Zehn Jahre nach dem Genozid

Die mobile Klinik der Nahri-Organisation ist für die Menschen in der Shengal-Region oft der einzige Zugang zu medizinischer Versorgung. Bild:medicointernational.ch

sit. Tausende Ezid:innen wurden brutal ermordet, Frauen und Mädchen wurden entführt und versklavt, religiöse und kulturelle Stätten zerstört. Nach dem Massaker im August 2014 durch den «Islamischen Staat» kämpfen die Ezid:innen in Nordirak fernab der Weltöffentlichkeit für ein selbstbestimmtes Leben. Dabei spielen die Frauen eine zentrale Rolle.

Am 3. August 2014 fiel der «Islamische Staat» in das Shengal-Gebiet im Nordirak ein. Während ihrer Offensive und in den darauffolgenden Tagen und Wochen töteten IS-Terrorist:innen bis zu 10’000 Ezid:innen. Rund 7000 Frauen und Mädchen wurden verschleppt und als Sklavinnen ausgebeutet. Über 4000 wurden wiedergefunden, 3000 werden bis heute vermisst. Minderjährige Jungen wurden entführt, um sie als Kindersoldaten oder Selbstmordattentäter auszubilden. Alle religiösen und kulturellen Stätten der ezidischen Gemeinschaft in der Region wurden zerstört. Die Vereinten Nationen klassifizierten diese Verbrechen als den ersten Genozid des 21.Jahrhunderts.
In der Mitte der Shengal-Region erhebt sich ein karges Berggebiet. Dort hinauf flohen im August 2014 mehrere Zehntausend Ezid:innen. Die Bilder der Menschen, die tagelang bei bis zu 40 Grad auf dem belagerten Berg ausharrten, gingen um die Welt. Helikopter von westlichen Regierungen warfen Trinkwasser und Malzeiten ab, Staatschefs versprachen Hilfe. Diese kam aber nicht von Staatspräsident:innen oder Abgesandten von ihnen, sondern von den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava und Kämpfer:innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Von Syrien aus erkämpften sie einen sicheren Korridor bis in den Shengal, über den über 50000 Ezid:innen nach Rojava fliehen konnten. So wurde ein noch grösseres Massaker verhindert.

«Ferman 74»
Die Ezid:innen (deutsch meist Jesid:innen) sind eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft, deren Wurzeln dem eigenen Verständnis nach mehr als 4000 Jahren zurückreichen. Ihre traditionellen Siedlungsgebiete sind auf den Irak, Syrien, die Türkei und den Iran aufgeteilt. Die nordirakische Provinz Ninive mit ihren Distrikten Shengal und Shekan gilt als das kulturelle und religiöse Zentrum der Ezid:innen. Die Ezd:innen bezeichnen sich teilweise als ethnische Kurd:innen, teilweise als eigenständige Ethnie. Im kollektiven Bewusstsein der Ezid:innen ist der Völkermord, der 2014 begann und bis heute nachwirkt, als «Ferman 74» bekannt. Der Begriff «Ferman» stammt aus dem Osmanischen Reich und bedeutet Erlass oder Befehl. Die Zahl 74 steht für die Anzahl der Pogrome und Massenmorde, die seit dem 15.Jahrhundert an den Ezid:innen verübt wurden.
Die Mehrheit der Ezid:innen aus Shengal lebt nach dem Genozid immer noch in Lagern für intern Vertriebene im Nordirak oder in Flüchtlingslagern in Nordsyrien (Rojava) unter prekären Bedingungen oder als Geflüchtete in anderen Teilen der Welt. Den Menschen in den Flüchtlingslagern in Nordirak droht jedoch ein weiterer brutaler Schicksalsschlag. Recherchen des vorwärts und Berichte von verschiedenen unabhängigen NGOs zeigen, dass mit der Schliessung der Flüchtlingscamps begonnen wurde. Grund dafür ist, dass in der Region ein erneuter Angriff der türkischen Armee erwartet wird.

Die Widerstandskraft der Frauen
Seit der Befreiung vom IS-Terror 2017 durch die kurdischen Kämpfer:innen und ihre Alliierten sind mehr als 100’000 Ezid:innen nach Shengal zurückgekehrt. Die Ezid:innen fühlen sich aus guten Gründen von der irakischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Internationale Organisationen sind kaum noch vor Ort. Die Ezid:innen wollen nie wieder schutzlos sein und sehen selbstbestimmte Strukturen als einzige Lösung. Nach dem Vorbild von Rojava streben sie eine autonome, paritätisch besetzte Selbstverwaltung mit eigenen Verteidigungskräften an.
Bei diesem gesellschaftlichen Wandlungsprozess spielen die Frauen eine zentrale Rolle. Denn der Genozid an der ezidischen Bevölkerung ist auch ein gezielter Femizid. Während des «Ferman 74» wurden ezidische Frauen von IS-Kämpfern massakriert, systematisch vergewaltigt, verschleppt und – wie bereits erwähnt – auf Sklavenmärkten verkauft. Doch die Frauen leisten an vorderster Front Widerstand. Die IS-Angriffe von 2014 förderten die Emanzipation der Frauen in einer ultrakonservativen Gesellschaft. Die Begegnungen mit den kurdischen Kämpferinnen weckten ihre Widerstandskraft.

Freie Frauen, freie Gesellschaft
Unter dem Einfluss der Frauenbewegung aus Rojava begannen die ezidischen Frauen, sich zu organisieren und die neu entstehenden Gesellschaftsstrukturen im Shengal entscheidend mitzugestalten. Am 20.September 2016 wurde die Gründung der Freiheitsbewegung der Êzidischen Frauen (TAJÊ) in einem Kongress offiziell verkündet. Sie vereint Ezidinnen aus allen Altersgruppen und verschiedenen Orten in der Region. Basierend auf den Slogans «Freie Frauen, freie Gesellschaft» und «Jin, Jiyan, Azadî» arbeitet TAJÊ auf der Grundlage der Ideen und der Philosophie von Abdullah Öcalan und seinem Konzept des demokratischen Konföderalismus und der Freiheit der Frauen. « TAJÊ sieht die Befreiung der Frauen als Grundlage für die Befreiung der gesamten Gesellschaft und steht damit an vorderster Front des Widerstandes in Shengal», ist auf der Website der Organisation zu lesen.
TAJÊ organisiert sich in Form von Gemeinden und gründet selbstverwaltete Frauenräte in ganz Shengal. Sie gründet ihre eigenen Komitees, wie die Komitees für Bildung, Wirtschaft, Kultur und Kunst, Diplomatie und Gesundheit. «Darüber hinaus baut TAJÊ Beziehungen zu Frauenorganisationen anderer Ethnien und Religionen auf, darunter Kurden, Araber, Assyrer und chaldäische Katholiken», ist auf der Website der Freiheitsbewegung der ezidischen Frauen zu lesen.

Jede Frau hat das Recht, sich zu wehren
Höchste Priorität hat für TAJÊ «die Befreiung der Ezidinnen, die von Daesh versklavt wurden». In Zusammenarbeit mit anderen Organisationen konnten «bisher rund 1500 Ezidi-Frauen aus den Händen der Daesh-Dschihadisten befreit und mit ihren Familien wiedervereint werden», informiert die Frauenorganisation. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Bildungsarbeit: «Bildung ist entscheidend für ein freies Leben, freies Denken und freien Willen. TAJÊ betrachtet daher den Bereich der Bildung von Frauen als eine seiner wichtigsten und grundlegenden Aufgaben», schreibt TAJÊ. Es sei wichtig für Frauen zu wissen, dass «das Patriarchat und seine sexistische Mentalität die Wurzel aller Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Herrschaft ist». Auf der Grundlage dieses Wissens sollen Frauen ihre eigene Meinung entwickeln und lernen, «Entscheidungen gegen die männliche Vorherrschaft zu treffen, die alle Bereiche ihres Lebens betreffen». Jede Frau habe das Recht, sich gegen Gewalt zu wehren, sei es zu Hause oder in der Öffentlichkeit, und gegen «alle anderen Angriffe auf den freien Willen und das Leben der Frau». Für TAJÊ ist klar, dass «organisierte Frauen ihre Ziele durch Kampf erreichen» können. Und dieser Kampf «wird unter allen Bedingungen und Umständen geführt». Denn: «Es ist notwendig, mit der Geschichte der 74 Genozide zu brechen», hält TAJÊ fest.

Lichtblicke durch Solidarität
Der Wiederaufbau, sprich der Neuaufbau, ist jedoch schwierig: Die Region ist isoliert und die Sicherheitslage bleibt instabil. Das Gebiet ist schwer zugänglich und verschiedene politische und militärische Akteur:innen kämpfen um die Kontrolle. Immer wieder wird die Shengal-Region gezielt von türkischen und irakischen Streitkräften angegriffen, wodurch wichtige Infrastrukturen beschädigt und bedeutende Persönlichkeiten für den sozialen Wandel getötet werden. Besonders in der Bergregion, wo viele aus Angst weiterhin ausharren, gibt es kaum Grundversorgung. Es fehlen Gesundheitseinrichtungen und -personal und die Blockade der Region erschwert den Zugang zu Medikamenten und den Transport von Patient:innen.
Aber es gibt auch Hoffnung, Lichtblicke durch Solidarität. «Im November 2023 begleitete ich die mobile Klinik der Nahri-Organisation», sagt Maja Hess, Präsidentin von Medico International Schweiz. Die Nahri-Organisation mit Sitz in Erbil ist eine Partnerorganisation von Medico Schweiz und eine der wenigen NGOs, die noch im Shengal-Gebiet aktiv sind. «Die Fahrt von Mossul nach Shengal, eine Strecke von etwa 130 Kilometer, dauerte wegen der über 20 Checkpoints mehrere Stunden. Als wir in der kargen Berglandschaft ankamen, warteten die Menschen bereits. Die mobile Klinik ist für sie ein Zeichen, dass sie nicht ganz vergessen sind», sagt Maja Hess weiter dieser Zeitung.

Ein Gefühl der Sicherheit
Die Teams von Nahri betreuen Patient:innen mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und chronischen Schmerzen. Pro Einsatz-Tag behandeln sie 35 bis 45 Personen, davon 80 Prozent Frauen und Kinder. Aufgrund des extremen Klimas, der prekären Ernährungslage und mangelnden Wasserversorgung in der Region leiden viele Kinder und Schwangere an Infektionskrankheiten. Auch ältere Menschen und jene in abgelegenen Gebieten profitieren besonders von den mobilen Kliniken, die direkt in die Bergregion und Zeltlager fahren. Zudem vermittelt das lokale, ezidische Personal den Menschen ein Gefühl der Sicherheit.
«Unsere regelmässigen Besuche ermöglichen es uns, unsere Patient:innen angemessen zu behandeln und das Vertrauen der ezidischen Bevölkerung zu gewinnen», sagt der Direktor der Nahri-Organisation. Und er fügt hinzu: «Für die Menschen in der kargen Bergregion ist die mobile Klinik oft der einzige Zugang zu medizinischer Versorgung.»

Weitere Infos: medicointernational.ch

 

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Ein Kommentar

  • Rafael

    Sehr spannender Artikel, ich wünsche den Jesid*innen alles gute in ihrem Befreiungskampf. Was ich noch spannend und wichtig fände und nicht unbedingt weitreichend bekannt ist, inwiefern die USA/CIA massgeblich an der Gründung von Daesh sowie anderen Terrororganisationen beteiligt war und immer noch ist.

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