Rojava: «Wir widerstehen, weil wir das Leben lieben!»

Maja Hess. Rojava ist der Ort, an dem die Sonne untergeht, der Westen. So bezeichnen die Kurd*innen den Nordosten Syriens. Hier versuchen sie, ein demokratisches konföderales System aufzubauen mit dem Ziel, dass Menschen verschiedener religiöser und ethnischer Herkunft in Frieden zusammenleben können. Der Pluralismus soll eine wichtige Basis für Frieden sein, genauso wie die demokratische Beteiligung aller Gesellschaftsschichten und die Befreiung der Frauen* aus dem engen patriarchalen Korsett.

Die Vision einer friedlichen Gesellschaft ist beeindruckend und gibt Hoffnung. Für Rojava wurde sie jedoch zur Bedrohung. Die kurdische Region wird an verschiedenen Fronten angegriffen, seine Bestrebungen nach Selbstbestimmung werden nicht toleriert. Die Türkei hat mit der seit 2018 andauernden militärischen Besetzung von Afrin gegen das Völkerrecht verstossen und im Leben der Menschen grosses Leid angerichtet. «Unser Herz ist gebrochen», sagte mir eine junge Freundin. «Unser Traum von Freiheit und Frieden ist zerrissen.» Als Folge leidet die junge Frau wie viele andere an Albträumen und Angstzuständen und weiss nicht, wo sie Unterstützung finden kann.

Ohrenzeugin
Ich bin Ohrenzeugin vieler schrecklicher und äusserst grausamer Geschichten geworden. Die Täter waren das türkische Militär, der IS, dschihadistische Söldner und auch das Assad-Regime. Stets waren Übergriffe, Folter, Ermordungen und Massaker die Antwort für die Menschen, die sich für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Friede und die Befreiung der Frauen* einsetzen. Eine erschreckende Form der Grausamkeit gegen weibliche Aktivistinnen und Kämpferinnen ist – über die sexuelle Gewalt hinaus – die Entwertung oder Entehrung ihres Körpers im öffentlichen Raum, indem entsprechende Bilder ins Internet gestellt und den Angehörigen zugespielt werden. Widerständige Frauen* und Männer* sollen gebrochen und zum Schweigen gebracht werden. Wenn sie sich nicht unterwerfen, werden sie umgebracht. Die Gesellschaft soll verstehen und durch Angst verinnerlichen, dass sich der Widerstand nicht auszahlt. Die Vision einer anderen, gerechteren Welt wird mit Füssen getreten, mit Militärstiefeln zugrunde gerichtet. Wer sich nicht beugt, wird ständig bedroht und lebt so unter permanenter Angst und nagendem Stress. Wie Rost Eisen korrodiert, zerfrisst diese Angst die menschliche Seele.
Während ich diesen Erzählungen zuhörte, fühlte ich mich jedes Mal, als müsste ich in einem Meer von Tränen versinken, aus dem ich nie mehr auftauchen kann. Ich war erschlagen. Auch Ohrenzeugin zu sein, kann traumatisieren. Kann ich diese Geschichten jemandem zumuten? Ich versuchte, mit den belastenden Bildern und Gefühlen umzugehen und ich fragte mich stets: Wie überleben die Menschen in Rojava, ohne bitter und selber grausam zu werden? Wie gelingt es ihnen, widerständig zu bleiben und ihren Traum nicht zu verraten oder zu verlassen?

Widerstand
«Wir widerstehen und kämpfen, weil wir das Leben lieben», sagte mir Cemila, Co-Leiterin des Kurdischen Roten Halbmonds in Qamishlo. «Wir lieben unsere Musik, unsere kurdischen Tänze, unser Land- und die Freiheit. Wir sind aus der Sklaverei entkommen und haben Freiheit gesehen!» Letzteres wiederholen viele Freund*innen. Ausserdem existiert eine jahrhundertlange kurdische Geschichte von Überleben und Widerstand. Repression, Vertreibung und Genozid gehören zum traurigen Erfahrungsfundus der kurdischen Bevölkerung, aber auch ein intellektuelles, emotionales und psychisches Wissen, wie mit diesen Schrecken umgegangen werden kann. «Never give up», schrieb der Pflegefachmann und Leiter des Covid-Hospitals auf seine Schutzmaske. Passend in jeder Hinsicht, dachte ich. Wenn traumatische Erfahrungen über Generationen quasi vererbt werden können, wie die Holocaust-Forschung zeigt, kann dann auch die Fähigkeit, zu widerstehen und mit extremen Erfahrungen umzugehen, über Generationen weitergegeben werden?

Politische Bildung und Ideologie
Ein weiteres Werkzeug der Resistenz sind die politische Bildung und die Ideologie. «Unsere gegenwärtige Waffe ist die soziale und politische Bildung, nicht die Kalaschnikow in unserer Hand. Unser Gewehr dient der Selbstverteidigung, die Bildung aber dem Kampf an der politischen Front», erklärte mir eine Freundin aus der Frauen*bewegung. Wie immens hoch Bildung in Rojava bewertet wird, zeigen die vielen Akademien und Bildungsräume, die für alle zugänglich sind. «Hier leben Menschen mit verschiedenen Religionen unter einem Dach. Aber wir haben weder eine Moschee, noch einen Tempel oder eine Kirche», sagte mir eine Freundin, eine Heval aus dem Frauen*dorf Jinwar. «Wir haben eine Akademie! Dort teilen wir unsere Erfahrungen mit andern, reden über alles, lernen Neues: politisches Wissen, Erfahrungen des Widerstandes aus anderen Ländern, Selbstverteidigung wie Wen-Do, Matriarchatsforschung, Jineologie, Kenntnisse über unsere Gesundheit und vieles mehr.» Ziel der Bildung ist, die Gesellschaft durch gemeinsam erarbeitetes Wissen von innen her zu bereichern, zu verändern und zu stärken.
Viele der kurdischen Aktivist*innen und Käm-pfer*innen haben Öcalans Schriften gelesen und diskutiert. Die klare ideologische Ausrichtung dient ihnen als Werkzeug für politische Analysen der Realität, stärkt sie und gibt ihnen Halt in Extremsituationen. In den Erläuterungen meiner Freundinnen verdichtete sich ein Herzstück der Schriften von Öcalan: Der unbeugsame Wille, sich trotz Rückschlägen für Veränderung einzusetzen, denn Entwicklungen verlaufen nicht linear. Die Wahrnehmung und die politischen Modelle sollen von patriarchalen Mustern befreit werden – und von einer eurozentristischen Sicht.

Sehid
Den Tod vor Augen kämpfen die Menschen in Rojava täglich für Veränderungen in der Gesellschaft. Dabei werden die Gefallenen – Sehid auf Kurdisch – niemals vergessen. Sie nehmen einen wichtigen Platz im kollektiven Bewusstsein ein. Als ich in einer Psychodramafrauengruppe bat, ein Vorbild oder eine «Heldin» zu wählen, dachte die Mehrheit der Teilnehmerinnen an eine gefallene Freundin. Die meisten hatten diese Sehid persönlich gekannt. Sie waren Genossinnen. Trauer und Ehrfurcht verdichteten sich im Raum und ich gab meine Absicht, einen Rollenwechsel mit diesen «Heldinnen» zu realisieren, sofort auf. Ich spürte, dass ich damit ihre Grenze der Achtung und des Respekts für die Gefallenen überschritten hätte. Ausserdem wurde mir sofort bewusst, dass ein Rollenwechsel mit einer gefallenen Heval so viele Emotionen ausgelöst hätte, dass ich und die Gruppe dies im Rahmen eines zweitägigen Workshops nicht hätten halten können.

Schwesterlichkeit
Kollektive Räume, getragen von Herzlichkeit und gegenseitiger Fürsorge, sind gerade für Frauen*. schützende und sichere Orte. Gemeinsam lachen, singen, tanzen und Tee trinken kreiert unbeschwerte Momente. Als eine junge Frau mir ihren durch eine Mine verstümmelten Fuss zeigte und von ihren anhaltenden Nervenschmerzen berichtete, war ich erstaunt, wie gelassen und optimistisch sie wirkte. Sie war eine Kämpferin und wäre gerne an die Front zurückgekehrt. Heute lebt sie in einer Frauen*-WG, ist Teil der Frauen*bewegung und erfährt dort Zugehörigkeit und hohe Anerkennung. Sie setzt sich für Gendergerechtigkeit und Frauen*befreiung ein. Dass sie nicht mehr aktiv an der bewaffneten Verteidigung von Rojava teilnehmen kann, ist für sie schmerzlich. Dabei versucht sie, ihre körperlichen Schmerzen in ihr Leben und ihren Bewegungsablauf zu integrieren. Ihre Verletzung ist ein Tribut, den sie für den Befreiungskampf bezahlt hat.

Bis die Menschen frei sind!
«Ihr seid lebende Märtyrer», so habe Mazlum Kobanê Abdi, der Oberkommandierende der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), ihm an einer Ehrung gesagt, und das bedeute ihm sehr viel. Der junge Heval, der mir dabei fast feierlich ein Video dieser Veranstaltung zeigt, sitzt im Rollstuhl, da er beide Beine direkt unterhalb des Hüftgelenks bei der Befreiung von Raqqa verloren hat. Er trägt Uniform. Auch für ihn ist das Schwierigste, dass er nicht mehr mit dem Gewehr in der Hand kämpfen und Rojava verteidigen kann. In der Psychodramagruppe hat er Mazlum Abdi als sein Vorbild und Helden gewählt. Im psychodramatischen Rollentausch ehrt ihn Abdi für seinen Mut, seinen Einsatz, für sein grosses Opfer, das er im Kampf gegen den IS erbracht hat. Und der Freund bewundert Mazlum Abdi für seine grossartige politisch-militärische Führung und für seine Menschlichkeit.
Ich stand neben dem jungen Freund, der nie mehr gehen wird, und fühlte mich zutiefst beschämt und gleichzeitig voller Ehrfurcht für seinen Mut, seine politische Überzeugung und seine bemerkenswert menschliche Haltung. Kein Wort der Bitterkeit oder des Hasses. Kein Bedauern über seine Entscheidung zu kämpfen. Wie viele andere Heval richtet er den Blick in die Zukunft: Er will kämpfen, bis die Menschen in Rojava ganz frei sind!

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