Unrecht als System
2Ricarda Rotach. Die Lage der palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen hat sich seit dem 7. Oktober 2023 drastisch verschlechtert Die Berichte über die unmenschlichen Haftbedingungen häufen sich. Die Physicians for Human Rights Israel setzen ihren Kampf gegen Willkür, Missbrauch und Folter fort.
«Das Leben jede:r Palästinenser:in in israelischen Gefängnissen ist in Gefahr,» schreibt die Organisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI) in ihrem Recherchebericht vom Februar. Seit dem 7.Oktober 2023 hat die israelische Armee Tausende Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland festgenommen, darunter Minderjährige, Frauen, ältere Menschen und Dutzende Gesundheitsarbeiter:innen. Die Anzahl der palästinensischen Gefangenen hat sich nahezu verdoppelt.
Rechtliche Willkür
Bereits vor dem 7. Oktober waren rund 5000 Palästinenser:innen in israelischen Gefängnissen, viele in Administrationshaft – ohne Anklage oder Gerichtsverfahren und auf unbestimmte Zeit. Im Gegensatz zu Israelis werden palästinensische Gefangene in Militärgefängnisse gebracht und vor Militärgerichte gestellt, wo Kinder ab 12 Jahren ohne Anwesenheit eines Elternteils verhört und verurteilt werden können. PHRI kämpft seit Jahren gegen diese rechtliche Willkür und setzen sich für den Schutz der körperlichen und geistigen Gesundheit palästinensischer Gefangener ein.
«Die Lage der palästinensischen Gefangenen hat sich seit dem 7. Oktober drastisch verschlechtert. Die Gefangenen erhalten dort kaum juristische und medizinische Hilfe,» berichtet Oneg Ben Dror, Koordinatorin der Abteilung für Gefangene und Inhaftierte bei PHRI. Früher wurden die Gefangenen nach wenigen Tagen im Armeegewahrsam dem israelischen Gefängnisdienst (IPS) übergeben. Seit Kriegsbeginn liegt die Verwahrung grösstenteils bei der Armee, dies gilt vor allem für Gefangene aus Gaza. «Die meisten Festgenommenen der letzten Monate kommen aus Gaza und werden unter dem Vorwurf, Hamas-Anhänger:innen zu sein, als Kriegsgefangene festgehalten. Angehörige wissen oft nicht, wo sie sind oder wie es ihnen geht,» sagt Oneg. Grundlage dafür ist das israelische Gesetz über «ungesetzliche Kombattanten». Es erlaubt unbegrenzte Inhaftierungen ohne Beweise, wenn der Verdacht besteht, die Person sei an Feindseligkeiten gegen Israel beteiligt oder stelle eine Sicherheitsbedrohung dar. Amnesty International kritisiert dieses Gesetz als Verstoss gegen das Völkerrecht.
Einer der bekanntesten Militärstützpunkte ist Sde Teiman in der Negev-Wüste. Oneg erzählt, dass die dort gehaltenen Gefangene gemäss Anordnung der Armee und Zeugenaussagen in Freiluftkäfigen untergebracht sind – gefesselt, mit verbundenen Augen und gezwungen, die meiste Zeit in gebückter Haltung zu verharren. Berichten zufolge führten die Fesseln teils zu schweren Verletzungen, die Amputationen erforderlich machten. Bewegung und Gespräche seien untersagt, Verstösse werden hart bestraft. «Freigelassene schildern ständige Erniedrigungen, physische und psychische Misshandlungen und sexuellen Missbrauch. Mehrfach führten schwere Verletzungen bereits zum Tod von Gefangenen. Hinzu kommen medizinische Vernachlässigung, Mangel an sauberem Wasser, Nahrung und Hygiene. Infektions- und Hautkrankheiten breiten sich aus,» berichtet die Koordinatorin von PHRI.
Tiefpunkt der Medizinethik
Eine weitere einschneidende Änderung ist der Entscheid der israelischen Regierung, dass Häftlinge aus dem Gazastreifen nicht mehr in öffentlichen Krankenhäusern, sondern in Einrichtungen des Strafvollzugsdienstes oder Militärs behandelt werden sollen, auch wenn diese für die notwendige Versorgung nicht ausgestattet sind. Laut PHRI verstossen die neuen Richtlinien des Gesundheitsministeriums gegen medizinische Ethik und missachten grundlegende Prinzipien des Gesundheitswesens. «Von Anfang an wurden die professionellen und ethischen Standards für das Feldlazarett in Sde Teiman herabgesetzt,» erklärt Hadas Ziv, Direktorin für Medizinethik bei PHRI. «Selbst wenn ein Arzt oder eine Ärztin ethisch handeln wollte, ist dies in Sde Teiman nahezu unmöglich – der Druck von Regierung und Kolleg:innen ist zu gross. Deshalb muss das Gefangenenlager geschlossen werden, eine Reform reicht nicht,» fordert sie.
Enttäuscht zeigt sich Hadas über das Schweigen und die Mitschuld der israelischen Ärztekammer. «Wir befinden uns an einem solchen Tiefpunkt der medizinischen Gemeinschaft, dass es lange dauern wird, unsere Ethik wiederherzustellen. Unser Gesundheitssystem ist eng mit dem Sicherheits- und Militärsystem verbunden und wird von einer rechtsextremen Regierung als Werkzeug der Rache missbraucht,» warnt sie.
Jenseits von Sde Teiman
Im Mai forderte PHRI zusammen mit anderen israelischen Menschenrechtsorganisationen vor dem Obersten Gericht die sofortige Schliessung des Lagers Sde Teiman. Im Juli schloss sich die israelische Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara dieser Forderung an. Dennoch setzt sich der israelische Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir weiterhin öffentlich für härtere Haftbedingungen ein, und das Lager bleibt in Betrieb. Oneg bekräftigt: «Nach unserer Beschwerde vor dem Obersten Gericht wurden einige Patient:innen verlegt, doch das bedeutet keine wirkliche Verbesserung. Israel hat bereits neue provisorische Militärstützpunkte und Feldlazarette eröffnet, doch die Bedingungen sind kaum besser. Es braucht eine grundlegende Änderung der israelischen Politik, und das Gerichtssystem darf diese Rechtsverletzungen nicht länger decken. Dafür kämpfen wir bei PHRI!»