«Wettbewerb» für wen?
Anfang September publizierte das Weltwirtschaftsforum «WEF» den «Competitiveness Report», den Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der wichtigsten Länder der globalen Ökonomie. Die Schweiz belegt zum vierten Jahr in Folge den ersten Platz. Was sagt dieser Bericht jedoch über die gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Land aus?
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«Die Schweiz bleibt Klassenprimus», so bejubelte die Neue Züricher Zeitung (NZZ) am 5. September den neuen Bericht des «WEF.» Besonders hervorgehoben werden der «äusserst effiziente Arbeitsmarkt», «die hochstehende Qualität des Wirtschaftssektors im Allgemeinen», «die Qualität des Forschungsstandorts und dessen enge Zusammenarbeit mit der Unternehmenswelt». Solche Aussagen muten an, als ob es der Schweizer Kapitalismus im Vergleich zu den krisenerschütterten Ländern der EU schaffe, jegliche ökonomischen Schwierigkeiten wegzustecken und allen zu dienen. Es liegt jedoch in der Natur von Zahlen, dass sie die dahinter liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse verschleiern. Auch in der Schweiz ist eine Wiederkehr der Proletarität im Sinne einer durchgreifenden Hierarchisierung der Arbeitsmärkte und der Lebenschancen zu beobachten – und dies nicht erst seit dem Einsetzen der «grossen Krise».
Neoliberaler «Neusprech»
Ein vertiefter Blick in die vom «WEF» publizierten Zahlen geben Aufschluss über die Positionierung der Schweiz im internationalen Wettbewerb. Bei der Messung der «Labor market efficiency», also der Arbeitsmarkteffizienz, liegt die Schweiz auf Rang eins. Die Zusammenstellung dieses Indexes ist eine meisterliche Anwendung des neoliberalen «Neusprech». So werden unter anderem folgende Variablen benutzt: Die Arbeitsbeziehungen, die Praktiken der Anstellung und Entlassung, die Arbeitsproduktivität und die Erwerbsbeteiligung von Frauen. Weisen diese Variablen einen hohen Wert auf, dann wirkt sich das laut «WEF»-Bericht positiv auf die Arbeitsmarkteffizienz aus. Übersetzung: Je weniger Streiks und Arbeitsniederlegungen, je besser die Möglichkeit, ArbeiterInnen ohne zusätzliche Kosten entlassen zu können, je höher die Ausbeutungsrate der Arbeitskraft und je mehr Frauen ihre Arbeitskraft vermarkten, desto intensiver ist die Verwertung des Kapitals. Der Begriff der «Arbeitsmarkteffizienz» sagt also nichts über die Qualität der Arbeit aus. Es geht schlicht um die optimalen Rahmenbedingungen für die Generierung von Profit.
Kapitalismus ohne soziale Klassen?
Der «WEF»-Bericht liefert somit eine weitere Grundlage für die Verbreitung eines gesellschaftlichen Mythos: Der Schweizer Kapitalismus diene der ganzen Bevölkerung. In dieser Betrachtungsweise verschwinden jegliche sozialen Klassen. Alle hätten die Möglichkeit, wenn nicht gerade MillionärIn zu werden, dann doch eine stabile Mittelstandsposition zu erreichen. Wie hat sich aber der Schweizer Kapitalismus tatsächlich entwickelt in den letzten Jahrzehnten? Die Produktion hat zwischen 1980 und 1999 um 50, die Arbeitsproduktivität um 97 Prozent zugenommen. Im gleichen Zeitrahmen fiel jedoch die Beschäftigung um 24 Prozent. Und wuchs der an die ArbeiterInnen gehende Anteil des produzierten Reichtums zwischen 1990 und 2007 um 66 Prozent, so blähte sich das Vermögen der AktionärInnen von börsenkotierten Aktiengesellschaften um 426 Prozent auf. Wir können also festhalten: Der Kapitalismus hat in den letzten Jahrzehnten in erster Linie den oberen Klassen gedient.
Ein weiterer weit verbreiteter Mythos will uns glauben lassen, dass die Tertiarisierung des Arbeitsmarktes in erster Linie stabile Jobs in den oberen Segmenten generiert hat. Doch real wurden 90 Prozent der neuen Stellen im Bereich der tiefen Qualifikation und im Niedriglohnsektor des Handels und der personenbezogenen Dienstleistung geschaffen. Hier herrschen prekäre Anstellungsverhältnisse vor. Der Anteil der Beschäftigten, der angibt, in atypischen Verhältnissen zu arbeiten, hat sich in den letzten zehn Jahren massiv erhöht. Abend- und Nachtarbeit, Teilzeit- und Temporärarbeit, Arbeit auf Abruf und Jahresarbeitszeiten sind schon lange keine Randphänomene mehr. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit der Lohnabhängigen. 70 Prozent der befragten Beschäftigten geben an, am Arbeitsplatz psychischen und nervösen Spannungen ausgesetzt zu sein. Diese Tendenz ist in den letzten fünf Jahren gestiegen. Wir können also weiter festhalten: Arbeiten schadet der Gesundheit.
Prekär schon vor der «grossen Krise»
Die Krise hat die Prekarisierungstendenzen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt akzentuiert, die produktive Restrukturierung des Industriesektors ist nur ein Beispiel dafür. Doch diese Tatsache soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass spezifische Gruppen der Lohnabhängigen auch schon vor der Krise in prekären Verhältnissen lebten und arbeiteten. Insbesondere Frauen sind stark davon betroffen. So verdient über 60 Prozent der erwerbstätigen Frauen weniger als 4 000 Franken monatlich. Ein Viertel der befragten Frauen gibt an, ihre Ausbildung entspreche nicht der ausgeübten Tätigkeit (Überqualifikation). In Jobs, die Abend- und Wochenendarbeit beinhalten, sind Frauen überrepräsentiert.
«Wettbewerbsfähigkeit» bedeutet also nicht – wie es der «WEF»-Bericht vermuten lässt – einen allen dienenden Kapitalismus. Auch in der Schweiz basiert der Kapitalismus auf Unterdrückung und Ausbeutung. Und vieles deutet darauf hin, dass die Lohnabhängigen in nächster Zukunft vermehrt mit Ungewissheit und Unsicherheit der Beschäftigung konfrontiert sein werden. Höchste Zeit, etwas dagegen zu tun.