Libyen und Europa: Verbrechen gegen die Menschlichkeit
sit. Italien hat einen wegen Mord, Folter und weiterer Verbrechen per internationalem Haftbefehl gesuchten libyschen General gleich nach seiner Verhaftung wieder freigelassen und ausser Land geflogen. Die politische Einflussnahme auf die Justiz stösst auf harsche Kritik.
Osama Elmasry Njeem ist ein libyscher General und Polizeichef. Seit 2016 leitete er den Flügel der Justizpolizei im Mitiga-Gefängnis. Im Jahr 2021 wurde er zum Direktor der Reform- und Rehabilitationsinstitution der Justizpolizei unter dem Justizministerium in Tripolis ernannt. In dieser Position überwachte er mehrere Gefängnisse, darunter Mitiga, Jdeida, Ruwaimi und Ain Zara.
Am 18. Januar 2025 erliess der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag einen Haftbefehl gegen Njeem wegen Mordes, Folter, Vergewaltigung sowie anderer schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Am selben Tag wurde er in Turin festgenommen. Nur wenige Stunden später liess der italienische Geheimdienst den libyschen General und Polizeichef frei und flog ihn mit einem italienischen Staatsflugzeug ausser Land. Grund für die Freilassung sei ein «Verfahrensfehler», erklärten die italienischen Behörden.
Besorgniserregender Trend
«Das Vorgehen Italiens missachtet das Völkerrecht, obwohl das Land Gründungsmitglied des IStGH ist», schreibt das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) in seiner Stellungnahme. Das ECCHR ist eine unabhängige, gemeinnützige Organisation, die sich für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte einsetzt, insbesondere im Bereich der internationalen Strafverfolgung und der Rechenschaftspflicht für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Als Unterzeichnerstaat des sogenannten «Römischen Statuts» ist Italien gemäss Artikel 89 verpflichtet, «dem Ersuchen um Festnahme und Überstellung nachzukommen», erklärt das ECCHR. Und hält weiter fest: «Das Versäumnis, Haftbefehle des IStGH auszuführen, sowie die Erklärung von Staaten, bestehenden Haftbefehlen nicht nachzukommen, sind ein besorgniserregender Trend in Europa, wenn es um die Durchsetzung internationaler Strafverfolgung bei schweren Völkerrechtsverstössen geht.»
Fragile Hoffnung auf Gerechtigkeit zerstört
Vieles deutet darauf hin, dass der Generalstaatsanwalt von Rom nach Rücksprache mit dem italienischen Justizminister dafür gesorgt hat, dass Osama Elmasry Njeem das Land ungehindert verlassen konnte und somit libysche Offizielle vor internationaler Strafverfolgung geschützt werden. «Wir lehnen jede politische Einflussnahme der italienischen Regierung auf die rechtlichen Verfahren zur Auslieferung eines Verdächtigen, der schwerer internationaler Verbrechen beschuldigt wird, entschieden ab», erklärte Andreas Schüller, Leiter des Programms für Internationale Verbrechen und Rechenschaftspflicht des ECCHR. In einem gemeinsamen Schreiben mit anderen Menschenrechtsorganisationen fordert das ECCHR die italienische Regierung auf, diese Ereignisse umgehend aufzuklären.
Chantal Meloni, Rechtsberaterin beim ECCHR und Professorin für internationales Strafrecht an der Universität Mailand, sagt: «Eine vom italienischen Staat vereitelte Untersuchung des IStGH ist inakzeptabel. Es weckt den Verdacht, dass Italien seine Beziehungen zu den libyschen Behörden über die Forderungen nach Gerechtigkeit gestellt hat.» Und sie fügt hinzu: «Die Verbindungen zwischen Italien und dem libyschen Staat wurden sorgfältig analysiert und deuten auf eine mögliche Mitverantwortung der italienischen Behörden hin.»
Und David Yambio, ein Überlebender von Mitiga und Mitbegründer von Refugees in Libya (RiL) erklärt: «Die fragile Hoffnung auf Gerechtigkeit, an der wir alle festgehalten haben, wurde zunichtegemacht.» Er fügt hinzu: «Es ist ein Verrat und eine Komplizenschaft der italienischen Regierung, die Gewalt und Missbrauch in Libyen mit finanziellen Mitteln unterstützt.»
Beweise liegen vor
Seit Jahren arbeitet das ECCHR mit Überlebenden und betroffenen Gemeinschaften zusammen, um Verantwortliche für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Libyen zur Rechenschaft zu ziehen, insbesondere im Zusammenhang mit Verbrechen gegen Geflüchtete und Migrant:innen. In den Jahren 2021 und 2022 reichte das ECCHR umfassende Akten beim IStGH ein. Diese dokumentieren die schwerwiegenden Misshandlungen von Menschen im Mitiga-Haftzentrum nahe Tripolis, das unter dem Kommando von Osama Elmasry Njeem stand. Das ECCHR arbeitet eng mit RiL zusammen, um zusätzliche Beweise und Zeugenaussagen von Überlebenden von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Libyen und im Mittelmeerraum zu sichern.
Menschen, die bei der Überquerung des Mittelmeeres festgehalten und unter Zwang in libysche Haftzentren zurückgebracht werden, sind dort schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. In den Haftzentren werden sie unter unmenschlichen Bedingungen in überfüllten Räumen und mit wenig oder keinem Zugang zu Nahrung, Wasser, Tageslicht, medizinischer Versorgung oder sanitären Einrichtungen festgehalten. Darüber hinaus werden die Migrant:innen auch körperlich ausgebeutet: Während Männer und Jungen häufig zur Zwangsarbeit, auch im Rahmen von Kriegseinsätzen, herangezogen werden, werden Frauen und Mädchen oft zur Prostitution und sexuellen Sklaverei gezwungen. Hinzu kommt, dass Schutzsuchende oft wie Sklav:innen behandelt werden – gekauft, verkauft, auf der Strasse versteigert. Sie werden weiter aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts und ihrer Religion verfolgt.
Wie 85 Prozent der über 3000 von der italienischen Organisation «Medici per Diritti Umani» befragten betroffenen Menschen berichteten, ist Folter in Libyen weit verbreitet. Kurz zusammengefasst: Versklavung, Folter, willkürliche Inhaftierung, sexuelle Gewalt – das sind nur einige der schweren Verbrechen, denen Migrant:innen, Geflüchtete und Asylsuchende in Libyen systematisch ausgesetzt sind.
Strafanzeige eingereicht
«Trotz des Wissens um diese Verbrechen verstärkten viele EU-Akteur:innen ihre Zusammenarbeit mit Libyen. Um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen, haben wir im November 2022 eine Strafanzeige beim IStGH eingereicht», informiert das ECCHR. Sie betrifft 24 Personen, davon 16 hochrangige Entscheidungsträger:innen von EU-Mitgliedstaaten, der EU-Kommission, der EU-Grenzschutzagentur Frontex, des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EESA) und der EU-Militärmission Eunavor Med.
Die Strafanzeige fordert die Einleitung einer Untersuchung über die Verantwortung der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Geflüchtete in Libyen. Sie basiert unter anderem auf Aussagen von Zeug:innen aus erster Hand durch umfangreiche Interviews mit Überlebenden. Anhand von zwölf genannten Vorfällen hebt diese Strafanzeige die entscheidende Rolle von Beamt:innen der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten hervor und analysiert detailliert die mutmasslich schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
«Wir fordern die Anklagebehörde des IStGH dazu auf, die schwere Freiheitsberaubung sowie die in der Strafanzeige genannten Mitverantwortlichen mit ihren Ermittlungen der Verbrechen und Tatverdächtigen in Libyen aufzunehmen», verlangt das ECCHR. Denn das «System der schrecklichen Ausbeutung und des Missbrauchs von Migrant:innen im libyschen Kontext hält weiter an», so das ECCHR. Und es hält zum Schluss fest: «Der IStGH muss endlich die Hauptverantwortlichen libyschen und europäischen Akteur:innen zur Rechenschaft ziehen.»