Wie steigert man «unermesslich?»
flo. Der diesjährige Oxfam-Bericht zur globalen Vermögensverteilung bringt nicht viel Neues. Die Zahl der Hungernden steigt, die der Milliardär:innen auch. Doch etwas dürfte auch hartgesottene Zyniker:innen wachrütteln: Die zunehmende Geschwindigkeit, mit der sich die globale Ungleichheit verschärft.
Erst einmal: Diese «magische» Milliardengrenze, wie willkürlich und abhängig von der Grosswetterlage am Devisenmarkt sie auch sein mag, taugt schon recht gut, um darzulegen, wie abstrus sich manche Menschen auf Kosten der Gesellschaft bereichert haben. Romantiker:innen mit einem Fetisch für individuelle Leistungserzählungen nach dem Motto «vom Tellerwäscher zum Millionär» könnten moderne Märchen von Menschen, die mit einer Idee Millionen verdienen und ihre finanziellen Sorgen hinter sich lassen, durchaus faszinierend finden. Für alle mit einem auch nur halbwegs gesunden Sinn für Proportionen muss klar und deutlich sein, dass die perversen, kaum ermesslichen Vermögen der Allerreichsten in keinem Fall auch nur ansatzweise verdient sein können. Ein Beispiel: Die fünf reichsten Individuen auf diesem Planeten sind allein reicher als hunderte Staaten. Sie verdienen in zwei Minuten oder weniger das durchschnittliche Jahresgehalt einer Person in der westlichen Welt.
Immer mehr Milliardär:innen
Im Jahr 2020 klagte Elon Musk gegen den Verwaltungsbezirk County Alameda in Kalifornien. Er wollte die Schliessung seiner Fabrik während der Covid-Pandemie rückgängig machen. County Alameda hat 1,6 Millionen Einwohner:innen und ein Bruttoinlandsprodukt, das dem gesamten Staat Marokko entspricht. Doch der Verwaltungsbezirk hatte im Rechtsstreit einen Gegner gegenüber, der zwanzigmal mehr Kapital in die Waagschale werfen konnte. Angesichts dieser Übermacht streckte County Alameda die Waffen. Arbeiter:innen erkrankten an Covid, damit ein unanständig reicher Bubenmann noch reicher wird.
Auch für die Umwelt sind Milliardär:innen eine Plage. Schon 2023 hat Oxfam ausgerechnet, dass die reichsten zwölf von ihnen gleich viel CO2 pro Jahr ausstossen wie zwei Millionen Haushalte. Im Durchschnitt produzieren die reichsten 50 Milliardär:innen in eineinhalb Stunden mehr CO2 als ein durchschnittlicher Mensch in seinem ganzen Leben. Und, auch das wissen wir von der Oxfam-Studie: Die Milliardär:innen – eine Gruppe so unsäglich klein, wie gottlos gross ihr Reichtum ist – werden immer mehr und ihre Vermögen wachsen immer schneller.
Ein Weckruf!
Die schlechteste Neuigkeit vorweg: Wir werden im Verlauf der nächsten zehn Jahre wohl unseren ersten Billionär erleben. Und mit den aktuellen rasanten Wachstumsraten bei den Milliardärsvermögen drohen 2035 schon fünf von der Sorte. Man mag sich das selbstgerechte Grinsen des ersten Schurken nicht ausmalen, der diese imaginäre Grenze überschreitet. Im Bericht von Oxfam heisst es weiter: «Im Jahr 2024 ist das Gesamtvermögen von Milliardär:innen um zwei Billionen US-Dollar gestiegen. Ihr Vermögen wuchs damit dreimal schneller als noch 2023. Pro Woche kamen fast vier neue Milliardär:innen hinzu. Gleichzeitig leben noch immer beinahe 3,6 Milliarden Menschen unter der erweiterten Armutsgrenze von 6,85 US-Dollar pro Tag.» Auch für die politische Grosswetterlage findet Oxfam-Direktor Amitabh Behar schonungslos klare Worte: «Das Kronjuwel dieser Oligarchie ist ein Milliardärspräsident, bezahlt und mit Rückendeckung vom reichsten Mann Elon Musk, der nun die weltgrösste Wirtschaft führt. Wir bitten diesen Bericht als Weckruf an die normalen Menschen zu sehen, die vom Reichtum einer winzigen Minderheit zermalmt werden.»
Konzentrierte Macht
Wir sind versucht, uns wie ein Mantra einzureden: Nur die Zahlen wachsen, wie jedes Jahr. Nur die Zahlen wachsen… Doch gerade dies könnte uns blind machen für einen wichtigen Umstand: Diese Zahlen, die immer grösser werden, repräsentieren Beteiligungen an Unternehmen und Investitionen in Geschäfte. Teils betreffen sie wirkmächtige Teile der Privatindustrie, teils staatliche Strukturen oder gar ganze Staaten. Die Milliardenzahl, die immer weiter steigt, repräsentiert zentralisierte und konzentrierte Macht. Sie steht für die Kräfte, die innerhalb des kapitalistischen Systems in Gang gesetzt werden können, um sich selbst zu erhalten und noch mehr Kapital sowie noch mehr Macht zu akkumulieren. Das sind keine abstrakten Prinzipien, sondern konkrete Kräfte wie Anwälte, Sicherheitsdienste, politischer Einfluss über Medien (die man oft auch noch besitzt) und die Fähigkeit, alles zu kaufen, was auf dieser Welt käuflich ist.
Wäre ich nicht arm …
Der Kern und Ursprung dieser Macht sind die Ausbeutung von Arbeit, ob die Allerreichsten nun Bankiers, Techmogule oder Hedgefondsmanager:innen sind. Sind ihr und der Profitmaxime die Umwelt, die Demokratie oder die vereinte und organisierte Arbeiter:innenbewegung dabei im Weg, müssen sie aus dem Weg geräumt werden.
Die Lage der anderen 99 Prozent der Weltbevölkerung sollte aber grundsätzlich im Vordergrund stehen. Der Reichtum der Allerreichsten ist der extremste Auswuchs einer Ordnung, die von Grund auf gescheitert ist. Eine Ordnung, bei der schon die Erzählung vom «Selfmade-Millionär» so viele grosse und kleine Lügen verbreitet. Irgendwo kommt dieser Reichtum ja auch her. Und woher, das wissen wir ja schon seit dem alten Bertolt Brecht: «Reicher Mann und Armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.»