Fragiler Waffenstillstand
Grégoire Lalieu. Ein Gespräch mit dem französischen-algerischen Sozialwissenschaftler, Dozent und Aktivist Said Bouamama über die Lage im Nahen Osten, die möglichen Zukunftsszenarien und Donald Trump. Bouamama ist unter anderem auch der Autor des «Strategischen Handbuchs für Palästina und den Nahen Osten».
Fünfzehn Monate haben die Vereinigten Staaten Israel bedingungslos unterstützt. Warum drängten sie jetzt auf eine Waffenstillstandsvereinbarung?
Zunächst zeigt diese Vereinbarung, dass die Grossmächte nicht machtlos sind, wenn sie handeln wollen. Wir sehen, dass die Vereinigten Staaten, wenn es in ihrem Interesse liegt, durchaus in der Lage sind, genügend Druck auf Netanyahu auszuüben, damit er einer Vereinbarung zustimmt, die zuvor abgelehnt wurde
Und welche Interessen verfolgen die Vereinigten Staaten mit der Durchsetzung eines Waffenstillstands?
Donald Trump wollte eine Botschaft an eine Reihe internationaler Akteur:innen senden. Durch die palästinensische Frage zeigt er, dass er in der Lage ist, Konflikte zu stoppen oder neu zu entfachen. Zudem kündigt er seine neuen globalen Strategien für andere Verhandlungen an. Ich denke dabei insbesondere an die Ukraine. Donald Trump bestätigt damit, dass der Hauptkonflikt der Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung mit China ist. Das zeigt sich auch an seinen Aussagen über die mögliche Annexion Grönlands und des Panamakanals. Diese Themen stehen im Zusammenhang mit China: die Produktion seltener Erden (Rohstoffe für Hightech-Produkte) in Grönland und der Seehandel über den Panamakanal. Doch Trump muss auch die Entwicklung der öffentlichen Meinung weltweit und insbesondere in den USA berücksichtigen. Der Genozid hat vielen politischen Kräften, die bisher vorsichtig waren, das wahre Gesicht Israels offenbart. Die Mobilisierung von Studierenden auf US-Campussen und die Demonstrationen jüdischer Gemeinschaften sind keine Strohfeuer, die plötzlich verschwinden werden. Trump muss sich auch damit auseinandersetzen.
Was sagt dieses Abkommen über das Verhältnis zwischen Trump und Netanyahu aus?
Wir sollten diese Fragen nicht zu sehr personalisieren. Tatsächlich betrachtet ein Teil der US-Regierung Netanyahu und die von ihm vertretene Strömung mittlerweile als Hindernis für die Stärkung Israels. Dieses Land wurde geschaffen und unterstützt, um den Nahen Osten zu kontrollieren. Das strategische Interesse der USA besteht darin, einen stabilen israelischen Staat zu haben, der die Region befrieden kann. Die während Trumps erster Amtszeit ausgehandelten Abraham-Abkommen folgten dieser Logik, indem sie die Normalisierung der Beziehungen zwischen arabischen Ländern und Israel anstrebten. Doch der Genozid hat die Fähigkeit Israels, die Region zu stabilisieren, delegitimiert. Um Israel aus seiner Isolation zu holen, scheint Netanyahu ein Hindernis in Trumps Strategie zu sein. Ein anderer Teil der US-Regierung hingegen ist der Ansicht, dass Gewalt die einzige Lösung zur Kontrolle des Nahen Ostens sei und es notwendig sei, eine Reihe arabischer Länder, einschliesslich der Verbündeten Washingtons, zu destabilisieren.
Trump bewertet Strategien nach Kosten und Nutzen. Ist die Neugestaltung des Nahen Ostens, die Netanyahu so am Herzen liegt, kein gutes Geschäft für Trump?
Die USA mussten Israel im Falle einer Wiederaufnahme des Konflikts volle Unterstützung garantieren. Gleichzeitig mussten sie Israel jedoch klarmachen, dass es so nicht weitergehen kann. Denn dieses Abkommen verdeutlicht in Wahrheit ein echtes Scheitern Israels. Ähnlich wie das im Libanon ausgehandelte Abkommen. Die Kriegsziele, die sich Netanyahu gesetzt hatte, wurden nicht erreicht. Obwohl geschwächt, ist der Widerstand in Gaza weiterhin sehr präsent. Ein Massenexodus der Palästinenser:innen hat nicht stattgefunden. Und die israelischen Soldat:innen beginnen zu resignieren. Immer mehr von ihnen weigern sich, erneut in den Kampf zu ziehen. Schliesslich zeigen die Reaktionen beider Seiten auf die Ankündigung dieses Waffenstillstandsabkommens recht deutlich, wer der Verlierer ist. In Palästina gab es Jubelszenen. In Israel hingegen wurde das Abkommen weitgehend angefochten. Ein Beweis dafür, dass es Netanyahu aufgezwungen werden musste.
Bewegen wir uns auf nachhaltigere Lösungen zu? Oder bleibt der Status quo bestehen?
Der Status quo wird zweifellos für eine schwer abzuschätzende Zeit aufrechterhalten. Tatsächlich gibt es viele Faktoren, die sogar Israel dazu drängen könnten, den Waffenstillstand zu brechen. Erstens werden die Palästinenser:innen, die den Genozid erlebt haben, nicht auf den Widerstand verzichten – im Gegenteil. Zweitens wird der Druck in Israel durch die Siedler:innen und die extreme Rechte zunehmen, denen versprochen wurde, Hamas und Hisbollah würden ausgerottet. Schliesslich bleibt das regionale Umfeld instabil, insbesondere in Syrien, wo die Kämpfe andauern. All diese Faktoren machen den Waffenstillstand fragil.
Was können die Palästinenser:innen von diesem Waffenstillstandsabkommen erwarten?
Zunächst werden wir ein Szenario erleben, das wir leider allzu gut kennen: Ein erster Schritt, um Wunden zu heilen, zu trauern und wieder aufzubauen. Die Palästinenser:innen werden erneut zeigen, dass sie nicht aufgeben. Denn Wiederaufbau bedeutet auch, zu beweisen, dass das Leben weitergeht. Der Widerstand wird also nicht besiegt sein. Aus einem einfachen Grund: Diejenigen, die diesen Genozid erlebt haben, können nur zu dem Schluss kommen, dass sie Widerstandsorganisationen brauchen. Diese Lektion zieht sich durch jeden nationalen Befreiungskampf. Je stärker die Repression, desto mehr trägt sie dazu bei, die Widerstandsorganisationen zu stärken. Dennoch wird der palästinensische Widerstand eine schwierige Phase durchlaufen. Er wird sich in einem nun viel ungünstigeren regionalen Umfeld neu organisieren müssen, insbesondere angesichts des Wegfalls seines syrischen Verbündeten.
Dieser Krieg wurde auf mehreren Fronten ausserhalb Gazas geführt. Welche Folgen wird der Waffenstillstand für die Region haben?
Die allgemeine Idee, den Nahen Osten neu zu gestalten, ist sicherlich nicht aufgegeben worden. Der Iran bleibt ein Hindernis und ist das nächste Ziel. Seine Destabilisierung würde das regionale Kräfteverhältnis strukturell verändern und jenen, die sich der neuen US-Ordnung widersetzen, kaum noch Möglichkeiten lassen. Es bleibt abzuwarten, wie Trump die Iran-Frage in den kommenden Wochen angehen wird. Wie bereits erwähnt: Er ist ein Geschäftsmann. Er kalkuliert nach Gewinn und Verlust. Alles hängt davon ab, ob die USA es wagen, den Iran in dem Masse zu destabilisieren, wie es das Kräfteverhältnis zulässt, oder ob sie versuchen werden, die Beziehungen zum Iran zu entspannen, um China zu isolieren. Allerdings ist die multipolare Dynamik in Ländern wie dem Iran, Russland und China zu weit fortgeschritten, als dass sie sich trennen könnten. Es ist die Stärke dieser Dynamik, die das Mass der Aggressivität der USA bestimmen wird.
Die Durchsetzung eines Waffenstillstandsabkommens für Israel zeigt zweifellos die Grenzen einer zu aggressiven Strategie auf?
In jedem Fall, welche Gründe Trump auch dazu bewogen haben, dieses Abkommen zu fördern: Der Waffenstillstand wurde vor allem durchgesetzt, weil Israel seine Ziele nicht erreicht hat. Der Widerstand wurde nicht vernichtet, und die Palästinenser:innen haben ihr Land nicht massenhaft verlassen. Da diese beiden Ziele nicht erreicht wurden, werden wir in den kommenden Monaten oder Jahren sicherlich neue Konflikte erleben.
Quelle: Investigation.net