Viele Dimensionen der Krise

Einen der besten Gründe liefert der Artikel des deutschen Politikwissenschaftler Elmar Altvater. Es genügt jedoch nicht, die Artikel einfach nur zu lesen. Vielmehr muss man sich intensiv mit ihnen beschäftigen und auseinandersetzen, ganz besonders wenn es darum geht, den komplexen Sachverhalt und die verschiedenen Herangehensweisen voll und ganz zu erfassen. An dieser Stelle ist es angebracht, die von Werner Vontobel angeführte fernöstliche Disziplin des Übens zu erwähnen. Auch der Verfasser dieser Rezension musste einige Male über die Bücher gehen. Denn dieses Mal konfrontierte der Widerspruch ihn mit Themen, die zwar zu seinem Metier gehören, aber von ihm bisher schändlich vernachlässigt wurden. Aber gerade das macht den Widerspruch nicht nur zu einer Herausforderung, sondern auch zu einem guten Übungs- und Lehrstück. Ein Buch, das einen nicht geistig herausfordert, mag einfacher zu verdauen sein. Doch dürfte der Nutzen, den man daraus zieht, entsprechend gering sein. Die verschiedenen Perspektiven und Herangehensweisen der Autoren sorgen dafür, dass sich jedem Leser eine neue Sichtweise und neue Erkenntnisse eröffnen.

Grüner Daumen

Nur wer den postulierten Leitspruch «Weniger Staat, mehr Freiheit» unhinterfragt für bare Münze nahm, kann jetzt ernsthaft von der Rückkehr des Staates sprechen. Der Staat war und ist nach wie vor zur Durchsetzung und zum Erhalt des Neoliberalismus notwendig. Auch die strukturkonservativen Rettungspakete und Regulierungen bilden hier keine Ausnahme, zumal sie primär darauf abzielen, die bestehende grundlegende Gesellschaftsordnung zu erhalten. Es ging nie um den Staat als solches, wie die Transformation des Sozialstaates hin zu einem nationalen Wettbewerbsstaat belegt. Doch ist eine Rückkehr zum Sozialstaat, gestützt auf ein keynesianisches Wirtschaftsmodell überhaupt erstrebenswert? Selbst wenn es von einem «green new deal» flankiert würde, wäre das System nach wie vor auf ein permanentes Wachstum angewiesen. «Fast immer ist Grün im XXL-Format eine nicht besonders radikale Variante der herrschenden Politik. […] Am Ende des fossilen Zeitalters müssen wir die Frage aufwerfen, welche nicht-fossile Energie die fossilen Energieträger substituiert und welche Wandlungssysteme ihre Effizienz um den Faktor 10 erhöhen können.» so Elmar Altvater. Und weiter: «Wenn es keine Antwort gibt, wird es auch keine Möglichkeit geben, das Wachstum und den Wohlstand zu steigern und gleichzeitig den Ressourcenverbrauch und die Belastung der Schadstoffsenken zu verringern. Daher ist zu befürchten, dass das Wachstum im grünen Kapitalismus genauso materiell und daher nicht-nachhaltig ist wie in allen bisher realisierten Kapitalismen».

Zwar haben die Linken die verschiedenen Krisen erkannt, doch blieben sie weiterhin gedanklich von einander getrennt. Lösungsansätze zielen fast immer nur auf eine der Krisen ab, und das ungeachtet ihrer Interdependenz. Es ist zwingend notwendig die Finanzkrise mit der Klima-, der Nahrungs- und der unausweichlichen Rohstoffkrise gedanklich zu verbinden, um ganzheitliche Lösungen zu entwickeln. Ein «green new deal» oder eine Rückkehr zum Sozialstaat stellt indes keine Lösung dar. Doch könnte man damit einige Kampffelder und Handlungsspielräume zurückerobern, und die Kräfteverhältnisse nachhaltiger verändern.

Gründliche Analyse

Langfristig können sich Perspektiven nur dann eröffnen, wenn der Kapitalismus wieder als soziale Formation, und der Neoliberalismus sowie die von ihm geschaffenen Strukturen und Allianzen einer gründlicheren Analyse unterzogen werden. Den Neoliberalismus zuvorderst als wirtschaftspolitisches Modell zu betrachten, heisst zugleich die Transformation wesentlicher Bereiche der Gesellschaft zu ignorieren.

Dass es sich beim Neoliberalismus auch um ein hegemoniales Projekt handelt, welches selbst grosse Teile der Linken integrieren konnte, darf bei der Analyse nicht vergessen werden. Man erinnere sich nur an Schröders «Neue Mitte», oder Blairs «New Labour» um das Ausmass dieser Entwicklung, von der die Schweizer Sozialdemokratie nicht ausgenommen ist – vergleiche hierzu: Willy Spieler, «Zum Theoriedefizit der Sozialdemokratie» in Rote Revue Nr. 4/2009 – zu erkennen.

«Das hat sich an der Schwächung, ja der Auflösung des Klassenbewusstseins gezeigt, an der Anpassung an eine Ideologie der Eigenverantwortung und an der Konsenspolitik im Konkordanzsystem, welche der SVP ermöglicht hat, sich als einzige oppositionelle Kraft im Lande zu etablieren», so Hans Schäppi. Vor allem aber führte der Glaube an die Alternativlosigkeit des Systems zu einer gefährlichen Entpolitisierung der Bevölkerung. Dieser Zustand hat schwere Folgen für die Schweizer Linke, die eigentlich auf einen, wenn auch heimatlosen, latenten Antikapitalismus in breiten Teilen der Bevölkerung bauen könnte. Um dieses brachliegende Potential zu aktivieren, sind radikale Forderungen nötig, die in ihrer Summe die Utopie eine demokratischen und solidarischen Gesellschaft wieder realistisch erscheinen lassen.

Der Widerspruch bietet dafür genug Anregungen und Diskussionsgrundlagen. Wie Schäppi korrekt feststellt, ist «nicht nur eine Erneuerung, sondern ein eigentlicher Wiederaufbau der radikalen politischen Linken» dringend erforderlich. Eine schwierige aber nicht unmögliche Aufgabe, die sich über einen weiten Zeitraum erstrecken wird. Zu gross ist gegenwärtig der Vertrauensverlust der Linken innerhalb der Bevölkerung.

Aus dem vorwärts vom 19. Februar 3009

WIDERSPRUCH 57: Staat und Krise,  208 Seiten, Fr. 25.- / EUR 16.-,  im Buchhandel oder unter:

WIDERSPRUCH, Postfach, CH-8031 Zürich, vertrieb@widerspruch.ch

100 Jahre religiöser Sozialismus in der Schweiz

1906 von kirchenkritischen Pfarrern gegründet, entwickelten sich die «Neuen Wege» bald zum Organ des religiösen Sozialismus in der Schweiz.  Das Buch «Für die Freiheit des Wortes» lässt die Geschichte des Blattes nun Revue passieren.

Mit dem Titel ihres Buches spielen die drei Autoren – Willy Spieler, Stefan Howald und Ruedi Brassel-Moser – auf einen einschneidenden Moment in der Geschichte der «Neuen Wege» an. Während des Zweiten Weltkriegs sollte die Zeitschrift zwischenzeitlich der Zensur unterstellt werden. Dies, weil der damalige Redaktor, der Pfarrer Leonard Ragaz, wiederholt forderte, die Schweizerische Neutralität zugunsten einer «Solidarität der Völker» aufzugeben. Ausserdem wagte er es, Hitlerdeutschland in scharfen Tönen zu kritisieren. «Solches Heruntermachen fremder Staatsmänner und Regime gefährden im höchsten Masse unsere guten und darum wertvollen Beziehungen zum Ausland», hielt die Pressekontrolle des Kantons Zürich damals fest. Ragaz akzeptierte die Zensur nicht und lies die Zeitschrift 1940 aus Protest einstellen: «Ich habe ohne Zögern abgelehnt, meine Manuskripte von irgendeinem Offizierlein, dessen politisches Urteil in keinem Verhältnis zur Grösse seiner Einbildung stünde, korrigieren zu lassen, wie ein Schulbube einen Aufsatz von seinem Lehrer.» Bis zum Ende des Krieges erschien die Zeitschrift im Untergrund.

Ein Buch zum Schmökern

Angesichts der Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die diesen Sommer erneut entbrannte, erscheint der Bezug im Titel ungewollt aktuell. Doch nicht nur zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, sondern auch zu unzähligen anderen Debatten liefern die aufbereiteten Auszüge aus den «Neuen Wegen» mancherlei Interessantes. Erwähnt sei hier nur der Umgang mit der Systemfrage, dem Arbeitsfrieden oder der Armee innerhalb der Sozialdemokratie.

Das Buch schildert den Werdegang der Zeitschrift von ihren Anfängen bis zur Gegenwart in grossem Detailreichtum. – Und das nicht bloss einmal, sondern vier Mal unter verschiedenen Blickwinkeln. Im Teil «Allerwärts am Aufbau der neuen Welt arbeiten» beleuchten die drei Autoren die Geschichte der Zeitschrift an sich und ihre Wechselwirkung mit verschiedenen sozialen Bewegungen. In einem zweiten Teil widmen sie sich vertieft dem Umgang mit religiösen Themen in den Spalten der Neuen Wege. Die Befreiungstheologie findet hier ebenso Erwähnung, wie die feministische Theologie. Unter dem Titel «Wir sind es, die den Frieden machen oder nicht machen» sind im dritten Teil Beiträge zu Pazifismus – oder besser: Antimilitarismus – zusammengefasst. Bereits lange Zeit bevor es eine GSoA gab, in den frühen 20er Jahren, war der eingangs schon erwähnte Leonard Ragaz ein vehementer Verfechter der militärischen Abrüstung in der Schweiz. Der vierte Teil schliesslich trägt Artikel zusammen, in welchen die Suche nach Alternativen zu Kapitalismus einerseits, und «Gewaltkommunismus» andererseits im Mittelpunkt stehen. Dabei klammern die drei Autoren heikle Punkte nicht aus. Das Buch ist keine oberflächliche Jubelschrift, sondern bildet auch Konflikte, Spannungen und Spaltungen innerhalb der Redaktion und der religiös-sozialen Bewegung generell ab. Damit leistet es eine wirklich umfassende Aufarbeitung der Geschichte der «Neuen Wege».

Wie die Autoren festhalten, nehmen sie Überschneidungen zwischen den vier Teilen bewusst in Kauf. Das enorm umfangreiche Buch ist somit nicht gemacht, um von vorne bis hinten durchgelesen zu werden. Vielmehr ist es ein Buch zum Schmökern und Stöbern, zum Hin- und Herblättern. Die immense Fülle von Material, das die Autoren aufbereiten, ist dabei Fluch und Segen zugleich. Das Buch weist eine Vielfalt von Themen auf, die selten zu finden ist. Allerdings fragte ich mich bei der Lektüre stellenweise, ob denn nicht weniger mehr gewesen wäre. Ob nicht weniger Breite, und dafür mehr Tiefe von Nöten gewesen wäre.

Denkmal für stille Schaffende

Dennoch möchte ich das Buch allen wärmstens empfehlen, die sich für religiösen Sozialismus und Antimilitarismus weltweit sowie linke Bewegungen in der Schweiz interessieren. «Für die Freiheit des Wortes» stellt eine Art Karte durch die mittlerweile über tausend Ausgaben der «Neuen Wege» dar. Wenn man sich mit einem der aufgeführten Themen deshalb vertieft beschäftigen möchte, erschliesst einem das Buch deshalb unzählige spannende Quellentexte aus der Zeitschrift. Einer Zeitschrift, nota bene, die aufgrund der in ihr praktizierten qualitativ hochwertigen Analyse und Reflektion seit Jahrzehnten in der deutschsprachigen Linken ein ausgezeichnetes Renommee besitzt.

Besonders spannend macht das Buch, dass die drei Autoren nicht nur bekanntere Persönlichkeiten, wie Leonard Ragaz, Frei Betto und Ruth Dreifuss berücksichtigen. Es ist nicht primär die Geschichte einiger grosser Stars, die hier dargelegt wird, sondern jene einer Vielzahl von engagierten Kämpferinnen und Kämpfer, die oftmals abseits des Rampenlichts wirkten. Von Personen, deren Grösse aus ihren Taten – und nicht aus ihrem Charisma – resultiert. Jenen stillen Schaffenden wird in diesem Buch ebenfalls ein Denkmal gesetzt.

Willy Spieler, Stefan Howald, Ruedi Brassel-Moser: «Für die Freiheit des Wortes». Theologischer Verlag Zürich, 440 Seiten, 48 Franken, ISBN 978-3-290-17415-6.