Populismus ohne Volk
dom. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wird nach den diesjährigen Wahlen zur relevanten Kraft in Deutschland. Es bekam Stimmen aus dem linken und dem rechten Lager. Wo lässt sich die im Januar 2024 gegründete Partei politisch
verorten? Und: Wird die Zentrierung auf die Person von Sahra Wagenknecht zum Verhängnis werden?
Die Wahlergebnisse sprechen für sich: Bei der Europawahl holte sich das BSW 6.2 Prozent der Stimmen und konnte sich damit sechs der 96 deutschen Sitze im Europäischen Parlament sichern. Bei den jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg erreichte das BSW aus dem Stand 13,5 Prozent und zog damit erstmals mit 14 Sitzen in den Landtag ein. In Sachsen kommt das neue Bündnis auf 4,5 Prozent, in Thüringen auf sechs Prozent. Dass das BSW damit zum bedeutenden Akteur in der deutschen politischen Landschaft, insbesondere in Ostdeutschland, geworden ist, lässt sich kaum bestreiten – schwierig bleibt jedoch die politische Verortung der Partei.
Ein eingesunkenes Soufflé
Das Profil und der spektakuläre Wahlerfolg der Anfang 2024 gegründeten Partei lassen sich ohne einen Blick auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse nicht begreifen. Krisen, sozialer Abstieg und vor allem Abstiegsängste prägen die heutigen Lebenswelten in den kapitalistischen Zentren. Das neoliberale Versprechen eines wachsenden Wohlstands, an dem alle teilhaben, erweist sich für immer breitere Schichten als Betrug. Soziologe Oliver Nachtwey meinte kürzlich in der «Frankfurter Allgemeine», die Gesellschaft werde nicht mehr als «aufgehender Kuchen, sondern wie ein eingesunkenes Soufflé» betrachtet. Entsprechend prägen Abstiegsängste das Wahlverhalten, jede:r will von dem, was an gesellschaftlichem Wohlstand übrig bleibt, noch was abbekommen.
Das gilt insbesondere für Arbeiter:innen, welche es im «alten BRD-Sozialmodell» mit viel Anstrengung zu einem gewissen Wohlstand brachten, dafür aber weite Wege und grosse Anpassungsleistungen auf sich nehmen mussten. Gestützt auf eine Arbeit von Steffen Mau, Linus Westheuser und Thomas Lux identifiziert Nachtwey sogenannte «Triggerpunkte», an denen sich diese Arbeiter:innen leicht mobilisieren lassen.
Triggerpunkte
Sie werden erstens mobilisiert, wenn sie «Sonderrechte bei anderen Gruppen (etwa bei Migrant:innen) vermuten, zweitens, wenn sich Leute nicht an ihre Normalitätsvorstellungen halten (Trans-Personen). Ihre eigenen Routinen und Vorstellungen sehen sie, drittens, bedroht durch Sprach- und Verhaltensregeln (Gendern) oder Ernährungsvorschriften. Dabei tut, viertens, der Staat nichts, um sie zu schützen, etwa vor Migrationsströmen, sondern greift in ihr Leben mit immer neuen Vorschriften (Klima, Autoverkehr) ein».
Mit seiner linkskonservativen Positionierung setzt das BSW an diesen Punkten an und wird damit sowohl für linke wie rechte Wähler:innen attraktiv. Das widerspiegelt sich in der Wähler:innenwanderung bei den jüngsten Wahlen: Das BSW holt sich Stimmen aus dem linken und dem rechten Lager, wobei sein Erfolg mehrheitlich auf Kosten der Linken geht. Als grosse Verliererin der Landtagswahlen steht die Partei «Die Linke» da, welche in Sachsen und Brandenburg gar an der 5-Prozent-Hürde scheitert und damit aus dem Landtag ausscheidet. Die AfD hingegen geht als stramme Siegerin aus dem Wahlherbst hervor. Damit muss sich das BSW den Vorwurf gefallen lassen, sich mit seiner Übernahme rechter Rhetoriken und Politiken zum Steigbügelhalter der AfD gemacht zu haben. An dieser Stelle zog der Soziologe Alex Demirovic kürzlich in der Zeitung «Neues Deutschland» einen Vergleich zu Emmanuel Macron. Das BSW habe die Dynamik der AfD nicht brechen können, ebenso wenig, wie Macron die Rechte schwächen konnte. Macron etablierte einen «Populismus durch Design», einen «Populismus ohne Volk». Mit dem Ziel eine antieuropäische Rechte zu verhindern, formulierte Macron ein Programm, wählte Funktionär:innen aus und bestimmte Mandatsträger:innen.
One-Woman-Show
Doch mit seiner arbeiter:innen-feindlichen Politik weckte Macron gewaltige Proteste – bei den Gelbwesten, Kleinbäuer:innen und den Gewerkschaften. Macron antwortete mit harter Repression. Gestärkt wurde damit letztlich die Rechte, der Rassemblement National geht als Sieger aus Macrons Amtszeit hervor. Wie Macrons Partei ist auch das BSW nicht organisch aus den Interessen einer Bevölkerungsgruppe entstanden, indem es deren Interessen formuliert und in den demokratischen Prozess einbringt. Es hat sich, wie Demirovic schreibt, «eine Nische am politischen Markt gesucht und entdeckt, … die sie nun mit einem eigenen politischen Angebot füllen möchte». Wagenknecht sucht sich das Volk, das sie braucht. Die Partei wurde mit einem gezielten Profil gegründet, «das Programm ist Wagenknecht selbst».
Es ist diese Zentrierung auf Wagenknechts Person, die dem BSW längerfristig zur Gefahr werden könnte. Kurz- und mittelfristig lassen sich mit dem linkskonservativen Ansetzen an gesellschaftlichen Triggerpunkten gewisse Wahlerfolge verbuchen – auf lange Sicht muss die neue Partei aber in der Bevölkerung Wurzeln schlagen und ihre «One-Woman-Show» beenden. Eine weitere Gefahr besteht laut Nachtwey darin, dass das BSW nicht mehr als «Anti-Establishment-Projektionsfläche» taugt, wenn es einmal in die Regierungen eingetreten ist.
Für die deutschen Arbeiter:innen
Das erinnert an die AfD, die ihren Aufstieg zu grossen Teilen ihrer Anti-Establishment-Politik verdankt. Sie mobilisierte wirksam gegen die «Altparteien» und lehnte das etablierte politische System als elitär ab. Im Zuge ihrer institutionellen Beteiligungen und der Kooperation mit anderen Parteien wird die Aufrechterhaltung dieser Position zunehmend schwierig – auch wenn die Partei nach wie vor von vielen Anhänger:innen als Protestpartei wahrgenommen wird. Zwischen AfD und BSW lassen sich weitere Parallelen ziehen. Das wurde deutlich Anfang Oktober, als «Welt-TV» Alice Weidel von der AfD und Sahra Wagenknecht zum TV-Duell auf die Bühne bat. Was als «Duell» und «Schlagabtausch» angekündigt wurde, entwickelte sich zu einem Gespräch mit viel inhaltlicher Nähe, während sich die gegenseitigen Angriffe eher auf persönlicher, denn auf politischer Ebene abspielten.
Differenzen bestehen vor allem in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Weidel macht sich für liberale Positionen stark, verlangt den Abbau von Kapital-Steuern und bürokratischen Hindernissen. Im Gegensatz dazu befürwortet Wagenknecht Regulierungen und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft – zumindest zugunsten der deutschen Staatsbürger:innen. Aber lässt sich eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sich auf die nationale Arbeiterschaft beschränkt, überhaupt als links bezeichnen?
Auch die «Friedenspolitik» des BSW lebt wesentlich vom Argument, die Sanktionen, die Waffenlieferungen und die Fortsetzung des Ukraine-Krieges, würden der deutschen Volkswirtschaft schaden. Das ist jenes Thema, bei dem AfD und BSW die wohl grösste Schnittmenge aufweisen. Beim «TV-Duell» bestätigte Weidel Wagenknechts Erläuterungen mit den Worten: «Das sind AfD-Positionen, wie wir sie von Anfang an vortragen.»
Zuletzt stehen sich die beiden auch in migrationspolitischen Fragen nahe. Egal wie oft Wagenknecht die AfD als rassistisch verurteilen mag – letzten Endes bedient sie mit ihrem Programm dieselben Ressentiments: Soziale Ungleichheiten, die Belastung der öffentlichen Infrastruktur und Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt werden auch vom BSW in Zusammenhang mit einer zu wenig restriktiven Migrationspolitik gestellt. Deshalb meinte Wagenknecht Ende August: «Die Willkommenskultur ist vorbei. Wir schaffen es nicht. Macht Euch nicht auf den Weg!»