«Wir sollten unsere Geschichte selbst schreiben»

«SUSPEKT», ein Film von Christian Labhart, Produktion Dschoint Ventschr. Weltpremiere 24.Januar 2025 Solothurner Filmtage, Kinostart 20.Februar.

sit. Der Film «Suspekt» beleuchtet die politischen Prozesse der letzten 50 Jahre, die eine Weiterführung des politischen Kampfes auf einer anderen Ebene sind. Im Mittelpunkt des Films steht der Anwalt Bernard Rambert aus Zürich, er ist aber nicht der Mittelpunkt des Films, wie er selbst sagt. Rambert wird in der bürgerlichen Presse oft als «Terroristen-Anwalt» bezeichnet. Der vorwärts sprach mit ihm.

Der Titel des Films lautet «Suspekt». Wer oder was ist suspekt?
Suspekt heisst ja verdächtig, und das bezieht sich auf mich als links-politisch engagierte Person und dann noch als sogenannter «Terroristen-Anwalt». Beides hat mir wie vielen anderen auch einen Berg von Fichen, ein paar Wochen Knast (Untersuchungshaft) und eine intensive Überwachung während etwa 14 Jahren eingebracht. Im Film reden wir darüber und natürlich auch über die politischen Prozesse, in denen ich engagiert war.

Was hat dich bewogen, den Film zu drehen?
Ich glaube, dass ein wenig Erinnerungskultur uns allen guttut. Da mitzumachen, hat mich gereizt.

Was verstehst du unter dem Begriff «politischer Prozess»?
Vereinfacht gesagt: Kämpfe für eine andere Gesellschaftsformation können sehr schnell zu Konflikten mit dem Gesetz und so zu einem Strafprozess führen. Die Frage ist dann, wie man sich vor Gericht verhält. Du kannst dich auf das Spiel der Justiz einlassen, Reue zeigen oder den Spiess umkehren und erklären, warum deine Handlungen richtig waren.

Hast du Beispiele?
Beispielweise die Prozesse gegen die Rote-Armee-Fraktion (RAF). Sie wurden gegen diejenigen geführt, die sich damals in den 1970er- und 1980er-Jahren gegen die herrschenden Verhältnisse aufgelehnt und für eine andere Gesellschaft gekämpft haben. Das sind jetzt nur die prominentesten.

Dann war es ein politischer Kampf, den du mit den Prozessen geführt hast?
Die Genoss:innen, gegen die diese Prozesse geführt wurden, hatten einen politischen Kampf geführt und führten ihn weiter im Strafverfahren. Sie bestimmen die Prozessstrategie, nicht ich als Anwalt. Natürlich beteilige ich mich an den Diskussionen, meine Rolle war und ist aber doch eher jener einer Hilfsperson. Aber klar, ich bin in der politischen Auseinandersetzung involviert und engagiert.

Noch einmal: Was zeichnet einen politischen Prozess aus?
Dass die Handlung, die man dir vorwirft auf die politische Überzeugung, auf den politischen Kampf zurückgeführt wird. Das ist der Kerngehalt des politischen Prozesses. Die Roten Brigaden, so das klassische Beispiel, haben bei der Verhaftung immer gesagt: Ja, ich bin Mitglied der Roten Brigaden und ich stehe zu all dem, was die Organisation gemacht hat und auch zu dem, was man mir vorwirft. Eure Justiz, eure Rechtsordnung interessieren mich nicht, ich bekämpfe sie. Die RAF hat eine Art Mischform gewählt. Sie haben natürlich auch politisch argumentiert, zum Teil aber auch technisch und gesagt: Ihr könnt gar nicht beweisen, was ihr mir vorwerft. Das gilt natürlich auch für alle anderen politischen Strafprozesse. Wirft man dir Landfriedensbruch vor, weil du an einer Demo warst, anlässlich welcher es zu Sachbeschädigungen kam, kannst du sagen, das mache ich nie mehr, sorry. Oder du kannst darlegen, warum es richtig war, an dieser Demo teilzunehmen und warum du wieder an Demos gehst.

Ist der politische Prozess die Botschaft des Films?
Keineswegs nur. Wir vermitteln einen Teil der Prozesse, die in den letzten 50 Jahren geführt wurden, im Sinne von Erinnerungskultur. Dabei war zentral, daran zu erinnern, welche Kämpfe es gegeben hat, die zu diesen politischen Prozessen geführt haben. Und das war, wie gesagt, auch der Grund, warum ich am Filmprojekt mitgemacht habe.

Das war eine neue Erfahrung für dich, richtig?
Ja, und ich habe mir sehr lange überlegt, ob ich das überhaupt machen will, also zwei oder gar drei Jahre lang. Der Regisseur Christian Labhart ist immer wieder an mich herangetreten …

Entschuldige, dass ich dich unterbreche. Aber warum hast du dir das so lange überlegt?
Im Mittelpunkt eines Films zu sein, hat mir nicht behagt. Natürlich ist man da ambivalent, aber meine erste Reaktion war: Nein, nein, keinen Film über mich. Dann wurde mir langsam klar, dass es nicht ein Film über mich ist, sondern über unsere Geschichte. Im Film stehe ich zwar im Mittelpunkt, aber ich bin nicht der Mittelpunkt.

Ein schönes Wortspiel. Wie war diese Erfahrung für dich?
Sie war anstrengend, aber auch sehr interessant. Weil, und das ist ein anderer Punkt, warum ich lange gezögert habe, der Regisseur und die Produktionsfirma Dschoint Ventschr die Entscheidungsträger sind. Das heisst, es war ein ständiger Kampf, eine ständige Auseinandersetzung, die – wie gerade erwähnt – interessant, aber auch anstrengend war. Insgesamt wurde ich während etwa 16 Stunden interviewt. Davon kamen gerade mal 45 Minuten in den Film. Da hatte ich ein Mitbestimmungsrecht und ein Veto-Recht, in diesem Sinne habe ich auch mitentschieden. Das Resultat ist ein Kompromiss, aber kein allzu schlechter, wie ich hoffe.

Mach bitte ein Beispiel eines solchen Kompromisses.
Für mich waren Auseinandersetzungen, beziehungsweise Diskussionen im Film über die bürgerliche Demokratie, über den bürgerlichen Rechtsstaat extrem wichtig. Wichtig für mich war aber auch meine politische Identität, neben der Frage der Erinnerungskultur, in diesem Film. Und diese auch mehr theoretischen Auseinandersetzungen über den Staat, in dem wir leben, über die Gesellschaft, in der wir leben, waren für den Filmmacher weniger interessant für den Film – schon auch, sie standen aber nicht so im Mittelpunkt. Und das hängt auch mit dem Wesen eines Films zusammen. Ein Film muss ja verkauft werden. Das sind die ökonomischen Aspekte und Zwänge. Und ein Film kostet sehr viel Geld. Da müssen Geldgeber:innen gefunden werden. Die Filmstiftung und das Schweizer Fernsehen haben den Film mitfinanziert. Das Fernsehen hat ein gewisses Mitspracherecht, zumindest am Schluss. Das führte in diesem Film dazu, dass das Fernsehen bei gewissen Abschnitten ein Veto einlegte und mit finanziellen Konsequenzen drohte, falls dieser oder jener Abschnitt nicht gestrichen werde. Ein Beispiel: Marc Rudin, den wir alle kennen, kam im Film auch vor, und zwar unter anderem mit einem Interview zu seinem politischen Engagement in Palästina in den 1970er- und 1980er-Jahren. Das wurde vom Fernsehen nicht goutiert, was natürlich auch im Zusammenhang steht mit dem, was seit dem 7.Oktober 2023 vorgeht.

Würdest du den Film nochmals machen?
Ja

Ein überzeugtes Ja. Trotz der Kompromisse?
Ja, trotz Kompromisse. Eigentlich ist es so, dass wir unsere Geschichte selbst schreiben sollten. Aber das ist nicht immer einfach. Und einen Teil der eigenen Geschichte mit einem Regisseur zu schreiben, der eine andere Geschichte hat, die ich überhaupt nicht herabsetzen will, es ist einfach eine andere Geschichte, bedingt eben Kompromisse. Und jetzt ist die Frage: Bis wohin geht dieser Kompromiss? Ich glaube, dass das, was ich mir an Kompromissen erlaubt habe, noch erträglich, beziehungsweise vertretbar ist. Ich hoffe, dass der Film vor allem auch jüngeren Genoss:innen vermitteln kann, was in den letzten 50 Jahren im Kontext politischer Prozesse gelaufen ist.

Verlassen wir mal den Film. Wie kamst du zur Politik?
Ich bin in einer gutbürgerlichen Familie aufgewachsen, den 1.Mai haben wir sicher nicht auf der Strasse verbracht. Ich habe mich mit der 68er-Bewegung politisiert, aber etwas verzögert, 1969, 1970. An der Uni habe ich mich dann organisiert, bei den Kritischen Jus-Studenten, wie sie damals hiessen.

Du wirst in der bürgerlichen Presse als «Terroristen-Anwalt» bezeichnet. Trifft dich das? Wie gehst du damit um?
Der Begriff Terrorist:in sagt vor allem einiges über diejenigen aus, die ihn gebrauchen.

Und das wäre?
Es ist eigentlich die Entpolitisierung des politischen Gegners. Das aktuelle Beispiel der Berichterstattung in der bürgerlichen Presse zu Syrien ist doch sehr interessant. Es ist eine komplexe Zusammensetzung von islamistischen Organisationen, die Assad zum Teufel gejagt haben. Sie werden im Tages-Anzeiger und in der NZZ Rebellen oder Freiheitskämpfer genannt. Doch bis vor Kurzem waren einige dieser Organisationen auf der Liste der terroristischen Organisation, jetzt sind sie plötzlich die Rebellen. Natürlich, man ist noch ein wenig vorsichtig und schreibt, man müsse abwarten und schauen, was dabei herauskommt. Aber sie sind jetzt Rebellen, bis gestern waren sie noch Terroristen. Das sagt eigentlich alles über die Verwendung des Begriffs Terrorist:in. Er hat immer einen politischen Inhalt. Will man die Gegner:innen als unpolitische Kriminelle darstellen, dann sind es immer Terrorist:innen. Der Terroristen-Anwalt ist natürlich derjenige, der Personen verteidigt, die als Terroristen diffamiert werden sollen. Und wenn ich damit auch als Kriminellen beschimpft werde, dann lässt mich das, ehrlich gesagt, kalt.

Warum sind die Menschen davon überzeugt, dass das Gesetz für alle gleich ist?
Sind sie das wirklich?

Ich behaupte ja, ein grosser Teil. Es war etwas vom Ersten, was mein Vater mir beibrachte: la legge é uguale per tutti.
Aber wir sind uns einig: Die Roten Brigaden in den 1970er- und 1980er-Jahren hatten anfänglich eine breite Unterstützung in der Bevölkerung.

Ja, sind wir uns. Also sagst du, dass meine Behauptung falsch ist?
Nein, das sage ich nicht. Wir leben in einer bürgerlichen Demokratie, die mit dem Rechtsstaat Propaganda für sich macht. Was heisst eigentlich Rechtsstaat? Dass die Regierung und das Parlament an die Verfassung gebunden sind und keine Gesetze und Erlasse verabschieden können, die den Grundrechten widersprechen. Das gibt eine gewisse Rechtssicherheit. Die Gesetze müssen eingehalten werden. Und sie werden – plus minus – auch eingehalten. Die Willkür ist also nicht so, wie beispielsweise für die Menschen unter Assad. Ich glaube, das gibt uns allen eine gewisse Sicherheit. Ich kann mir vorstellen, dass aus dieser vermeintlichen Sicherheit das Gefühl kommt: Wir sind eigentlich gut aufgehoben in dieser Gesellschaft. Die soziale Frage ist aber völlig ausgeklammert. Und da kann ich nicht genau nachvollziehen, warum zum Beispiel dein Vater, der wahrscheinlich ausgebeutet wurde …

Ja, sein ganzes Arbeitsleben lang. Er war 45 Jahre lang Fabrikarbeiter.
Eben, und warum er es nicht hinterfragt hat, kann ich nicht genau nachvollziehen. Vielleicht, weil er in einer Zeit lebte, in der er etwas vom Reichtum profitieren konnte.

Aber, ist es nicht eine wichtige Aufgabe der radikalen Linke, diese Menschen zu diesem Prozess anzustossen? Und wenn sie es nicht geschafft hat, ist es womöglich gar ein Grund dafür, dass wir dort stehen, wo wir heute eben stehen. Oder so gefragt: Ist dies die Erkenntnis, die wir nach 50 Jahren haben?
Das ist eine schwierige Frage. Dass wir, die radikale Linke, wie du sagst, es zu sehr wenig gebracht haben, das ist in der Tat so. Es gibt ein Buch von Alfred Andersch, «Die Rote». Eine Hauptfigur im Roman ist ein Genosse, der im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat und danach im antifaschistischen Widerstand in Italien, und er sagt: ‹Alle unsere Kämpfe waren vergebens, aber nicht sinnlos.› Vielleicht war nicht alles vergebens. Aber ebenso zentral war und ist für mich, dass ein Engagement nie sinnlos sein kann.

Warum haben wir es zu sehr wenig gebracht?
Man darf nicht vergessen, dass die Propaganda innerhalb der bürgerlichen Demokratie, die Propaganda der Bourgeoisie, gewaltig stark ist. Wenn man den Menschen weismachen kann, dass beispielsweise die meisten Kriege, die der sogenannte Westen geführt hat und noch führt, Kriege für die Menschenrechte und für die Menschenwürde waren, wenn sowas möglich ist, dann kann man nur den Hut ziehen vor der Stärke dieser Propaganda. Es gibt ja keinen Krieg, der für die Menschen und für die Befreiung der Menschen geführt wurde seitens der bürgerlichen Demokratien, welche die Unwerte des Westens in Werte ummünzen. Die Reichen liefern die Waffen und die Armen liefern die Leichen. Trotzdem schafft man es, den Armen weiszumachen, dass die Kriege notwendig sind und sie in den Krieg mitziehen müssen. Das ist so pervers! Unser Kampf muss dahingehen, dass wir genau solche Überzeugungen und Propaganda durchbrechen. Weil wir es bis jetzt nicht geschafft haben, stehen wir jetzt da, wo wir stehen. Aber es ist noch nicht Abend …

Waren die politischen Prozesse auch der Versuch, diese Überzeugungen und Propaganda eben zu durchbrechen?
Der politische Prozess ist quasi die Fortsetzung eines politischen Kampfs auf einer anderen Ebene. Dabei geht es auch um Propaganda. Ich mache ein Beispiel: Algerien war eine Kolonie von Frankreich. In den 1950er- und Anfang der 1960er-Jahren hat der FLN, die Nationale Befreiungsfront Algeriens, einen blutigen Kampf gegen die Kolonialmacht geführt, in Algerien und in Frankreich. Da gab es naturgemäss unzählige Verhaftungen und politische Prozesse, die geführt wurden. Die Parole war, den Kampf weiterzuführen und zu sagen: Ihr habt gar nicht die Legitimation, uns den Prozess zu machen. Ihr seid die Kolonialist:innen und Verbrecher:innen, nicht wir. Ihr seid die Gewalttäter:innen. Wir widersetzen uns nur eurer kolonialen Ausbeutung und Gewalt. Das Gericht wurde zur politischen Propaganda-Bühne, begleitet von einer breiten Unterstützungskampagne ausserhalb des Gerichtes. Der eigentliche politische Kampf war aber, nochmals, der Freiheitskampf – und nicht der Prozess.

Dann war der Prozess von Nekane Txapartegi, sprich das Erkämpfen ihrer Freiheit, ein sehr guter politischer Prozess, richtig?
Wie ich es von aussen beurteilen kann, war es eine gute Verteidigung, ein sehr gutes Beispiel für ein politisch geführtes Verfahren: Eine breite und starke Bewegung, welche die Genossin unterstützte und den Repressionsapparat in die Schranken wies, wenn ich das mal so sagen darf. Diese politische Bewegung war ausschlaggebend.

Ich definiere es als einer der grössten Siege der radikalen Linke der letzten Jahre. Bist du einverstanden?
Ja, das glaube ich auch. Das Bundesstrafgericht in Bellinzona hatte die Auslieferung beschlossen. Der Einwand der Verteidigung, Nekane sei gefoltert worden, wurde gar nicht gehört. Denn Spanien gehört zur EU und in Spanien wird demzufolge nicht gefoltert, so der politische Standpunkt der Justiz. Punkt. Das heisst, dass auf juristischer Ebenen der Kampf verloren ging. Aber: Der politische Druck war so gross, dass die Politik in Bern einschwenken musste. Ich bin überzeugt, dass der Druck, der von der Strasse kam, dazu führte, dass die Regierung versucht hat, mit Spanien eine Einigung zu finden. Die politischen Prozesse finden auch ausserhalb des Gerichtssaals statt. Der Prozess von Nekane ist daher ein Paradebeispiel eines politischen Verfahrens. Aber kommen wir kurz auf die algerischen Prozesse zurück. All die Unabhängigkeitskämpfer:innen, die sich vor den französischen Gerichten politisch verteidigt haben, wurden zum Tod verurteilt, zumindest die meisten von ihnen. Zumindest ein Teil der Todesurteile musste dann aber auch vollstreckt werden. Und dafür war Präsident General Charles de Gaulle zuständig. Welche Urteile hat er vollstreckt? Oder fragen wir anders: Welche hat er nicht vollstreckt? Jene Urteile, die in der Öffentlichkeit am meisten Aufmerksamkeit und Widerstand erlebten, wurden nicht vollstreckt. Denn De Gaulle rechnete damit, dass die Vollstreckung der Todesstrafe wieder zu heftigen Protesten führen würde. Er setzte die Todesurteile um, bei denen nicht mit Protesten zu rechnen war, und das waren diejenigen Verurteilten, die sich nicht politisch verteidigt hatten und über die in der Öffentlichkeit niemand sprach.

Du hast mal in einem Interview gesagt: «Mein Hauptinteresse ist aufzuzeigen, dass der angebliche Rechtsstaat gar kein Rechtsstaat ist» Ist das immer noch so?
Das habe ich vor 100 Jahren mal so gesagt!

Nicht ganz, 1978 im Magazin Fokus.
Ich weiss nicht mehr, was der Zusammenhang war. Aber nein, das ist natürlich nicht mein Hauptanliegen. Was mit diesem Satz gemeint war, ist, dass die Justiz und auch der Staat sich keineswegs immer an ihre Gesetze halten. Im Fall Nekane, da hat sich die Justiz, das Bundesstrafgericht in Bellinzona, das über das Auslieferungsbegehren der spanischen Regierung urteilen musste, nicht an das Gesetz gehalten. Denn dieses besagt, dass Geständnisse, die unter Folter zustande gekommen sind, nicht berücksichtigt werden können. Doch genau dies war bei Nekane der Fall. Also hat die Justiz gesagt, dass es gar keine Folter gab, obwohl dies klar erwiesen war. Das ist ein klassisches Beispiel, wie sich die Justiz nicht an die eigenen Gesetze, an die Rechtsstaatlichkeit hält. Das ist die Rechtsunsicherheit, die zum Rechtsstaat gehört wie das Amen in der Kirche.

Die bürgerliche Klassenjustiz schafft es auch, Volksentscheide zu kippen. Aktuelles Beispiel ist das Züricher Verwaltungsgericht, das die Einführung von Mindestlöhnen in den Städten Zürich und Winterthur als rechtswidrig beurteilt hat.
Ja, das ist sicherlich ein politischer Entscheid. Aber warten wir ab, was das Bundesgericht sagen wird. Die meisten Gesetze sind auslegebedürftig und das gibt den Richter:innen den entsprechenden (politischen) Spielraum. Im Übrigen: Gesetze sind nicht in Stein gemeisselt. Gesetze sind immer das Resultat von Klassenkämpfen, von Interessenkämpfen. Das sieht man im Parlament, da werden die Gesetze verabschiedet. Da spielen die verschiedenen Klasseninteressen eine Rolle. Sie sind ausschlaggebend für das, was dann in den Gesetzen steht. Und wenn es einmal im Gesetz steht, hat man den Eindruck: Aha, das ist jetzt ein demokratisches Gesetz und ist neutral. Aber wie die Gesetze zustande kommen, das wird immer ausgeblendet. Die Gesetze sind per se politisch und bedeuten Gewalt, nämlich die Gewalt der Mehrheit gegenüber der Minderheit. Und wenn man sich die ökonomischen Verhältnisse in einer bürgerlichen Demokratie anschaut, dann ist es doch klar, wer bestimmt: Die Bourgeoisie setzt sich praktisch immer durch.

Jetzt schliesst sich womöglich der Kreis zur Überzeugung meines Vaters und vieler Menschen, die Gesetze seien für alle gleich: Weil die Gesetze im Parlament entstehen, hat man das Gefühl, dass es demokratisch ist, dass sie für alle gleich sind. Und das gibt ihnen eine gewisse Rechtssicherheit.
Ja, natürlich. Aber sie vergessen, wer diese Gesetze macht. Sie vergessen den politischen Prozess, der zu den Gesetzen führt, und die Machtverhältnisse innerhalb eines Parlaments. Ein weiteres, gutes Beispiel dazu ist das Gesetz vom Nachrichtendienst, das Gefährdungsgesetz. Und das besagt, wenn jemand eine politische Ideologie vertritt, welche die Rechtsordnung gefährden könnte, kann diese Person überwacht und gegen sie Hausarrest verhängt werden und so weiter. Es ist ein Gesetz, das im Parlament zustande kam, um die bürgerliche Demokratie zu festigen. Dieses Gesetz schränkt die Rechte all jener ein, die die bürgerliche Demokratie nicht für das Gelbe vom Ei halten. Vordergründig geht es gegen Islamist:innen, aber natürlich auch gegen Kommunist:innen. Beispiel dafür ist die Überwachung der kommunistischen Tageszeitung «Junge Welt» in Deutschland, welche ein ähnliches Gesetz kennt. Die Zeitung steht unter Bewachung des Staatsschutzes, weil sie eine andere Ideologie als die herrschende vertritt.

Wie ändern wir das alles? Was muss die radikale Linke tun?
Wenn ich das wüsste … Das Fundament der Gesellschaftsformation, in der wir leben, ist die Eigentumsgarantie, das Privateigentum. In Österreich beispielsweise steht in der Verfassung, dass es «unantastbar» ist. In der schweizerischen Bundesverfassung ist das Privateigentum in Artikel 27 garantiert. Wie gesagt, es ist das Fundament der bürgerlichen, demokratischen Gesellschaft, die den Citoyen und den Bourgeois kennt. Diese Begrifflichkeiten stammen von Jean-Jacques Rousseau im Zusammenhang mit der Französischen Revolution. Und der Bourgeois ist der Wirtschaftsbürger, der bestimmt und lenkt. Und der Citoyen ist der, der zwar mitreden, aber nicht entscheiden darf. Das bringt es ziemlich genau auf den Punkt und gilt heute noch. Wir können nur dann etwas verändern, wenn wir das Privateigentum an den Produktionsmitteln abschaffen. Aber wie schaffen wir das?

Gute Frage. Wie schaffen wir es?
Man kann sagen: durch die Revolution. Aber die Frage ist: Wie machen wir eine Revolution?

Das ist die zentrale Frage.
Ich mag den Begriff Revolution, ich finde ihn magisch auf der einen Seite. Aber auf der anderen Seite finde ich, dass wir ihn mit Inhalten füllen und jedes Mal, wenn wir ihn benutzen konkretisieren müssen. Sonst verkommt er zur leeren Floskel.

Kommen wir langsam zum Schluss. Wie lautet deine Botschaft als langjähriger Kämpfer an die junge Generation linker Aktivist:innen?
Ich komme jetzt wieder mit dem Beispiel, das ich schon hundertmal gebraucht habe, auch im Film. Der griechische Theatermann, Schriftsteller und politischer Aktivist Periklis Korovessis wurde während der faschistischen Diktatur in Griechenland (1967 bis 1974) im Knast gefoltert und hat über diese Erfahrung ein erschütterndes Buch, «Der Menschenwärter», geschrieben. Er blieb sein Leben lang politisch aktiv. Kurz vor seinem Tod wurde er von jungen Genossen gefragt: «Was bist du eigentlich? Ein Linker oder ein Bürgerlicher?» Nach einer längeren Pause gab er zur Antwort: «Ich weiss es nicht. Das Einzige, was ich weiss, ist, dass ich nicht als Arschloch sterben will.» Diese Aussage gefällt mir. Es geht um die innere Haltung, die du und ich in dieser Gesellschaft haben, und diese Haltung war auch in meinem Leben zentral.

«SUSPEKT», ein Film von Christian Labhart, Produktion Dschoint Ventschr.
Weltpremiere 24.Januar 2025 Solothurner Filmtage, Kinostart 20.Februar.

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