Für unsere Sache und nicht für die ihrige!

Friedensdemonstration von jungen Aktivist*innen in Berlin. Bild: zVg

flo. Mit der Verschärfung des Konflikts in der Ukraine stellen sich viele Linke auf die Seite der einen oder anderen Konfliktpartei. Dabei gibt es nur eine Seite, auf die wir uns in diesem Krieg stellen dürfen: die des Proletariats.

Während Millionen ukrainische Zivilist*innen und die Bevölkerung der Donbass-Regionen sowie Soldat*innen der ukrainischen und russischen Streitkräfte im Hagel von Kugeln, Granaten und Bomben ums Überleben kämpfen, wird auch über ihre Köpfe hinweg geschossen. Dieser Krieg, auf den die wirklichen Kombattant*innen keinen Einfluss haben, wird mit Worten geführt, mit Lügen und Kriegshetze – es ist der Krieg um die öffentliche Deutung dieser Invasion. Man müsse die Ukraine «entnazifizieren», sagt Putin. Von ukrainischer Seite heisst es hingegen, dass man Europa, ja gar das gesamte zivilisierte Abendland in diesem Krieg verteidige. Es wird deutlich: Das erste Opfer des Krieges war wie immer die Wahrheit – hüben wie drüben.

Falscher Antiimperialismus
Es ist dieser Tage wieder ein seltsames Phänomen in der europäischen Linken zu beobachten. Ob politische Bankrotteur*innen in den sozialdemokratischen Parteien des Kontinents, die ukrainische Flaggen schwingen und nach völlig entgleister Aufstockung der Rüstungsbudgets rufen. Oder Kommunist*innen, die in der Russischen Föderation nicht die konterrevolutionäre Beerdigung der Sowjetunion, sondern aus irgendeinem Grund ihre Fortsetzung sehen. Fast so, als wäre man bei einem WM-Tippspiel dabei, degradieren sich Linke zu Cheerleader*innen der einen oder anderen Seite. Dabei spart man nicht mit Vergleichen zum Zweiten Weltkrieg. Die historische Situation, mit der wir diesen Konflikt aber vergleichen müssen, ist nicht der grosse vaterländische Krieg. Auch nicht, weil wir glücklicherweise (noch?) nicht in einen globalen Krieg geraten sind. Sondern vor allen Dingen, weil der nächstliegende historische Vergleich aus dem wir Kommunist*innen wirklich Nutzen ziehen könnten, nicht der mit dem Zweiten, sondern mit dem Ersten Weltkrieg ist.
Ebenso wie diese Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts ist dieser Krieg ein imperialistischer Krieg. Er wird nicht geführt im Interesse von Millionen aus den werktätigen Massen, die nach Befreiung vom hitlerfaschistischen Joch schreien. Er wird geführt im Interesse der herrschenden Klasse sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Für die Werktätigen in diesem Krieg gibt es nichts zu gewinnen, als für nationale Grandeur zu schlachten oder geschlachtet zu werden. Der Eindruck sich für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen, ist ein kolossaler Fehler, bei dem im besten Fall die weniger schlimme imperialistische Macht unterstützt wird. Dass die Nato als grösste Kriegstreiberin des 20. und 21.Jahrhunderts nicht diese weniger imperialistische Macht sein kann, liegt auf der Hand. Doch auch wenn die Rolle, welche die Nato politisch und militärisch seit ihrer Gründung spielte, deutlich ist, darf dies nicht als Vorwand herhalten, um sich aus falsch verstandenem Antiimperialismus oder Antiamerikanismus heraus zur Verteidigung Putins aufzumachen. Die Frage nach der schlimmeren Macht, lässt sich mit Lenins Bonmot aus «Was tun?» treffend auf den Punkt bringen: «Beide sind schlimmer.»

Das Ende der Geschichte?
Dabei überlebt eine aus solchen falschen Vorstellungen über den Imperialismus geborene Unterstützung Putins den ersten Feindkontakt mit Lenin kaum. Auch ein zaristisch, wirtschaftlich viel weniger leistungsfähiges Russland, in dem die langsam wachsende Industrie vor allem mit ausländischem Kapital aufgebaut wurde, zählte Lenin zu den imperialistischen Kernmächten. Dies, obwohl es ein Land war, das kaum eine Kopeke an Kapital exportierte (eines der Hauptkriterien in Lenins «Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus» zur Charakterisierung als imperialistisch). Als im Jahr 1991 die Sowjetunion zerfiel, gingen viele davon aus, dass Russland zu einem Ableger des westlichen Imperialismus, ein abhängiges ausgepresstes und imperialistisch unterdrücktes Land würde. Der Politwissenschaftler Francis Fukuyama verkündete im Glauben, dass nun die USA endgültig als imperiale Supermacht gesiegt habe, das Ende der Geschichte. Fast so, als habe die USA nun endgültig den Zugang zu allen Weltmärkten mit dem Rammbock aufgebrochen, wurde eine kapitalistische Zukunft ohne Platz für Alternativen proklamiert. Für die Menschen in Russland bedeutete die Konterrevolution massives Leid. Die russische Wirtschaft sackte um 60 Prozent ab, die Lebenserwartung sank um fünf Jahre. Es grassierten Armut, Misswirtschaft, Arbeits- und Obdachlosigkeit, Alkoholismus. Kurz: Der gesamte kapitalistische Raubbau brach über die russische Bevölkerung herein.

Ideologische Verrenkungen
Russland war in dieser Situation in keiner Weise mehr dazu in der Lage, ehemalige Interessensphären der Sowjetunion zu schützen. Die Nato reagierte mit Militärkampagnen beispielsweise auf dem Balkan. In Boris Jelzin fand der US-Imperialismus einen duldsamen Diener, um ihre Interessen zu schützen. Es sollte sich mit dem neuen Jahrtausend zeigen, dass es nicht möglich sein würde, Russland lange in dieser imperialistischen Umklammerung zu halten. Die Russische Föderation war nicht dasselbe Land, wie das des Zarentums. Unter den Bolschewiki fand eine massive Industrialisierung statt. Mit dieser industriellen Macht und einer grossen Armee im Rücken konnte Russland wieder beginnen, eine eigenständige Rolle zu spielen. Dass Russland, spätestens ab dem Krieg von 2008 in Georgien dazu in der Lage war, dem US-Imperialismus die Stirn zu bieten, mag manchen als Fortschritt erscheinen: Doch den einen imperialistischen Staat durch zwei zu ersetzen, ist für das internationale Proletariat kein Fortschritt. Faktisch begann Russland spätestens ab diesem Zeitpunkt imperial im Interesse seiner Oligarchie zu agieren und trieb die Interessen der Herrschenden auch militärisch in anderen Staaten voran.
Besonders müssen wir aber schönfärberischer Selbstverleugnung eine Absage erteilen. Auf der Basis von symbolhaften Akten (beispielsweise wird wieder bei Paraden die sowjetische Siegesfahne in Russland gezeigt – unter Jelzin undenkbar) oder vom Proletariat erkämpfte oder verteidigte soziale Fortschritte wird eine fortschrittliche Rolle der heutigen Regierung Russlands herbei konstruiert. Wir müssen festhalten: Russland ist ein kapitalistischer Staat. Und wie in jedem einzelnen kapitalistischen Staat dieses grossen Erdenrunds ist die herrschende Klasse zu stürzen.

Keinen Burgfrieden mit den Kapitalist*innen!
Russland ist ein Staat, in dem die Kämpfe der Arbeiter*innenklasse mit Repression beantwortet werden. Als 2018 die Massen auf die Strassen gingen, um gegen die Konterreform der Renten zu kämpfen, wurde dies vom Staat mit Gewalt beantwortet. Insgesamt 1000 Demonstrierende wurden eingesperrt. Als eine Demonstration versuchte, in Richtung Parlament zu marschieren, wurden die Aktivist*innen von der Polizei mit Schlägen, Tritten und Stöcken angegriffen. Damals stand die Kommunistische Partei der Russischen Föderation in der ersten Reihe. Als grösste Oppositionskraft erfüllte sie dort ihre Rolle Konterreformen und Angriffen auf die Errungenschaften des Proletariats konsequent entgegenzutreten. Im Ukrainekrieg tut sie dies leider nicht und stützt die Invasion. Damit vergisst ausgerechnet die Partei, deren Vorgängerin von Lenin mitgegründet wurde, die Linie, die Lenin am Vorabend des Ersten Weltkriegs propagiert hatte: keinen Burgfrieden mit Regierungen der Kapitalisten. Genau dieser Sündenfall hatte die Sozialdemokratie begangen, als das grosse Schlachten in Europa begann: Sie hatte sich in den Dienst der Kriegshetze gestellt und damit die internationale Arbeiter*innenbewegung bis Zimmerwald ein Jahr später zerschlagen. Denken wir die Linie der Zimmerwalder-Linken zu Ende, wird deutlich, dass weder eine Pro-Putin noch eine Pro-Nato-Linie für Kommunist*innen akzeptabel sein kann. Stützen wir die Nato, verteidigen wir einen grausamen Imperialismus, bei dem die Schweiz in erster Reihe mitmischt (Liebknechts Ausspruch vom Hauptfeind im eigenen Land kommt hier zum Tragen). Stützen wir Putin, fallen wir dem russischen Proletariat in den Rücken, indem wir ein bonapartistisches bourgeoises Regime stützen, in dem die Oligarchie Freiheitsrechte abgibt, um die Herrschaft ihrer Klasse durch den starken Mann Putin zu sichern.

Das Proletariat zahlt die Zeche
Die Verweise auf Lenin und auf Liebknecht kommen hier nicht von Ungefähr. Als der grosse Verrat der SPD analog zum Verrat der Sozialdemokrat*innen in Frankreich und dem Vereinigten Königreich im Ersten Weltkrieg stattfand, Kriegskredite gesprochen wurden und Kriegshetze grosse Teile der Linken vergiftete, argumentierten deutsche Sozialdemokrat*innen, dass man es den frechen Russen jetzt zeigen müsse – immerhin sei das Zarenreich ja besonders reaktionär! Man muss sich nicht besonders anstrengen, um in dieser kaputten Argumentation deutliche Parallelen zu heute zu sehen. Doch solcher Sozialchauvinismus, die Rechtfertigung eines brutalen Schlachtens mit der vermeintlichen Rückständigkeit des Feindes, ist pures Gift für jede revolutionäre politische Linie. Sie verstellt den Blick auf den wahren Feind. Lenin argumentierte, dass in einem solchen imperialistischen Krieg für die Werktätigen nichts zu gewinnen ist. Dass der Krieg geführt wird, um die Interessen der Herrschenden voranzutreiben und dass für die menschlichen und ökonomischen Verheerungen durch den Krieg am Ende doch wieder die Prolet*innen die Zeche zahlen müssen. Sich in den Dienst der Sache der Herrschenden und nicht unserer Sache zu stellen, bedeutet in diesem Fall einen unabhängigen Standpunkt der Arbeiter*innenbewegung aufzugeben. Es bedeutet, sich zum Steigbügelhalter einer feindlichen Klasse zu machen.

Kein Krieg zwischen den Völkern
Dabei wird mit jedem Tag, den dieser Krieg dauert, mit jedem menschlichen Leben, das durch ihn unwiederbringlich vom Angesicht der Erde fortgerissen wird, die grosse Aufgabe der Werktätigen der Ukraine und Russlands drängender: Der Sturz Selenskis und Putins, die Umwandlung dieses imperialistischen Krieges, bei dem Russland mit der EU und der Nato und ihrer Stellvertreterin Ukraine um die geopolitische Kontrolle in der Region balgen, in einen revolutionären Krieg. Dieser Krieg wird nicht für die Arbeiter*innen dieser Länder geführt, sie werden aber den grössten Preis dafür zahlen müssen. Sich für Putin oder Selenski stark zu machen, bedeutet den Werktätigen in der Ukraine und Russland in den Rücken zu fallen. Unsere Losung muss aber lauten: Kein Krieg zwischen den Völkern, kein Friede zwischen den Klassen.

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