Wohnungsnot und Wohnungskampf
Gaudenz Pfister. Wenn Kommunist:innen festhalten, dass Wohnungsnot unvermeidlich zum Kapitalismus gehört und erst mit dessen Abschaffung überwunden werden kann, ist das keine schöne Wahrheit. Aber es zu verschweigen, hilft auch nicht wirklich. Ein Diskussionsbeitrag zur Frage der Wohnungsnot.
Auf den ersten Blick ist alles klar. Häuser werden luxussaniert oder ganz abgerissen und neu gebaut, um dann höhere Mieten herauszupressen. Und weil es zu wenige bezahlbare Wohnungen gibt, können wir nicht anders, als diese hohen Mieten auch zu bezahlen. Aber wohin geht dieser Profit?
Ohne Mehrwertproduktion keine Grundrente
Das wird nur verständlich, wenn man die elementaren Einsichten der marxistischen Ökonomie versteht. Nur die menschliche Arbeit schafft Wert, der Boden an sich hat keinen Wert. Und nur weil es für die Produktion, also das Hinzufügen von Mehrwert, den Boden nun einmal braucht, können Bodenbesitzer:innen als eine Art Tribut einen Anteil des geschaffenen Mehrwerts für sich beanspruchen, die sogenannte Grundrente. Das geht den Kapitalist:innen vom Profit weg und tut ihnen deshalb weh. Aber nicht jede:r Kapitalist:in holt gleich viel Profit heraus. Wie soll die/der Bodenbesitzer:in da abschätzen können, was sie/er holen kann? Übers Ganze pendelt sich eine Art durchschnittliche Grundrente ein und diese kommt dann als «Marktmiete» daher.
Immobilien sind aber nicht nur Gewerbeliegenschaften, sondern auch Wohnhäuser. Mieten werden aus den Löhnen bezahlt, also aus dem Teil des Mehrwerts, der bei den Arbeitenden bleibt. Ohne Mehrwertproduktion also keine Grundrente, das gilt für Gewerbe- und Wohnliegenschaften. Immobilienbesitzer:innen kaufen deshalb nicht ein Stück Erde, sondern das Recht auf einen Anteil am produzierten Mehrwert. Das macht sie nicht nur zu Feinden der Arbeiter:innen, sondern auch der produzierenden Kapitalist:innen. Nur können diese die Produktion aufgeben und sich in Grundrentiers verwandeln, wenn ihr Profit zu klein wird: In Zürich West sind das Steinfels-Areal (Waschmittel), das Hardturm-Areal (Spinnerei), das Maag-Areal (Zahnräder) Beispiele dafür.
Welcher Mehrwert ist es denn, der die Bodenpreise in der Stadt Zürich in die Höhe treibt? Daniel Leupi, Zürichs Finanzvorsteher, erklärte den guten Abschluss 2022 mit den wertschöpfungsintensiven Banken und Versicherungen, Firmen und ihren Angestellten, die viel Steuern bezahlen. Übersetzt in die marxistische Betrachtungsweise: Auf dem Gebiet der Stadt Zürich stehen die Staubsauger, die Mehrwert, der an vielen anderen Orten produziert wird, absaugen und hier konzentrieren. Davon profitiert nicht nur die Stadt, die mehr Geld für ihre Einwohnenden und ihre Klientel hat, sondern auch die Grundrentiers.
Kleinbürger:innen am Hebel
Wohnungsnot entsteht, wenn mehr Leute in der Stadt wohnen müssen als es für sie bezahlbare Wohnungen gibt. Das geht schon auf die Industrialisierung zurück. Escher Wyss, ABB, Maag, Steinfels, Schöller, MAN, Zürcher Ziegeleien, SRO, Akkumulatorenfabrik Oerlikon, SBB, MFO – was sich heute wie ein dadaistisches Lautgedicht anhört, waren bis in die 80er-Jahre des 20.Jahrhunderts geschäftige, lärmige Industrieareale. Massnahmen zur Linderung der Wohnungsnot gab es nur, wenn es politische Bewegungen gab. Als Reaktion auf den Landesstreik 1918 wurde vom Bundesstaat der Wohnungsbau gefördert. Im Roten Zürich der 20er und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts kam die SP, die sich kämpferisch für unmittelbare Verbesserungen für die Arbeiter:innen einsetzte, in die Stadtregierung, und sie hatte als Stachel in ihrem Fleisch die Kommunistische Partei der Schweiz (KPS), die für eine proletarische Revolution nach dem Muster der Oktoberrevolution in Russland kämpfte. Damals entstanden die meisten der heute aktiven Baugenossenschaften. Die Stadt schenkte den Baugenossenschaften praktisch den Boden und unterstützte den Bau mit Krediten, bis über die Mieten genug Kapital bei den Baugenossenschaften war, dass diese alleine weiterwachsen konnten (siehe dazusozialarchiv.ch/2023/03/08/vor-100-jahren-aufschwung-der-baugenossenschaften).
Ist heute nicht wieder dieselbe Situation? Die SP dominiert in der Stadtregierung und die Baugenossenschaften blühen. Doch auch wenn die SP immer noch gleich heisst, hat sie sich fundamental geändert. Wie alle Parteien besteht ihre Aufgabe heute darin, einen Ausgleich – eine Art Bündnis – zwischen verschiedenen Klassen zu organisieren. Mit dem Eintritt der linken Akademiker:innen in den 1970er- und 1980er-Jahren ist die SP die Partei geworden, die ein Bündnis zwischen dem europäisch orientierten Grosskapital und den fortschrittlichen Kleinbürger:innen herstellt. Und so können diese Kleinbürger:innen auch nicht verstehen, wie ihre Stadtregierung bezahlbare Wohnungen an attraktiven Lagen ermöglicht und sie dann keine Chance haben, eine dieser Wohnungen zu bekommen. Das steht hinter dem Vorstoss, mit dem die «Linken» (SP, Grüne, Alternative Liste) im Januar versuchten, die schon hohen Einkommenslimiten (180000 Franken pro Jahr) für günstige Wohnungen ganz abzuschaffen.
Auch die Baugenossenschaften haben sich verändert. Die Professionalisierung der Verwaltung, das jahrzehntelange Verwalten eines Honigtopfes, der praktisch niemandem gehört, die kapitalistische DNA in jeder grösseren Firma, all das führt dazu, dass auch die Baugenossenschaften grundsätzlich dem kleinbürgerlichen Lager zugerechnet werden können und sich auch so verhalten. Ersatzneubauten werden für ihre Klientel mit höherem Komfort ausgeführt und wo es politische Besetzungen gibt, steht immer eine Baugenossenschaft bereit, um das Gelände nach der Räumung zu übernehmen, wenn es politisch brenzlig wird.
Unsere Stadt – wie wird das möglich?
Die nächste grossflächige Aufwertung steht mit der Überdachung des Autobahnastes in Schwamendingen an. Wer die letzten Jahrzehnte in Zürich gelebt und miterlebt hat, wie die Weststrasse aus der Verkehrsschlagader der Schweiz (Städtisches Teilstück der Autobahn Chur – Bern), wo Autos und LKWs zweispurig durch die Stadt donnerten, zu einer verkehrsberuhigten Quartierstrasse wurde, kennt auch den Preis: hohe Mieten. Nur die Bordelle sind an der Weststrasse aus der alten Zeit noch geblieben, weil sie den höheren Flächenpreis bezahlen können.
Die Ankunft von Immobilienfirmen und Baugenossenschaften, die die bestehenden günstigen Wohnungen in hochpreisigere umbauen, wirkt dann als Verdrängung, weil dies nicht nur höhere Mieten bedeutet, sondern oft Kündigungen und damit das Zerreissen der sozialen Netze. Da setzen die Organistor:innen der Wohndemo vom 25. Mai an. Sie fordern bezahlbaren Wohnraum für alle, unabhängig von Aufenthaltsstatus, Alter, Portemonnaie, Hautfarbe, Namen oder Haushaltsform. Wohnraum für alle? Alle was? Alle bisher schon hier Wohnenden? Alle, die nach Zürich ziehen möchten? Alle in der Schweiz Lebenden? Das ist zugegeben überspitzt, aber die Forderung ist auch so schwammig wie wohltönend.
Selbst Immobilienspekulant:innen verstehen nicht, warum es bisher keine Aufstände gegen hohe Mieten und Verdrängung gegeben hat. Aber sie verstehen auch nichts von Politik von unten. Rückblickend kann man schliessen, dass zwar die Not die Menschen immer wieder auf die Strasse treibt, aber nur politisch geführte Kämpfe, die mit Aufstand drohen, etwas bewirken. Die Organisator:innen der Wohndemo vom 25.Mai haben den gegenteiligen Weg gewählt. Allgemeine Aussagen appellieren an eine möglichst breite Betroffenheit und weder auf dem Plakat noch auf der Webseite ist irgendeine politische Strömung fassbar. Eingeweihte können aufgrund der grafischen Aufmachung mit Häusern, die Fäuste schütteln, und der Mobilisierung mit Zäme-Ässe-Anlässen vermuten, dass der Appell aus der Häuserbesetzer:innen-Szene kommt.
Als Kommunist:innen fordern wir nicht die Abschaffung der Grundrente, sondern arbeiten an der Abschaffung des Kapitalismus. Die kurzfristige Forderung nach einem Mietdeckel ist zugegeben keine langfristige Lösung, weil die Immobilienkapitalisten entweder eine Möglichkeit finden, die Preisbindung zu umgehen, oder dann in einen Neu- und Umbau-Streik treten, aber es hilft fürs Erste sicher denen, die es wirklich brauchen.
Nachbemerkung: Dieser Artikel verdankt die Klarheit des Grundargumentes und den Ansatz, Parolen ernst zu nehmen, der Schrift «Zur Wohnungsfrage» von Friedrich Engels.
1972 hat Jean Villain im Vorwärts zu diesem Thema eine ganze Serie von Artikeln publiziert und es wurde ein Büchlein davon gedruckt. „Das Geschäft mit den 4 Wänden – Lenos Presse“ . 50 Jahre und absolut nichts hat sich geändert.