Die Schuldenspirale dreht sich weiter

dom. Auch im Jahr 2024 erreicht die Verschuldung des Globalen Südens neue Rekordwerte. In 45 Staaten fliessen über 15 Prozent der Staatseinnahmen in den ausländischen Schuldendienst. Was bedeutet das für die betroffenen Länder und wo liegen die Ursachen für die kontinuierlich wachsende Schuldenlast?

Die globale Staatsverschuldung beträgt viele tausende Milliarden Dollar und steigt kontinuierlich an. Am stärksten betroffen sind die Länder des Globalen Südens. Eine ganze Reihe von Ländern, darunter Pakistan, Ägypten oder Argentinien, bedient ihre Schulden nur noch mit Notkrediten des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Für die betroffenen Staaten bedeutet diese gewaltige Schuldenlast den vollständigen Abbau sozialer Leistungen, knallharte Austeritätspolitik bis hin zum Staatsbankrott. Sie bedeutet die Ausrichtung der heimischen Produktion auf die Bedürfnisse der kapitalistischen Zentren, die umfassende Unterwerfung der nationalen Politik unter die Interessen des ausländischen Kapitals. Sie bedeutet eine Enteignung der Bäuer:innen, eine Ersetzung gewerkschaftlicher organisierter Industriearbeit durch prekäre Dienstleistungsarbeit – und sie bedeutet die erzwungene Auswanderung von Frauen, die im Ausland bezahlte Reproduktionsarbeit leisten, um ihren Lohn zurückzuschicken.

China in der Kritik
Derweil vermitteln die etablierten westlichen Medien das Bild einer von China ausgelösten Schuldenfalle: «Der internationale Währungsfonds und die westlichen Gläubigerstaaten stecken in der China-Falle», titelt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), «China lähmt die weltweiten Bemühungen um einen Schuldenerlass», meint der «Economist». In der Tat hat China als Gläubiger peripherer Staaten innerhalb der letzten Jahre an Bedeutung gewonnen: Zwischen 2000 und 2021 stieg Chinas Anteil an der global geschuldeten Summe von einem auf 15 Prozent. Allein im Rahmen der neuen Seidenstrassen hat China bis Ende 2021 Kredite und Investitionen im Umfang von vielen hundert Milliarden US-Dollar getätigt. Über deren Charakter lässt sich streiten. So kritisiert etwa das Kieler Institut für Weltwirtschaft, dass chinesische Krisenkredite vor allem an Länder mit mittlerem Einkommen fliessen, während ärmere Länder leer ausgehen, da dort das Kreditausfallrisiko zu hoch sei. Auch die überdurchschnittlich hohe Verzinsung und die kurzen Laufzeiten der chinesischen Kredite sind Gegenstand gängiger Kritik.
Hauptsächlich wird aber deren Intransparenz bemängelt. Weil China seine Kredite weniger an Staaten als an staatlich geführte oder private Unternehmen und Projekte vergibt, tauchen sie in den offiziellen Bilanzen nicht auf. Eine Untersuchung der US-amerikanischen Denkfabrik AidData aus dem Jahr 2021 hat ergeben, dass rund 70 Prozent der Seidenstrassen-Kredite «verdeckt» vergeben werden – Tendenz steigend. Die NZZ meint, dass China damit die finanzielle Situation der Staaten «nach innen und aussen verschleiert». Weder wüssten Kreditgeber:innen um die Bonität der Schuldnerländer, noch seien die Steuerzahler:innen über die eingegangenen Verpflichtungen und eventuellen staatlichen Verbindlichkeiten informiert.

Verstärker, aber kaum Auslöser
Deborah Brautigam, Direktorin der China Africa Research Initiative an der John Hopkins Universität in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland, widerspricht. In einer Universitäts-übergreifenden Studie hat sie bei über 3000 untersuchten Auslandsprojekten mit chinesischer Finanzierung keine Anzeichen für eine Schuldenfallendiplomatie entdeckt. Gemäss UN-BRI-Report vom Juni 2021, sind die neuen Seidenstrassen «eine Säule von Entwicklung, Umweltschutz, Integration und Gerechtigkeit». Die Johns Hopkins University meint: «Chinas Engagement trifft Afrikas Infrastrukturbedürfnisse». Und gemäss australischem Lowy Institute geben chinesische Projekte den peripheren Ökonomien, «was sie brauchen».
Wie dem auch sei: Dass China als aufstrebende Macht sich eine ökonomische Grundlage für seine Hegemonie legt, entspricht der Logik der kapitalistischen Staatenwelt. China die gegenwärtige Schuldenkrise anzulasten, ist aber eher ideologisch motiviert als empirisch belegt. An vielen Stellen springt China als Gläubiger in bereits eskalierende Schuldenspiralen ein und funktioniert somit als deren Verstärker, weniger als deren Auslöser – prominentestes Beispiel ist Sri Lanka.
Den markantesten Wandel in der Gläubigerstruktur stellt aber nicht der Aufstieg Chinas, sondern die Verschiebung von öffentlichen zu privaten Gläubigern dar. Infolge der gescheiterten «Krisenbewältigung» der 1980er-Jahre stellen diese heute mit Abstand die grösste Gläubigergruppe des Globalen Südens dar. Gemäss Financial Times ist ihr Anteil am global geschuldeten Betrag zwischen 2000 und 2021 von zehn auf 50 Prozent gestiegen.

Wohin mit den US-Dollars?
Die bis heute angehäuften Schuldenberge und die Verschiebung des Schwerpunkts der Gläubigerstruktur auf private Gläubiger sind das Ergebnis der gescheiterten neoliberalen Krisenbewältigung der 1970er-Jahre. Als Folge von Überakkumulation fehlte es in den kapitalistischen Zentren ab Mitte der 1960er-Jahre an profitablen Anlagemöglichkeiten. Das anlagesuchende Kapital floss in die Peripherie, das sich dadurch zunehmend verschuldete. Die Menge an US-Dollars, die angelegt werden musste, war riesig, entsprechend tief waren die Zinsen. Mit drei Prozent lagen sie Mitte der 1970er-Jahre unter der globalen Inflationsrate, womit Schuldnerstaaten von einem negativen Realzins profitierten und mehr Geld aufnehmen konnten, als sie zurückzahlen mussten.
Eine Weile lang ging das gut. In Zeiten fixierter Wechselkurse und stark kontrolliertem Kapitalverkehr stellten wachsende Schulden kein Problem dar. Als aber Ende der 1970er-Jahre der damalige Chef der US-Zentralbank Federal Reserve (FED), Paul Volcker, mittels massiver Zinserhöhungen die US-amerikanische Inflation zu bekämpfen versuchte, verteuerte dies die in US-Dollar ausgegebenen Schulden und führte zu einer Schuldenkrise im Globalen Süden: Über 40 Länder mussten Anfang der 1980er-Jahre ihre Zahlungsunfähigkeit erklären.

Schulden werden zu fiktivem Kapital
Also legte der damalige US-Finanzminister Nicholas Brady einen Entschuldungsplan vor, der die Banken vor Verlusten retten und das Abstossen von Kreditverträgen systematisieren sollte. Mit staatlicher Unterstützung wurden die faulen Bankkredite verbrieft. Das heisst: Die Schulden werden handelbar, können weiterverkauft werden, werden zum Spekulationsobjekt und verschwinden damit in den auf kurzfristigen Gewinn ausgerichteten Finanzmärkten. «Waren Schulden vorher klassische Bankkredite, so wurden sie 1989 in fiktives Kapital umgewandelt», erklärt Frauke Banse in «Die strukturelle Unterfinanzierung der Peripherie».
Shaina Potts erklärt in ihrer Arbeit «Deep Finance», wie die staatlich koordinierte Umwandlung der Schulden, obwohl in erster Linie in Lateinamerika angewandt, zum Durchmarsch finanzmarktbasierter Staatsschulden in der gesamten Peripherie beitrug. Weil die Schulden bei veränderter Gewinn- oder Risikosituation einfach weiterverkauft werden können, gehen die Gläubiger mit der Vergabe von Krediten und Investitionen weniger Risiken ein. So werden Kredite an bereits verschuldete Länder tendenziell leichtfertiger vergeben, die Schuldenspirale dreht sich weiter, das Wetten auf Staatshaushalte wird zum Geschäft.

Strukturanpassungsmassnahmen
Die Umsetzung von Bradys Plan hat also die Schuldenkrise nicht nur aufgeschoben, sondern mit der Verbriefung der Kredite auch die Basis für eine weit riskantere Verschuldungsstruktur gelegt. Um ihre Schulden in fiktives Kapital umwandeln zu können, mussten die Schuldnerstaaten zudem ihre Ökonomie entlang neoliberaler Vorgaben umstrukturieren. Zu den Strukturanpassungsmassnahmen (SAP) des IWF gehörte die Ausrichtung der Schuldnerstaaten auf die Exportwirtschaft, was die Einnahme von Devisen voranbringen sollte. Weiter wurde die Öffnung der heimischen Märkte durch den Abbau von Zöllen und die Auflösung von Investitionsregeln erzwungen. Subventionen für die lokale Produktion wurden gestrichen, öffentliche Institutionen privatisiert, der Kapitalverkehr liberalisiert.
Diese teils mit massiver staatlicher Repression durchgesetzte neoliberale Umstrukturierung erhöhte die Abhängigkeit der Peripherie von Importen und stärkte die Rolle ausländischer Investoren. Die Schulden stiegen weiter, weshalb um die Jahrtausendwende im Rahmen des HIPC-Programm (Highly Indebted Poor Countries) 41 hoch verschuldeten Staaten ein Teil ihrer Schulden erlassen wurde. Auch dieser Schuldenerlass war an Umstrukturierungen gebunden. Deren erklärtes Ziel der Armutsbekämpfung wurde verfehlt, stattdessen vertiefte das Programm mit einer weiteren Liberalisierungs- und Privatisierungsoffensive die von den SAP eingeleiteten Prozesse.

Und heute?
Mit den «Krisenbewältigungsstrategien» der 1980er-Jahre wird also seit bald vier Jahrzehnten ein wachsender Schuldenberg vor sich hergeschoben. Während die Schuldenstände schwindelerregende Höhen erreichen, sucht das Kapital noch heute nach profitablen Anlagemöglichkeiten. Die seit 2008 stark abgesenkten Zentralbankzinsen und die lockere Geldpolitik haben da auch nicht weitergeholfen.
Richtig prekär wird die Situation der Schuldnerländer im Globalen Süden aber mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs, den jüngsten Leitzinserhöhungen und den damit steigenden Weltmarktpreisen. Wegen ihrer Importabhängigkeit und weil sich im Zuge der Zinserhöhungen die ausgegebenen Schulden verteuern, steigt ihr Finanzierungsbedarf. Wie schon infolge des Volcker-Schocks fliesst das Kapital heute nach der Zinserhöhung aus dem Globalen Süden ab, weil nun das Geld in den kapitalistischen Zentren wieder gewinnbringend angelegt werden kann. Indermit Gill, Chefökonom der Weltbankgruppe, warnt: «Jedes Quartal, in dem die Zinssätze hoch bleiben, führt dazu, dass mehr Entwicklungsländer in Not geraten – und vor der schwierigen Wahl stehen, ihre Staatsschulden zu bedienen oder in das öffentliche Gesundheitswesen, die Bildung und die Infrastruktur zu investieren».
Infolge des raschen und massiven Kapitalabflusses entwerten sich zudem die heimischen Währungen gegenüber dem US-Dollar und dem Euro, was die Verschuldung weiter vergrössert. Um dem Kapitalabfluss entgegenzuwirken, haben die Zentralbanken der Peripherie ihre Leitzinsen zuletzt massiv erhöht, um ihren nationalen Standort fürs Kapital attraktiv zu gestalten. Aber weil die damit verbundenen Zinszahlungen an die Investor:innen mit öffentlichen Geldern bezahlt werden müssen, wird die Verschuldungsspirale damit nur weiter angetrieben.
All das verdeutlicht die totale Abhängigkeit der Peripherie von den kapitalgetriebenen Prozessen in den Zentren. Schulden sind zum Hebel des Zentrums über die Peripherie geworden, sie disziplinieren die Staaten und extrahieren die Werte aus deren schutzlosen Bevölkerung. Jede Massnahme, die nicht mit dieser Logik bricht, treibt die Peripherie nur tiefer in die Schuldenspirale: Nur ein Schuldenschnitt und eine Neuausrichtung der peripheren Ökonomien auf ihren Eigenbedarf kann dieser Ausbeutung ein Ende setzen.

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