Krieg im Kopf
Kaus Petrus. Tausende jesidische Frauen* wurden 2014 vom IS verschleppt. Die, die entkommen konnten, leben heute mit ihrem Trauma in den Flüchtlingslagern im Nordirak. Eine Gruppe von Therapeuten, selbst Jesiden, versuchen das Leben der Frauen* neu zu gestalten. Und gehen dabei ganz andere Wege als westliche Hilfsorganisationen.
Mahnmal des Schreckens in einem Flüchtlingslager im Nordirak: Am 3.August 2014 begann der IS den Völkermord an den Jesiden.Und manchmal ist es bloss ein leises Geräusch. Wenn die Zeltplane im Wind auf und ab wiegt, zum Beispiel. Dann schleichen sich Bilder von Fahnen in ihren Kopf, von schwarzen, flatternden Fahnen. Und dieses Flattern wird immer schneller, lauter, härter, als wären es Schläge auf den Rücken oder in ein Gesicht, jemand schreit, keucht, erst ein Mädchen, dann Männer*, die sich auf sie setzen, einer nach dem anderen, und eigentlich ist es dunkel vor ihren Augen und doch kann sie alles sehen, und bis dieses Flattern der Fahnen in ihrem Kopf endlich aufhört, geht es manchmal Minuten, manchmal aber die halbe Nacht.
Ala N. (Name geändert), aufgewachsen in Sinjar unweit der irakischen Stadt Mosul, wurde im August 2014 von Männern* des sogenannt Islamischen Staates verschleppt und vergewaltigt. Monate später gelang ihr die Flucht. Heute lebt die 15-Jährige in einem Camp im Norden Iraks. Ihre Mutter hat sie nie wiedergesehen, den Vater traf sie in einem der Flüchtlingslager, per Zufall. Die Brüder? Ihre Freundinnen aus dem Dorf? Sie weiss es nicht.
Aus Freund wurde Feind
Ala N. ist Jesidin, in den Augen der IS-Schergen eine Ungläubige und Teufelsanbeterin. Nachdem die Islamisten Mosul eroberten, zogen sie am 3.August 2014 nordwärts in die Region Sinjar, wo damals eine halbe Million Jesiden lebten. In der gleichnamigen Hauptstadt trieben die Terroristen die Menschen zusammen wie Schafe, sie trennten Familien, verschleppten Frauen*, massakrierten Männer* und Buben – 10000 waren es an der Zahl. Andere konnten in die umliegenden Berge fliehen. Dort wurden sie vom IS eingekesselt. Bis die Internationale Koalition intervenierte und die kurdische Miliz, die zuvor noch vor dem IS floh, die Eingeschlossenen mit Hilfe von US-Einheiten befreite.
Zuflucht fanden sie in riesigen Flüchtlingslagern im Nordirak rund um die kurdische Stadt Duhok. Bis heute leben dort 300000 Jesiden. An eine Rückkehr denken die wenigsten. Obschon inzwischen vom IS befreit, liegen weite Teile von Sinjar immer noch in Trümmern. Der Wiederaufbau stockt, die irakische Regierung streitet sich mit dem autonomen Kurdistan um die Hoheit der Region. Hinzu kommen Angst und Misstrauen. Arabische Nachbarn der Jesiden schlossen sich damals dem IS an, aus Freund wurde Feind. Auch wenn die Terroristen weg sind, in den Köpfen der Muslime ist der IS geblieben – so sagen es die Jesiden immer wieder. Auch in die Peschmerga, die kurdische Miliz, haben viele das Vertrauen verloren. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung an jenen August 2014, als die kurdischen Kämpfer*innen beim Angriff des IS das Weite suchten und die Jesiden allein zurückliessen.
An IS-Peiniger weiterverkauft
Dieses bestimmte Gefühl, alle hätten sie im Stich gelassen – die irakische Regierung, die kurdische Miliz, die internationale Gemeinschaft, die Kirchen der Welt –, dieses Gefühl ist bei den Jesiden tief verankert. Und nirgends so gegenwärtig wie in Lalish, dem Tempeltal und religiösen Zentrum der Jesiden oberhalb der Stadt Shekhan im Nordosten der Provinz Ninive. Schon vor Jahren hatte der inzwischen verstorbene Baba Sheikh Khurto Hajji Ismail, das geistliche Oberhaupt der Jesiden, verkündet, die vom IS geschändeten und zwangsverheiraten Mädchen und Frauen* hätten von ihren Familien nichts zu befürchten. Ein ungewöhnliches Verdikt, hatte man doch Frauen*, die von nicht jesidischen Männern* berührt wurden, bisher verstossen. Stattdessen ordnete Baba Sheik für die Opfer des IS in Lalish eine Taufzeremonie an, durch die sie erneut in die Gemeinschaft aufgenommen wurden.
Auch Ala N., während ihrer Gefangenschaft an einen IS-Peiniger weiterverkauft und zwangsverheiratet, war in Lalish. Doch bedeutet die symbolische Rückkehr in die Gemeinschaft noch lange nicht die Heimkehr nach Hause oder zumindest an einen Ort, der sich nach Zuhause anfühlt. Zwar ist das Flüchtlingslager, wo Ala N. heute lebt, inzwischen gut ausgestattet; an Hilfsorganisationen, die in den Camps für die Grundversorgung verantwortlich sind – für sanitäre Anlagen etwa oder wetterfeste Zelte –, mangelte es in der Zeit nach dem Völkermord an den Jesiden nicht. Doch ein Dach, fliessend Wasser und Essen sind oft nicht genug, um die Schrecken und Grauen aus dem Kopf zu vertreiben.
Den gesamten Menschen in den Blick nehmen
Gab es in den Lagern vor einigen Jahren noch kaum Psychotherapeuten, ist das jetzt anders. Manche reden sogar von einer «Traumaindustrie», die sich in den Camps ausbreitet. Bewar Safar Ali ist einer dieser Psychotherapeuten. Zu einer «Industrie» würde er sich aber nicht zählen. Die Organisation «Lotus Flower», für die er seit 2018 arbeitet, zählt nur wenige Mitarbeitende. Sie stammen alle aus der Region, die meisten sind selbst Jesiden, sie reden also die Sprache der Menschen, mit denen sie therapeutisch arbeiten, kennen deren Kultur und Religion – und wissen oft aus eigener Erfahrung, was Krieg und Vertreibung bedeuten. Das alles betont Safar Ali, weil es für seinen Ansatz unentbehrlich ist. «Viele Traumata haben Ursachen, über die zu reden aufgrund sozialer oder kultureller Normen fast unmöglich ist: Zum Beispiel Vergewaltigungen. Deshalb müssen wir den gesamten Menschen in den Blick nehmen: nicht nur seine Psyche, sondern auch sein soziales Umfeld.»
Lange bevor Safar Ali und sein Team mit Betroffenen Therapiesitzungen abhalten, gehen sie zu ihnen in die Zelte, machen Hausbesuche, sie reden mit Familie, Freunden und Bekannten und wollen so verhindern, dass eine traumatisierte Person für eine Therapie zu früh aus ihrem gewohnten Umfeld herausgenommen und zusätzlich als «Opfer» stigmatisiert wird.
Kritik kommt nicht überraschend
Obwohl Safar Ali nicht direkt darüber redet und auch keine Namen nennt, ist damit auch eine Kritik an Hilfsorganisationen verbunden, die ihre westliche Auffassung von Traumaarbeit in Kriegsregionen exportieren – eine Auffassung, in der vor allem das Individuum im Zentrum steht und nicht die Gemeinschaft und die mehr auf das Innenleben fokussiert als auf das soziale Umfeld. Diese Vorbehalte sind nicht neu. Schon Ende der 1990er-Jahren wurde in Fachkreisen darüber diskutiert, dass westliche Therapieansätze das Trauma als überwiegend individuelle Erfahrung betrachten und so ein stückweit «entpolitisieren».
Für Udo Rauchfleisch kommt diese Kritik nicht überraschend. Er ist als Psychotherapeut immer wieder in Krisenregionen unterwegs und berät auch die Schweizer Organisation «Khaima», die das Projekt «Lotus Flower» unterstützt. «Wir haben heute ein Wissenschaftsverständnis von hochspezialisierten Disziplinen, die miteinander nicht mehr viel zu tun haben.» Das gelte auch für die Traumatherapie. Sie soll sich, so die gängige Auffassung, primär mit dem Innen- und nicht mit dem Aussenleben eines Menschen befassen. Rauchfleisch kommt diese Trennung suspekt vor. Wie Safar Ali, der übrigens nicht nur Therapeut ist, sondern auch Sozialarbeiter, verfolgt er einen «bi-fokalen Ansatz»: Sowohl das Umfeld einer Person soll berücksichtigt werden als auch deren Psyche. Gerade bei schwer traumatisierten Personen müsse man beim sozialen Umfeld ansetzen, so Rauchfleisch. «Zuerst braucht es im Aussen Stabilität und Sicherheit, und dann kann man sich innerpsychischen Problemen widmen.»
Schweigen, Scham und Entfremdung
Ein Beispiel dafür ist die Traumaarbeit mit jesidischen Männern*, die Safar Ali seit kurzem in einem der Camps durchführt. Wegen des Rollenverständnisses ist unter Männern* die Hemmschwelle, bei therapeutischen Einzelgesprächen teilzunehmen, offenbar besonders hoch; manche schämen sich, andere wollen nicht als schwach gelten. Zudem befürchten Frauen*, die selbst in Therapie sind, dass ihre Männer* ihnen verbieten, weiterhin Safar Alis Team aufzusuchen, wenn sie wissen, dass man sich dort andern Menschen öffnet und über Vertrautes redet. Solange solche Vorbehalte bestehen, seien Einzeltherapien sinnlos, so Safar Ali; im schlimmsten Fall würden sie bloss den Betroffenen und ihrem Umfeld schaden. «Deswegen haben wir beschlossen, zuerst in Gruppen zu arbeiten. So ist es für den Einzelnen einfacher.»
Dass am Ende jeder, der ein schweres Trauma mit sich trägt, alleine bleibt, weiss auch Safar Ali. Schweigen, Scham und Entfremdung seien im Grunde alles normale Reaktionen auf das Unfassbare, das Mädchen wie Ala N. widerfahren ist. «Der Kern des Traumas besteht in der Schwierigkeit, das Erlebte für sich selbst fassbar zu machen, es neu zu sortieren», sagt der 35-Jährige. Was früher war – alles Leben vor dem Trauma –, sei plötzlich nicht mehr da, und was jetzt ist, sei sinnlos. Darin sieht Safar Ali seine wichtigste Aufgabe, wenn er – meist in einem zweiten oder erst dritten Schritt – mit Einzeltherapien beginnt: das Erlebte in eine Geschichte einbetten, die wieder Sinn macht.
Dem Leben neue Gestalt geben
Ein Weg dorthin sind die «Lebenslinien», ein therapeutisches Verfahren, das in Krisengebieten oft eingesetzt wird. «Die traumatisierte Person legt ein Seil auf dem Boden aus, es steht für ihre Lebenslinie. Für schlimme Ereignisse nimmt sie einen Stein und legt ihn auf das Seil, für schöne Erlebnisse platziert sie eine Blume», erklärt Safar Ali. Mit Zetteln werden die so markierten Ereignisse benannt und in eine chronologische Reihenfolge gebracht. Nicht allein das, was ein Mensch an Grauen erlebt, sei erschütternd. Sondern die Tatsache, dass dieses Erlebnis das Leben unterbreche, es in ein Vorher und ein Nachher teile. Manchmal könne eine Lebenslinie aus Seil so wieder verbinden, was gewaltsam getrennt wurde. «Dem Leben eine neue Gestalt geben», nennt Safar Ali das.