«Es sieht aus wie im Krieg»
Ralf Streck. Vier Wochen nach der schweren Flutkatastrophe herrscht in Teilen der spanischen Region Valencia faktisch noch Ausnahmezustand. Hilfe kommt weiter nur schleppend an. Das Ausmass des tödlichen Versagens der rechten Regionalregierung wird immer deutlicher. Hoffnung für die Menschen vor Ort bringen freiwillige Helfer:innen.
«Es sieht aus wie im Krieg», ist ein viel gesagter Satz hier im südostspanischen Valencia. Wie hier in Catarroja, einer Kleinstadt mit 30000 Einwohner:innen zehn Kilometer von Valencia-Stadt entfernt, türmen sich überall Auto- und Müllberge auf. Einst Teile eines gemütlichen Wohn- oder Schlafzimmers, Mobiliar einer Bar oder eines Geschäfts, sind jetzt braun überzogener Müll, der vor den Häusern darauf wartet, auf die am Rand der Stadt provisorisch eingerichtete Müllhalde gebracht zu werden. Ein fauliger Gestank und eine Staubglocke hängen über dem Gebiet. «Bitte tragen Sie Masken», tönt es aus Lautsprecherwagen, die hier im Katastrophen-Hotspot durch Catarroja fahren. «Trinken Sie nur Wasser aus Flaschen», wird gewarnt.
Auch vier Wochen nachdem das Wetterphänomen «Dana» (Kaltlufttropfen) am 29.Oktober für die unbeschreibliche Zerstörung sorgte, steht zum Teil in Gemeinden noch immer Schlamm in den Strassen. An diesem fatalen Dienstag regneten hier zum Teil mehr als 600 Liter pro Quadratmeter ab. Das ist mehr Niederschlag als sonst in einem Jahr. Alle Rekorde wurden gebrochen, da mit der Klimaerwärmung die Atmosphäre immer mehr Feuchtigkeit eines zu warmen Mittelmeers aufnimmt. Die regnet ab, es kommt sogar zu Tornados, wenn die warme feuchte Luft auf Kaltluft trifft. Riesige Kaltluftgebiete lösen sich wegen der Klimakatastrophe immer öfter vom Nordpol ab und driften in grosser Höhe nach Süden. Kürzlich wurde erneut Dana-Alarm in Valencia ausgelöst. Das Unwetter sorgte dann aber vor allem für Schäden in Andalusien.
«Wir müssen zum Leben zurückfinden»
Von den 220 bisher registrierten Todesopfern in Valencia (223 in ganz Spanien) ertranken in Catarroja 32 Menschen. Die Kleinstadt hat nun wieder Strom, Wasser und Gas, berichtet Anna Piera in der Kirchengemeinde Maria Madre de la Iglesia. Sie kommt zu dem von Freiwilligen errichteten Solidaritätspunkt. Hier trifft man sich, um etwas zu essen, sich auszutauschen, Lebensmittel oder Wasser zu holen. Geschäfte, Bars oder Banken gibt es hier genauso wenig wie funktionstüchtige Autos, um anderswo einzukaufen. Die Polizei sperrt die Zugänge zum Gebiet ab. Strassen sollen angeblich nicht verstopft werden, um die Aufräumarbeiten offizieller Helfer:innen nicht zu behindern. Die glänzen aber vor allem durch Abwesenheit. In Catarroja ist weder Militär noch deren Nothilfeeinheit UME zu sehen. Es sind einige Feuerwehrleute vor Ort und eine Einheit spanisch-portugiesischer Nothelfer:innen. Hier schuften vor allem Freiwillige, die einen zweistündigen Fussmarsch aus Valencia antreten müssen. Sie säubern Geschäfte, Privathäuser und Strassen. Am Solidaritätspunkt hat Piera endlich Gummistiefel bekommen. Die sind gerade mit einem Hilfstransport angekommen, den die Polizei auch abweisen und in eine Zentralstelle in Valencia umleiten wollte. Der Fahrer suchte sich einen Schleichweg durch den Schlamm und wäre fast versunken.
Koordinator für Hilfsdienste in der Kirchengemeinde ist Joan Magraner. Er ist froh über solche Lieferungen, da aus dem Zentrallager nichts ankommt. «Wir verteilen hier Schippen, Besen, Schutzbrillen, Lebensmittel oder Kleidung, die von überall her gespendet werden», berichtet das Flutopfer. Auf dem Platz davor wird von marokkanischen Einwander:innen gekocht. Elena verschenkt Lächeln und Kaffee. «Wir müssen zum Leben zurückfinden, dürfen uns nicht vom Schlamm begraben lassen», sagt sie. Neben ihr hat ein Friseur einen «Salon» aufgebaut und schneidet Haare umsonst. Freiwillige lassen sich auf Kirchenbänken nieder und verspeisen angeliefertes Essen, das in solidarischen Restaurants gekocht wird. Auch psychologische und sanitäre Hilfe wird geleistet. Wunden müssen schnell versorgt werden, da die Gefahr vor Epidemien durch pathogene Bakterien steigt. Der Schlamm ist mit Fäkalien durchsetzt, das Abwassersystem verstopft.
«Ich bin glücklich, ich bin am Leben!»
Die 65-jährige Piera hatte Glück. Ihre Wohnung liegt im ersten Stock. Die fast drei Meter hohe Flutwelle drang nicht ein. «Dass ich noch am Leben bin, verdanke ich einem Busfahrer», erzählt sie. Piera kam von der Arbeit. Der Fahrer sah in einem Kreisel gegen 18.30 Uhr die Welle kommen und bog geistesgegenwärtig in Richtung Ikea-Parkplatz ab. Die Fahrgäste konnten sich ins Obergeschoss des Möbelhauses retten. «Sonst wären auch wir fortgeschwemmt worden», berichtet die Frau. Sie erzählt, wie Beschäftigte und Kunden aus dem Untergeschoss gerettet wurden. Sie bricht in Tränen aus, als sie von verzweifelten Menschen spricht, die vorbei gespült wurden. «Ich habe die letzte Flut 1982 erlebt, aber das war nichts gegenüber dem, was wir jetzt erlitten haben.»
Weniger Glück hatte Susy Alfonso, sagt aber: «Ich bin glücklich, ich bin am Leben!» Sie hat aber fast alles verloren. «Nur durch ein Wunder ist einer meiner beiden Söhne nicht ertrunken», berichtet sie und führt durch ihre leere und freigeschaufelte Parterre-Wohnung. Sie zeigt auf die nasse Wand, das Wasser war bis unter die Decke gestiegen. Alfonso hat weder Kleidung noch einen Herd oder einen Topf, um sich etwas kochen zu können. Wie zehntausende Autos wurde auch der gerade abgezahlte Wagen der Pflegefachfrau als Schrott aufgestapelt. Sie hat ihren Job im überfluteten Altersheim verloren. Als Freiwillige betreut sie nun alte Menschen mit Hausbesuchen dort, wo sie privat untergebracht sind. «Dank der Freiwilligen werden wir alles wieder aufbauen», erklärt sie trotzig. Auch die blonde Frau bricht immer wieder in Tränen aus. Die tödlichen Vorgänge sind noch frisch, für die Verarbeitung blieb bisher keine Zeit.
Schnell wieder zur Normalität finden
Für Hoffnung sorgen bei den Opfern die freiwilligen Helfer:innen. «Ohne die würden wir noch immer Scheisse essen», erklärt Piera unverblümt. Und die junge Carme Aguilar fügt hinzu: «Denen sollte man ein Denkmal setzen, denn sie kommen jeden Tag, um uns zu helfen und sorgen dafür, dass es uns fast an nichts fehlt.» Sie unterstreicht das Engagement von «jungen Menschen». Die Autoritäten, lokal, regional und national, seien ein Totalausfall. Aguilar kann bis heute nicht glauben, dass es keine Warnung gab, obwohl der staatliche Wetterdienst Aemet schon Tage zuvor vor «sintflutartigen Regenfällen» gewarnt hatte. Als die zuständige Regionalregierung Valencias, angeführt vom rechtspopulisten Carlos Mazón, am Katastrophentag Warnungen auf Handys schickte, stand nicht nur Catarroja längst unter Wasser. «Erst gegen 20.30 Uhr kam die SMS an, als die Flutwelle bis an unseren Balkon reichte», empört sich Aguilar. Ihre Familie hatte schon neun Frauen aus der Apotheke unter ihrer Wohnung über «zusammengeknüpfte Bettlaken» gerettet, danach vier Frauen, die aus einer angrenzenden Zahnklinik angeschwemmt wurden. «Sie hatten sich stundenlang an der Apothekentür festgekrallt», berichtet sie über die «schreckliche Szene».
Ein junger Helfer ist der Anwalt Joaquín Rios-Capapé. Er hat mit Freunden aus Valencia zusammengelegt und Dampfstrahler gekauft. Sie helfen nun, wo sie gebraucht werden. «Wir müssen so schnell wie möglich zur Normalität zurückfinden», erklärt er. Und fügt hinzu: «Das Wasser können wir nicht kontrollieren, aber mit Prävention das Schlimmste vermeiden.» Der Anwalt kritisiert, dass über frühzeitige Warnungen viele Tote hätten verhindert werden können. Die Regionalregierung liess aber ganze zwölf Stunden verstreichen, um die SMS-Warnung zu verschicken, nachdem der Wetterdienst Aemet schon am Morgen Alarmstufe Rot gegeben hatte.
«Wieso wurden wir schon um 14 Uhr von der Gemeinde aufgefordert, die Kinder aus den Schulen zu holen, aber alle Geschäfte blieben weiterhin offen?», fragt sich auch der Hilfskoordinator Magraner. Als «verheerend» bezeichnet er das Vorgehen aller Verantwortlichen: «Den ersten Lokalpolizisten haben wir in unserer Strasse sechs Tage nach der Flut gesichtet.» Er müsse ständig zu Polizeisperren mit Feuerwehrleuten fahren, damit dort Hilfslieferungen wie warmes Essen durchgelassen werden.
Beim Essen mit einer Journalistin
Der Anwalt Rios-Capapé war am Samstag nach der Flut auf der Grossdemonstration, um mit weiteren 130’000 Menschen den Rücktritt der Regionalregierung zu fordern und will auch weiter an allen Protesten teilnehmen. Der Hilfskoordinator Magraner hingegen meint: «Das ist jetzt nicht der richtige Augenblick.» Er will zunächst alle Kraft einsetzen, um zur Normalität zurückzukehren. Erst dann müsse es politische Konsequenzen geben. Er befürchtet ein ökonomisches Desaster: «Rechnungen laufen weiter, Hypotheken müssen bezahlt werden.» Läuft der Wiederaufbau nicht schnell an, würden die Folgen fatal sein: «Viele Firmen könnten nie wieder den Betrieb aufnehmen.»
An Rücktritt denkt Regionalpräsident Mazón nicht mehr. Nach anfänglicher Kritik aus seiner Volkspartei (PP) wackelte sein Stuhl zunächst. Doch die postfaschistische PP stützt ihn nun und versucht, die spanische Regierung unter Pedro Sánchez und dessen Sozialdemokraten (PSOE) für die Katastrophe verantwortlich zu machen, obwohl Kompetenzen und administrative Verantwortung in den Händen der Regionalregierung liegen. Seit dem Amtsantritt von Sánchez arbeitet die Rechte und Ultrarechte an dessen Sturz und versucht nun, die Flutkatastrophe dafür zu nutzen. Doch Mazón wurde bei vielen Lügen erwischt. Lange liess er sogar im Dunkeln, wo er sich in den tragischen Stunden aufgehalten hatte. Er hatte um 13 Uhr Entwarnung über soziale Netzwerke gegeben und erklärt, das Unwetter werde um 18 Uhr abziehen. Dann musste Regionalpräsident Mazón aber einräumen, mit einer Journalistin mehr als drei Stunden gegessen zu haben, statt im Krisenstab lebensrettende Entscheidungen zu treffen. Im Krisenstab traf Mazón erst gegen 19.30 Uhr ein, als viele Gemeinden bereits unter Wasser standen.
Regieren ist was anderes
Als Bauernopfer hat Mazón seine Ministerin für Innovation und Tourismus geschasst. Nuria Montes hatte jede Empathie gegenüber Opfern und Angehörigen vermissen lassen. Kurz danach traf es die bisherige Innenministerin Salomé Pradas. Die für Notfälle zuständige Frau hatte eingeräumt, die Existenz des SMS-Warnsystems nicht gekannt zu haben. Die SMS wurden im Krisenstab so lange nicht verschickt, bis Mazón endlich eintraf. Auch hatte der Regionalpräsident lange fast jede Hilfe der Zentralregierung aus Madrid abgelehnt. Ministerpräsident Sánchez hatte ihm noch am Unglückstag Hilfe angeboten. Mazón behauptete aber, alles sei unter Kontrolle. Dass Sánchez nicht den Notstand ausrief, um Mazón das Steuer zu entreissen, schürt hier Wut auch gegen seine Regierung. Sánchez hätte so massiv Militär entsenden können, statt zu warten, bis Mazón dieses tröpfchenweise beantragte. Offenbar will sich Sánchez in der nun fast ausweglosen Situation die Finger nicht verbrennen und scheut die Konfrontation mit der PP. Regieren ist was anderes.