Working Poor an der Eulach
flo. Die Zahl jener in Winterthur, die trotz Arbeit jeden Rappen dreimal umdrehen müssen, ist signifikant. Doch, ob ein Mindestlohn eingeführt werden wird, ist nach wie vor in der Schwebe. Der Ball liegt nun beim Parlament.
Als fast zwei Drittel der Winterthurer:in-nen an der Abstimmung zu einem kommunalen Mindestlohn ihr «Ja» in die Urne warfen, war die Überraschung gross. Der Ausgang der Abstimmung und vor allem die Klarheit des Ergebnisses dürften uns gefreut und die Ausbeuter:innen schockiert haben.
Progressives Stimmvolk – rückschrittliches Parlament
Doch eine Krähe hackt einer anderen kein Auge aus, im bürgerlichen Klassenstaat Schweiz herrscht immer noch das Kapital (siehe Artikel oben). Da macht ein bürgerliches Gericht gerne für ihre bourgeoisen Kumpels einen Volksentscheid ungültig. Für 3600 Personen, die in Winterthur von einem kommunalen Mindestlohn profitieren würden, war der Entscheid des Verwaltungsgerichts ein Schlag ins Gesicht. Sie machen fünf Prozent der Arbeiter:innen zwischen Eulach und Töss aus und ihr Lohn wurde in den letzten Jahren von der Inflation ebenso aufgefressen wie der aller anderen.
Doch die Teuerung trifft sie noch härter, da sie keinerlei eiserne Reserven besitzen, jetzt schon auf dem Zahnfleisch laufen müssen. Dabei könnte wegen des geplanten Vorgehens des Winterthurer Stadtrats als worst case ein völlig abstruses und unwürdiges Szenario folgen. Auf Anfrage von Radio Stadtfilter bestätigte die Kommunikationsabteilung der Stadt Winterthur, dass ein Weiterzug des Urteils des Zürcher Verwaltungsgerichts an das Bundesgericht nur durch die Stadt selbst möglich ist.
Beschwerde eingereicht
Man erwartete in Kreisen der Arbeiter:in-nenbewegung der Eulachstadt, dass die eigene Stadt vermutlich zuwarten und sich nach dem Vorgehen Zürichs richten würde. Zwar haben inzwischen beide Städte vorsorglich Beschwerden gegen den Gerichtsentscheid eingelegt, doch könnten diese Beschwerden wieder zurückgezogen werden. Letztlich kam es wie erwartet: Der Winterthurer Stadtrat Nicolas Galladé (SP) kündigte praktisch dasselbe Vorgehen wie Zürich an. Erst die Deponierung der Beschwerde beim Bundesgericht, dann die Weitergabe des Dossiers an die kommunalen Legislativen. Wegen der unterschiedlichen Zusammensetzung des Zürcher Gemeinderats und des Winterthurer Parlaments ist ein bürgerlicher Schildbürgerstreich zumindest an der Eulach denkbar.
In Zürich können die Grünen, die SP und die AL auf eine leichte Parlamentsmehrheit zählen (63 von 125 Sitzen), in Winterthur scheint die Linke ohne Abweichler:innen mittiger und rechter Parteien chancenlos – sie kommt auf 25 von 60 Sitzen. Da GLP und EVP den Winterthurer Mindestlohn schon im Abstimmungskampf bekämpft haben, scheint eine Niederlage im Parlament unausweichlich.
Schildbürgerstreich in spe
Der wohl absurdeste mögliche Ausgang, der sich unter diesen Bedingungen anbahnt, ist, dass Winterthur wegen eines Stadtparlamentsentscheids die Beschwerde zurückzieht, die aus Zürich aber aufrechterhalten und gutgeheissen wird. Trotz desselben Ergebnisses bei der Abstimmung im Juni 2023 würde Zürich dann einen Mindestlohn einführen, Winterthur jedoch nicht. In diesem Fall hätten die bürgerlichen Vertreter:innen im Winterthur Stadtparlament die Umsetzung eines klaren und überdeutlichen Volksentscheids verhindert, um die Profite ihrer Ausbeuterkumpanen zu schützen. Und sie hätten den Lohnabhängigen klar vor Augen geführt, wann die direkte Demokratie gar nicht mehr so direkt ist. Den Arbeiter:innen in Winterthur bliebe in diesem Fall nicht mehr viel zu tun. Zumindest wären die Möglichkeiten zu reagieren klar: Für die Abwahl all jener Parlamentarier:innen zu kämpfen, die ihnen einen besseren Lohn und ein besseres Leben verweigert haben und für einen kantonalen Mindestlohn aktiv zu werden. Einen existenzsichernden Lohn auf kantonaler Ebene wurde durch das Bundesgericht in der Vergangenheit für rechtens erklärt.