Pushbacks und Geldsegen
dab. Trotz illegalen Zurückweisungen und Menschenrechtsverletzungen wollen Bundesrat und Parlamente den jährlichen Beitrag an die EU-Grenzschutzagentur Frontex um mehr als das Vierfache erhöhen. Das Referendumskomitee verlangt «Bewegungsfreiheit statt Grenzgewalt für alle».
National- und Ständerat sprachen mehr Geld für die Grenzschutzagentur. «Gegen erbitterten Widerstand der Ratslinken» (O-Ton sda) gaben sie grünes Licht für die Erhöhung des jährlichen schweizerischen Beitrags von 14 auf 61 Millionen Franken. Auch mehr Personal soll der Bund laut der neuen Gesetzesvorlage in Zukunft zur Verfügung stellen. Eine Erhöhung des Kontingents für Resettlement-Flüchtlinge, die die Schweiz in Zusammenarbeit mit dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR aufnimmt, auf mindestens 4000 Personen pro Jahr lehnten beide Kammern ab. Die in der Schlussabstimmung angenommene Vorlage enthält auch «humanitäre Ausgleichsmassnahmen» im Asylrecht, die der Ständerat eingebracht hat: Die Rechtsmittel der Asylsuchenden sollen gestärkt und die Unterstützung bei Beschwerdeverfahren ausgeweitet werden.
Viel Kritik an der Agentur
Trotz der ständigen Erweiterung des Mandats und der kontinuierlichen budgetären Aufstockung (von 19 Millionen Euro 2006 auf 460 Millionen Euro 2020) unterstützt Frontex laut des aktuellen Berichts des EU-Rechnungshofs die EU-Mitgliedstaaten nur unzureichend beim Schutz der EU-Aussengrenzen. Der geleistete Beitrag reiche nicht aus, um «illegale Einwanderung und grenzüberschreitende Kriminalität» zu stoppen, heisst es im Bericht zum Zeitraum Ende 2016 bis Anfang 2020. Zudem setze Frontex das Mandat von 2016 nicht vollständig um. Informationen würden nur lückenhaft und uneinheitlich ausgetauscht, Daten für die Analyse von Risiken und Schwachstellen seien weder vollständig noch von guter Qualität.
Frontex steht auch von linker und humanitärer Seite unter Druck wegen vielen illegalen Zurückweisungen von Flüchtlingen in Zusammenarbeit mit nationalen Grenzpolizeien. Dabei geht es vor allem um Migrant*innen, die über die Türkei und Griechenland nach Europa gelangen wollen. Wegen der schleppenden Aufklärung kamen insbesondere aus dem EU-Parlament wiederholt Forderungen nach dem Rücktritt des Frontex-Chefs Fabrice Leggeri. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Borderviolence.eu, Abolishfrontex.org und Front-lex.eu dokumentieren die Schandtaten der Agentur und fordern ihre Abschaffung.
Zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Agentur wurde Ende Mai gegen sie eine Klage wegen Menschenrechtsverletzungen beim Europäischen Gerichtshof eingereicht. «Frontex hat es versäumt, trotz schwerwiegender, systematischer und weit verbreiteter Verletzungen der Grundrechte nach EU-Recht seine Operationen in Griechenland einzustellen», kommentiert die Webseite front-lex.eu.
Vergleich mit US-Mauer
In den Parlamentssdebatten rund um Asylpolitik und EU-Aussengrenzen im Zusammenhang mit Geschäft Nummer 20.064 des Bundesrats wurde heftig diskutiert. Die Ständeräte Daniel Jositsch (SP ZH, Kommissionssprecher) und Olivier Français (FDP/VD) verglichen die Tätigkeit von Frontex an den Schengen-Aussengrenzen mit der US-Mauer gegen Mexiko. Français führte aus, der Besuch einer Delegation der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats (SIK-S) bei Frontex in Griechenland habe die Frage aufgeworfen, wie die Menschen, die tatsächlich Flüchtlinge seien, nach Europa kommen könnten. Finanzminister Ueli Maurer entgegnete, Schengen sei nicht ein Projekt für Asylpolitik, hier gehe es um die Frage der Sicherheit. Die Frage sei die Erhöhung des Schweizer Beitrags: «Es ist unbestritten, dass an allen Grenzen mit Flüchtlingen menschliches Leid entsteht. Es geht aber nicht darum, die Welt zu verbessern, sondern darum, die Sicherheit zu erhöhen.»
Bundesrat Maurer hielt auch im Nationalrat den Kritiker*innen eher scheinheilig entgegen, der Ausbau des Engagements der Schweiz diene neben der Gewährleistung der Sicherheit auch den Grundrechten und der Transparenz. «Europa ist dabei, an den Aussengrenzen eine regelrechte Armee aufzubauen», begründete hingegen Nationalrat Fabien Fivaz (Grüne/NE) den Antrag auf Nichteintreten auf die Vorlage, «Frontex kämpft mit zahlreichen Problemen, Asylgesuche werden nicht korrekt behandelt, Flüchtlinge illegal zurückgeschickt, Stichwort Pushbacks.» Die Grünen scheiterten mit ihrem Antrag ebenso wie die SP mit einem Antrag auf Sistierung des Geschäfts, bis Frontex verschiedene Anpassungen als Reaktion auf Untersuchungsergebnisse des EU-Parlaments zu Grundrechtsverletzungen vorgenommen habe. Die Mitte-Fraktion war sich nicht einig und half mit, das Geschäft anzunehmen. Fraktionssprecherin Ida Glanzmann-Hunkeler (LU) stimmte Ueli Maurer zu und meinte, die Schweiz profitiere von vielen Vorteilen von Schengen: «Die Sicherheit der Schweiz wird unter anderem auch mit der Sicherheit der Schengen-Aussengrenze gewährleistet.»
Noch mehr Zwangsausschaffungen
«Mit diesen 61 Millionen soll Frontex die europäischen Aussengrenzen noch mehr abschotten und europaweit Sonderflüge für Zwangsausschaffungen beschleunigen», schreibt Migrant Solidarity Network (MSN). Die schweizerische NGO sagt ja zur Bewegungsfreiheit für alle, nein zu Geld für Frontex und startet zusammen mit anderen Organisationen das Referendum: Seebrücke Schweiz, Droit de Rester Neuchâtel, Solidarité sans frontières, ExilAktion, Sure*TU, Augenauf Zürich und Bern. Das sind noch nicht alle und es kommen noch mehr neu dazu, siehe www.migrant-solidarity-network.ch. Der Slogan der Kampagne lautet «Bewegungsfreiheit statt Grenzgewalt für alle».