Produktion orientiert sich dementsprechend an der maximalen Produktion von Profit und nicht an den Bedürfnissen der Menschen und Tiere oder an den natürlichen Kreisläufen.
Um grösstmögliche Profite zu erzielen und im Wettbewerb nicht ins Hintertreffen zu geraten, lassen die KapitalistInnen die sozialen, technologischen und natürlichen Produktivkräfte stetig weiterentwickeln. Dies hat zur Folge, dass die Ausbeutung von ArbeiterInnen und Natur proportional zum Wirtschaftswachstum qualitativ vertieft wird und quantitativ sukzessive zunimmt. Zudem werden beständig Menschen proletarisiert und Teile der Natur in Wert gesetzt und monopolisiert, wo diese noch nicht Teil des Kapitalkreislauf sind.
Die Produktivkräfte erhalten laut Marx und Engels «unter dem Privateigentum eine nur einseitige Entwicklung» und werden für die Mehrheit der Menschen und die Natur «zu Destruktivkräften». Andere Produktivkräfte kämen erst «gar nicht zur Anwendung» (MEW 3: 60). Engels gab in seinen Arbeiten zur «Dialektik der Natur» zudem zu bedenken, dass sich die Natur für jeden Sieg der Menschen über sie an ihnen räche. Denn jeder von ihnen bringe unbeabsichtigte Folgen mit sich. Der Klimawandel ist dafür vielleicht das Paradebeispiel.
Klassenfrage Naturausbeutung und -zerstörung
Marx schlussfolgert schliesslich aus seiner Darstellung der Beziehungen der Menschen zueinander und zur Natur im Kapitalismus vor allem zweierlei. Zum einen entfaltet sich die kapitalistische Produktion nur, «indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter» (MEW 23: 530). Zum anderen führt die Ausbeutung der Natur für die Profite der KapitalistInnen notwendig zu einem «unheilbaren Riss (…) in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels» (MEW 25: 208).
Die Ausbeutung und Zerstörung der Natur ist in der kapitalistischen Gesellschaftsformation also nicht nur eine Klassenfrage, weil sich ihre Folgen für die Massen der subalternen Klassen, insbesondere in der Peripherie des Weltsystems, zweifellos zu einer Existenzfrage verdichtet haben. Sie ist auch eine Klassenfrage, weil die ProfiteurInnen, Verursacher-Innen und Verantwortlichen von Atommüll, Fleisch und Klimawandel unzweideutig jener Klasse angehören, die über die Produktionsmittel verfügt. ArbeiterInnen und Natur haben einen gemeinsamen Gegner – trotz aller materiellen Zugeständnisse an die ArbeiterInnenaristokratie und KleinbürgerInnen der imperialistischen Metropolen und ungeachtet aller ideologischer Integrationsangebote.
Ökosozialistische Revolution
Die Naturausbeutung und -zerstörung durch die KapitalistInnen in der gegenwärtigen Produktionsweise ist letztlich auch kein Zufall. Sie ist das systemimmanente Problem sozial-ökologischer Relationen, die kapitalistisch organisiert sind. In einem Brief an Engels kommt Marx zu dem Fazit, dass die Gesellschaft, sofern sie «naturwüchsig vorschreitend und nicht bewusst beherrscht» werde, wie es in der bürgerlichen Gesellschaft der Fall ist, «Wüsten hinter sich zurücklässt» (MEW 32: 53).
Die Alternative besteht dementsprechend nicht darin, durch effizientere Technologien oder Märkte, ein anderes Konsumverhalten oder internationale Verträge die Steuerung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses zu optimieren und den Kapitalismus ökologisch zu modernisieren. Ebenso wenig reicht es aus, sie durch sozial-ökologische Reformen umzubauen. Vielmehr müssen die assoziierten ProduzentInnen, folgt man Marx, «ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen» (MEW 25: 828). Das heisst zum einen, dass die ausgebeuteten Klassen und Marginalisierten die Produktionsmittel vergesellschaften und die gesellschaftliche Arbeit demokratisch organisieren müssen. Zum anderen bedeutet es, dass die Natur nicht mehr das Eigentum der Menschen sein darf. Die Qualitäten, die relative Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeiten, die Folgen der Produktion, Verteilung und Konsumtion für die Natur und natürliche Reproduktion müssen bei der Organisation des gesellschaftlichen Naturverhältnisses berücksichtigt werden. Das wäre der Inhalt einer ökosozialistischen Revolution, der Weg, dem endgültigen Umweltkollaps noch irgendwie zuvorzukommen – und offenbar ganz in Marx’ Sinn.
Christian Stache ist Autor von «Kapitalismus und Naturzerstörung»(2017)
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