Kapitalismus macht krank

sit. Maja Hess, die Präsidentin von medico international schweiz, ist die Hauptrednerin am diesjährigen Internationalen Tag der Arbeit in Zürich. Ein Gespräch mit der langjährigen Aktivistin, Ärztin, Psychiaterin und Psychodramatikerin.

Maja, bekommen die Menschen wegen des Kapitalismus den Schnupfen oder gar Fieber?
Die Menschen bekommen weder Schnupfen noch Fieber. Aber sehr viele Menschen, die auf der Schattenseite des Kapitalismus leben, kriegen weltweit einfach zu wenig: zu wenig zum Leben, zu wenig, um ihre Gesundheit zu schützen, zu wenig Sicherheit, zu wenig Bildung, zu wenig Teilhabe an Entscheidungen und an der Gestaltung des sozialen Zusammenlebens.Ja, und deshalb bekommen sie vielleicht wirklich eher Schnupfen und Fieber, weil ihre Immunität wegen chronischen Stresses, Mangel- und Unterernährung geschwächt ist. Sie kriegen vor allem weit belastendere und lebensbedrohlichere Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt und andere schwere chronische Krankheiten.

Wenn also Kapitalismus krank macht, was ist das Rezept dagegen? Oder anders gefragt: Welchen Beitrag können wir hier in der Schweiz zur Genesung leisten?
Als Ärzt:innen stellen wir ja Rezepte aus und das Medikament sollte zur Genesung beitragen. Die Arznei allein heilt aber nicht. Genesung braucht die Selbstheilungskräfte sowie die körperliche und auch die seelische Widerstandskraft jedes Menschen. So gibt es eben auch keine einfache Mixtur gegen den Kapitalismus. Es braucht jede:n einzelne:n und das sozial-politische Kollektiv, um Veränderungen zu erreichen. Wir können dort Widerstand leisten, wo Unrecht geschieht, wo Ungleichheit verschärft und zementiert wird, wo unsere Ökosysteme zerstört werden, wo sich faschistische Ideologie verbunden mit sichtbarer und unsichtbarer Machtausübung ausbreitet. Aktuell werden unendlich viele Ressourcen in Aufrüstung und Kriege wie in Gaza investiert. Milliarden werden für Waffensysteme ausgegeben, ein grosses kapitalistisches Geschäft mit wenigen Gewinner:innen und unendlich vielen Verlierer:innen. Dabei wird ohne Ende CO2 in die Atmosphäre ausgestossen, sowohl bei der Waffenproduktion wie auch beim Einsatz dieser Waffen. Das ist ein Verbrechen.
An den Aussengrenzen Europas werden immer perfidere Mechanis-men erfunden und umgesetzt, um Geflüchtete und Schutzsuchende möglichst effizient und kostengünstig abzuschieben, um die sogenannte Festung Europa zu verteidigen. Dabei wird von Sicherheit und Ordnung gesprochen, aber Angst geschürt und Ausgrenzung praktiziert. Vor unseren Augen gewinnen rechtsextreme, faschistische Gruppierungen in ganz Europa, aber auch in der Schweiz zunehmend Einfluss und die SVP macht sie sogar salonfähig. Dagegen müssen wir auf die Strasse, dagegen sollten wir anschreiben, anreden, ankämpfen und Haltung zeigen. «Bewegung tut gut», hiess es in den 1980er-Jahren. Tatsächlich: Bewegung tut auf jeder Ebene gut. Wir dürfen vor der Stärke des Gegenwindes, vor den neueren Entwicklungen nicht erstarren. In Bewegung kommen, uns vernetzen, auch über soziale und nationale Grenzen hinweg, den Widerstand stärken. Das kann zur Genesung beitragen, zur gesellschaftlichen und zu unserer persönlichen.

Du bist Ärztin, Psychiaterin und langjährige Psychodramatikerin. Was genau ist unter letzterem zu verstehen?
Das Psychodrama ermöglicht die Verarbeitung einer konfliktiven Situation durch verschiedene Formen des Nachspielens in einer Gruppe. So wird eine Verbindung zwischen den Emotionen, dem Körper, dem Raum und der sozialen und politischen Realität hergestellt. Getragen wird diese Erfahrung durch die Gruppe. Durch Inszenierung von Erlebnissen oder Wünschen wird das Handeln hinterfragt, alternative Strategien ausprobiert und neue Perspektiven eröffnet. Hier ein Beispiel aus Rojava, Nordostsyrien: Mit den Mitarbeiterinnen eines Waisenhauses sind es zum Beispiel Situationen, die herausfordernd sind, wie zum Beispiel ein Kind, das partout nicht zur Schule will. Üblicherweise wird wiederholt auf das Kind eingeredet – aber ist dies wirklich zielführend? Wie fühlt es sich denn in der Rolle als Kind an, wenn eine verantwortliche Person so auf mich einredet? Nachfragen, Verstehen und Empathie sind angesagt und können durch einen Rollenwechsel trainiert werden. Ein weiteres Beispiel: Die Mitarbeiterinnen sollen schöne Kindheitserinnerungen wachrufen, die in der Gruppe geteilt und darauf in Rollenspielen dargestellt werden. Diese Erinnerungen sind ein Schatz, der ihnen niemand wegnehmen kann. Dies macht den Betreuerinnen bewusst, wie wichtig es ist, den Waisenkindern nebst deren belastende Vergangenheit auch schöne Erinnerungen zu ermöglichen und sie damit zu stärken.

«Abhängigkeit im Bereich der Gesundheit ist ein Zeichen für allgemeine Abhängigkeit», diese Aussage von Abdulla Öcalan zitierst du in deinem Artikel in der Zeitung des 1.-Mai-Komitee Warum?
Das Zitat stammt aus seiner Schrift «Soziologie und Freiheit» und geht mit folgenden Worten weiter: «Nur eine Gesellschaft, die in der Lage ist, die physischen und psychischen Probleme ihrer Mitglieder autonom anzugehen, kann ihre Freiheit erlangen.» In Rojava, der autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, hat soeben die erste Gruppe von Ärzt:innen ihren Abschluss an der Roj-Universität in Qamishlo gemacht. Die jungen Menschen stammen aus Familien mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Hintergrund. In einem Kontext von anhaltendem Krieg, mangelnder Perspektiven und der damit einhergehenden Abwanderung von Fachkräften, besteht die Hoffnung darin, dass die politische Bildung und das Leben in einer selbstverwalteten Gesellschaft zu einem professionellen, menschlichen und politischen Engagement für die eigene Bevölkerung führen. Der Fokus liegt dabei auf dem garantierten Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle in Rojava, im Streben nach gerechteren Strukturen und im Widerstand gegen die kapitalistische Logik der Kommerzialisierung von Gesundheitsdiensten. Auch in den zapatistischen Autonomiegebieten in Chiapas (Mexico) oder in indigenen Gemeinden in Guatemala setzen insbesondere Frauenstrukturen auf die Entwicklung konkreter Alternativen zum westlichen Gesundheitsversorgungssystem. Ziel ist es, den Zugang zu medizinsicher Hilfe dem Einfluss des Kapitalismus zu entziehen. Dabei greifen sie auf das überlieferte Wissen ihrer Vorfahren zurück, nutzen einen reichen Fundus an medizinischen Pflanzen und integrieren alte Rituale in den Heilungsprozess. Insbesondere strukturelle Gewalt und Unterdrückung, einschliesslich sexualisierter oder rassistischer Gewalt, hinterlassen tiefe Spuren im Gedächtnis und können sich als physische Schmerzen manifestieren. Zur Bewältigung dieser Heraus-forderungen suchen diese Gemeinschaften in kollektiven Strukturen nach autonomen Wegen der Heilung.

Du bist seit vielen Jahren Präsidentin von medico international schweiz. Welchen Beitrag leistet medico und zwar im Sinne einer Medizin gegen den Kapitalismus?
medico arbeitet seit ihrer Gründung im Jahr 1937, damals unter den Namen Centrale Sanitaire Suisse (CSS), mit lokalen Organisationen im Gesundheitsbereich zusammen, sie implementiert keine eigenen Projekte in den Projektregionen. In den 1980er-Jahren unterstützten wir die Befreiungskämpfe in Zentralamerika, indem wir direkt die medizinischen Einheiten der Guerilla in Guatemala und El Salvador finanziert haben, damals mit chirurgischem Material, mit Medikamenten und spritzbaren Narkosemitteln. Wir haben Weiterbildungsprogramme für junge Kämpfer:innen ermöglicht, die sich zu Sanitäter:innen ausgebildet haben. Die Ärzt:innen haben gemeinsam mit den Sanitäter:innen überall die verletzten Kämpfer:innen operiert: unter Bäumen, in Höhlen, in verfallenen Häusern. Ich habe es selbst gesehen und gedacht, die Operierten werden das nie überleben. Da sind Ameisen beinahe in die offene Bauchhöhle gekrochen. Aber sie haben alle überlebt, die ich kennengelernt habe. Sie waren innert kürzester Zeit wieder fit und wollten weiter kämpfen. Da habe ich verstanden, wie viel möglich ist, wenn es ein gemeinsames Ziel, einen kollektiven Kampf gegen Unterdrückung, Unrecht und Faschismus gibt.
medico unterstützt aktuell in verschiedenen Ländern viele Frauenorganisationen, die sich für die Frauenbefreiung, für die LGBTQI-Rechte und gegen das Patriarchat mit all seinen schrecklichen und gewalttätigen Erscheinungsformen einsetzen. Dabei ist die eigene psychische Gesundheit und die Analyse der verinnerlichten patriarchalen Überzeugungen wichtig, um die Widerstandskraft zu stärken. In Rojava haben die Frauen schon sehr viel erreicht, da sie auch von der kurdischen Bewegung politische und soziale Rückendeckung erhalten. Viele Frauenbewegungen in den medico Partnerländern kämpfen jedoch gegen unglaublich repressive frauenfeindliche Gesetze, gegen grausame patriarchale Wirklichkeiten. Ich bewundere ihren Mut und ihr Durchhaltevermögen. Im Shengal, im Nordirak, sollen die mobilen Kliniken für die intern Vertriebenen ein Lichtblick sein, dass sie und ihre Geschichte des Genozids und Femizids durch den IS auch international nicht vergessen wird. Zehn Jahre sind es her seit dem Genozid, seit dem Angriff des IS auf die Ezidische Bevölkerung im Shengal. Es darf kein Schweigen geben. Da steht auch medico in Verantwortung. Das sind Beiträge von medico in Zusammenarbeit mit den lokalen Organisationen im Kampf gegen die Auswirkungen des weltweiten neoliberalen Kapitalismus, des Kolonialismus und des Patriarchats.

Zum Schluss: Mach uns etwas neugierig, was wird die Hauptbotschaft deiner Rede am 1.Mai in Zürich sein?
In Zeiten, in denen es einfacher ist, sich ein Ende der Welt vorzustellen als ein Ende des Kapitalismus, braucht es dringend unsern Widerstand! Wir können und dürfen diese Essenz des kapitalistischen Realismus nicht akzeptieren. Internationalistisch zu denken, fühlen und handeln hilft, aus dieser Denk- und Wahrnehmungsfalle herauszukommen. Und ich möchte an alle Menschen, insbesondre alle Gesundheitsarbeiter:innen gedenken, die jetzt in Kriegen wie in Gaza, in Rojava und anderen Konfliktregionen sich für das Überleben der Menschen einsetzen und dafür ihr eigenes Überleben aufs Spiel setzen. Sie sind die wahren Held:innen unserer Zeit.

Weitere Infos: medicointernational.ch

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Ein Kommentar

  • Erich Gmünder-Gerecke

    Ein eindrückliches Interview! Maja Hess zeigt glasklar auf, wie die einzelnen Fachgebiete, hier also Medizin und Psychiatrie, von der kapitalistischen Ideologe und Logik betroffen sind und wie sie darum nicht in ihrem fachlichen Elfenbeinturm verharren können, sondern sich an der Umwandlung unserer Gesellschaft beteiligen müssen, wenn sie nicht wollen, dass ihre Bemühungen um das Erreichen ihrer Ziele von eben dieser kapitalistischen Logik durchkreuzt werden.

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