Ostentatives solidarisieren
Gaston Kirsche. In Hamburg begann der Prozess gegen fünf Aktivist:innen, die 2017 bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg verhaftet wurden. Die Hamburger Staatsanwaltschaft versucht verbissen, sie als unpolitische, gewaltgeile Hooligans zu verurteilen.
«Solange auf einen Prozess zu warten, macht was mit dir als Angeklagtem», erklärt Nils Jansen morgens vor dem imposanten Hamburger Strafjustizgebäude. Nils Jansen ist einer von fünf Angeklagten, die sich vor der 12.Strafkammer des Landgerichts Hamburg für die Teilnahme an einer Demonstration am 7.Juli 2017 gegen den G20-Gipfel durch die Strasse Rondenbarg im Hamburger Stadtteil Altona verantworten müssen. 200 Demonstrierende waren hinter einem Transparent «Gegenmacht aufbauen!» mit roten Fahnen auf dem Weg, um die Zugänge zum Tagungsort des G20-Gipfels zu blockieren – eine angekündigte Aktion zivilen Ungehorsams. Die Polizei versuchte, möglichst vielen Blockierenden den Zugang zur Innenstadt zu verwehren. Am Rondenbarg mit massiver Gewaltanwendung, wie Christiane Schneider, damals Abgeordnete der Partei «Die Linke» im Hamburger Stadtparlament, vor drei Jahren rückblickend im Gespräch mit dem Autor feststellte.
Zwei Polizeihundertschaften, eine davon die BFHU Blumberg, eine Einheit spezialisierter Polizeikräfte der Bundespolizei für die Terrorismusbekämpfung, warteten am Rondenbarg. Die Demonstration, so schildert es Christiane Schneider, stiess zuerst auf eine Hundertschaft aus der Polizeikaserne Eutin. «Dann, als sie vor der Konfrontation in den Rondenbarg auswich, auf die berüchtigte BFHU Blumberg. Diese stürmte binnen weniger Sekunden auf die vorderen Reihen des Zuges, zeitgleich rückten von hinten zwei Wasserwerfer und die Eutiner Hundertschaft an – die Falle schnappte zu», so Schneider.
Ein «besonders schwerer Fall»
Die Feuerwehr musste mit dutzenden Krankenwagen anrücken, 14 Schwerverletzte kamen in Krankenhäuser, mit offenen Brüchen, mit gestauchten Halswirbeln. Die Polizei erhob von allen die Personalien und verhaftete 73 Teilnehmende. Einer davon Nils Jansen, der im Gespräch mit dem vorwärts schildert: «Du wirst festgenommen, dann sperren sie dich tagelang ein, kommst raus, fährst nach Hause – und kriegst dann diese Anzeige. Fünf Monate später durchsucht die Polizei deine Wohnung, verwüstet dein Zimmer, dringt in deine Intimsphäre vor. Dann wird dir diese riesige Akte zugestellt, in der steht: Es sind hohe Haftstrafen zu erwarten. Und dieses Ding liegt dann da sechs Jahre rum. Sechs Jahre lang, jedes Mal, wenn du deinen Briefkasten aufmachst, könnte da Post vom Gericht drin sein».
Im August 2023 war es soweit – die Anklageschrift wurde zugestellt. Den Angeklagten werden «gemeinschaftlicher schwerer Landfriedensbruch in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall, versuchte gefährliche Körperverletzung, die Bildung bewaffneter Gruppen und Sachbeschädigung zur Last gelegt», wie die Pressestelle der Hamburgischen Staatsanwaltschaften mitteilte. Der Gerichtssprecher Dr. Kai Wantzen erläuterte in einer Prozesspause am ersten Verhandlungstag im Gerichtsflur routiniert, worauf die Staatsanwaltschaft abzielt: «Der konkrete Vorwurf lautet, die einzelnen Gewalthandlungen, die Steinwürfe vor allen Dingen, dadurch unterstützt zu haben, dass man in geschlossener Formation und vor allem einem einheitlichen äusseren Erscheinungsbild gemeinsam gelaufen ist, um den einzelnen Gewalttätern Schutz und Deckung in der Gruppe zu verschaffen».
Mitgehangen, mitgefangen?
Im Kern geht es um das Konstrukt des sogenannten «ostentativen Mitmarschierens». Am 24.Mai 2017 fällte der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Rechtsstreit um eine Gruppe Hooligans, die sich für eine nichtöffentliche Prügelei verabredet hatten, ein letztinstanzliches Urteil: Die Hooligans seien auch ohne individuelle Gewalthandlungen des Landfriedensbruchs schuldig. Durch das «ostentative Mitmarschieren» in geschlossener Formation zum verabredeten Ort der Prügelei hätten sie psychische Beihilfe zu den Taten geleistet, so das Gericht. 60 bis 100 Personen waren damals in Dreierreihen marschiert. Aber der BGH erklärte auch, dass sich solche Hooligan-Schlachten von Fällen des Demonstrationsrechts unterscheiden, bei denen aus einer Versammlung heraus Gewalttaten begangen werden, die nicht von allen Demoteilnehmenden unterstützt werden. Die Hamburger Staatsanwaltschaft versucht aber verbissen, gegen den G20-Gipfel Demonstrierende als unpolitische, gewaltgeile Hooligans zu verurteilen.
Insgesamt gab es bis zur Eröffnung des jetzigen Rondenbarg-Verfahrens mit Stand 12.Januar 2024 in Hamburg 964 Verfahren gegen 1286 bekannte Beschuldigte Protestteilnehmer:innen im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017, wie der Hamburger Senat auf Anfrage der Fraktion der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft erklärte.
Die 169 Ermittlungsverfahren wegen Polizeigewalt wurden dagegen bis auf drei alle eingestellt – und nur ein Polizist wurde verurteilt, weil er einen anderen Beamten am Finger verletzte, als er ihm sein Pfefferspray abnahm. Die Anwendung von Gewalt durch die Polizei beim G20-Gipfel in Hamburg sei demnach «in den allermeisten Fällen gerechtfertigt» gewesen, erklärte Oberstaatsanwältin Liddy Oechtering im Dezember 2023. Dabei gab es beim G20-Gipfel 2017 etwa 1500 durch Polizeigewalt teilweise schwer verletzte Protestteilnehmer:innen.