Seit über 1000 Tagen im Streik
Ralf Streck. Seit fast drei Jahren befindet sich die Novaltia-Belegschaft im baskischen Biskaya im Ausstand. Den prekären Arbeitsbedingungen soll somit ein Ende gesetzt werden. Es ist ein harter Kampf, doch immer neue Gerichtsurteile stärken den Streikenden den Rücken.
Es ist schwülwarm an diesem Frühlingstag im baskischen Bilbao. Über dem nahen Atlantik türmen sich schon schwarze Wolken auf, die ein Gewitter ankündigen, als die 20 Streikenden am Mittag auf dem Plaza Biribil wie jeden Freitag in der baskischen Metropole zusammenkommen. Auf dem Platz, am Rand der zentralen Einkaufsstrasse, rollen sie ein Transparent aus: «Novaltia-Beschäftigte im Kampf für einen Haustarifvertrag. Stopp prekäre Arbeitsbedingungen», ist darauf in baskischer und spanischer Sprache zu lesen. Seit mehr als 1000 Tagen, am 4.Juni waren es genau 1048, protestieren sie schon. Wie bei ihren täglichen Protesten vor den Apotheken, die die Pharma-Logistikfirma beliefert, trotzen sie nun seit fast drei Jahren auch dem launischen Wetter im Baskenland.
927 Euro im Monat
Im Juli 2019 traten drei Viertel der Beschäftigten in der Produktion Filiale in der Provinz Biskaya in den Streik. «Ich dachte zunächst, das geht nur ein paar Tage», sagt die 30-jährige Helka Fernández dem vorwärts. Ihre Gewerkschaft, die Baskische Arbeiter*innensolidarität (ELA), hatte auch sie vor immer aggressiveren Unternehmer*innen gewarnt und angekündigt, sich «auf einen langen Kampf» einzustellen. ELA hatte im Hinterkopf, dass über mehr als zwei Jahre die Beschäftigten des deutschen Schleifmittelherstellers Pferd-Rüggeberg im baskischen Vitoria-Gasteiz streiken mussten, um willkürliche Kündigungen von zwei schwangeren Frauen rückgängig zu machen. Insgesamt ufern die Streiks hier aus, weil Unternehmer*innen immer unnachgiebiger werden. Der Novaltia-Streik stellt aber alle bisherigen Streik-Rekorde in den Schatten.
Offiziell ist Novaltia eine Kooperative, ein Zusammenschluss von Apotheken, die sich von ihrer Firma beliefern lassen. In der Provinz Biskaya sind es etwa 200. Sie hat als Firma auch Beschäftigte, die nicht der Kooperative angehören. Fernández hat im Lager bis zum Streikbeginn für 927 Euro im Monat Bestellungen zusammengestellt. «Dafür sollte ich sogar noch am Wochenende antreten, auch noch ohne Zuschläge», erklärt die junge Frau empört. Ihr gefällt ihre Arbeit, aber von diesem Lohn kann sie im teuren Bilbao nicht leben. »An Kinder brauche ich erst gar nicht zu denken.»
Das Fass zum Überlaufen gebracht
Die Arbeitsverhältnisse seien mit der Finanzkrise ab 2008 immer prekärer geworden, erklärt Ibai Carranza, der seit langem bei Novaltia arbeitet und für ELA im Betriebsrat sitzt. Auch der 36-jährige Lagerchef streikt, obwohl er einen vergleichsweise guten Lohn erhält. Aber er will einen würdigen Tarifvertrag für alle Beschäftigten erkämpfen. Das zentrale Streikziel sei deshalb, die doppelte Lohnskala abzuschaffen, erklärt die Lagerarbeiterin.
Als schliesslich das Damoklesschwert einer angeblichen Schliessung über Novaltia hing, stimmte eine Belegschaftsmehrheit damals Lohneinschnitten von bis zu 30 Prozent zu. Im Gegenzug musste ein Teil der Arbeiter*innen, die kurz vor der Pensionierung standen, keine Rentennachteile hinnehmen. Akzeptiert wurde ein «Zweiklassensystem», erklärt Carranza. Und: «Neue Beschäftigte erhalten seither viel weniger Lohn für die gleiche Arbeit.» In späteren Tarifverhandlungen stellte sich die Firmenleitung stur. Statt einen Kompromiss zu suchen, zog sie die Schrauben in den Verhandlungen 2018 noch an. Einseitig wechselte sie zum noch schlechteren spanischen Tarifvertrag. Das war seit einer Arbeitsmarktreform der konservativen spanischen Volkspartei (PP) möglich. »Das brachte das Fass zum Überlaufen», sagt der Gewerkschaftskollege Carranza.
Erfolge machen Mut
Der Streik sei «hart», kein Zuckerschlecken. «Von wegen nicht arbeiten, aber weiter Lohn aus der ELA-Streikkasse zu erhalten», meint die junge Fernández. «Ich kann oft nicht schlafen, habe manchmal Depressionen.» Einige hätten den Druck nicht ausgehalten, seien ausgeschieden und hätten sich eine andere Stelle gesucht. Aber es gäbe auch Tage, an denen die junge Frau «jubelnd in die Luft» springt. Das passiert nun öfter. So hat der Oberste Gerichtshof im Baskenland Mitte April die Verlegung von 14 Streikenden in eine stillgelegte Novaltia-Anlage genauso annulliert, wie die Arbeitszeitveränderungen. Die Verlegungen seien «Schikane» und das «Vorspiel für Kündigungen», meint Carranza. Die Streikenden hoffen auf weitere positive Urteile, da Novaltia das Streikrecht über Streikbrecher*innen aushebele. «Wie sonst ist es möglich, alle Lieferungen zu schaffen?», fragt der Betriebsrat. Das sah auch das Sozialgericht in Bilbao in einer Entscheidung so und verurteilte die Kooperative kürzlich zu einer Strafzahlung von 120000 Euro. Eine Stellungnahme war von Novaltia zu den Vorgängen nicht zu erhalten.
Die Streikenden hoffen, wie im Fall der Reinigungskräfte im nahen Guggenheim-Museum, auch Novaltia zum Einlenken zwingen zu können. Im Museum hatten 13 Frauen an 285 Streiktagen eine Lohnerhöhung um 20 Prozent und deutlich verbesserte Arbeitsbedingungen erkämpft. Im Grossraum Bilbao endeten im Frühjahr auch lange Streiks gegen Entlassungen bei Tubacex und bei ITP Aero erfolgreich. Das mache Mut, sagen die Streikenden, die auch eine wachsende Unterstützung in der Bevölkerung bauen.
Soziale Konfrontation…
ELA, 1911 von Christdemokraten gegründet, war in der Franco-Diktatur verboten, in der sie immer weiter nach links rückte. Sie verdrängt hier spanische Gewerkschaften. Sie stellt schon mehr als 40 Prozent aller Betriebsratsmitglieder. Ohne bisherige Erfolge und die ELA-Unterstützung hätte man niemals durchgehalten, ist man sich einig. ELA verlangt höhere Mitgliedsbeiträge, um sich auch lange Streiks bei grösseren Belegschaften wie Tubacex leisten zu können. Die ELA-Strategie setzt mit einer millionenschweren Streikkasse auf die soziale Konfrontation und die Kampfkraft der Beschäftigten. Das sei die einzige Garantie, «um die Unternehmen zur wirklichen Verhandlungen zu zwingen», erklärt der ELA-Chef Mitxel Lakuntza. Mit Streiks wie bei Novaltia soll «der prekären Beschäftigung ein Ende gemacht werden».
…statt leerer Versprechen
Streikkassen sind bei grossen spanischen Gewerkschaften inexistent. CCOO und UGT, aus Staatskassen finanziert, setzen auf Sozialpaktgespräche statt auf soziale Konfrontation. Auch dabei unterscheidet sich das Baskenland klar von Spanien. Im fernen Madrid würden CCOO und UGT ständig Verschlechterungen für alle im Staat hinnehmen, meinen viele im Baskenland. Kürzlich wurde das deutlich, als sie der neuen Arbeitsmarktreform der sozialdemokratischen Regierung zugestimmt haben. Doch die hat, wie Unternehmerverbände erklären, 95 Prozent der konservativen Arbeitsmarktreform konsolidiert. Gefordert und versprochen war dagegen deren vollständige Streichung.