Der Hölle entkommen

Sevin Satan. Nach jahrelanger Folter, die sie erleiden musste, tötete Yasemin in Notwehr ihren Ehemann, um ihr Kind und sich zu schützen. Yasemins Geschichte ist kein Einzelfall. Sie ist jedoch europaweit die erste Frau, die nach einem solchen Vorfall politisches Asyl bekommt. Der vorwärts sprach mit ihr.

Alles begann, als Yasemins Familie beschlossen hatte, es sei für sie an der Zeit zu heiraten. Gleich nach der Verlobung begann der Horror: Sie durfte nicht mehr arbeiten und hatte kaum noch Kontakt zur Aussenwelt. Kurz darauf kam die Hochzeit und mit ihr die häusliche Gewalt. Fast täglich wurde sie geschlagen, psychisch erniedrigt, angekettet, verbrüht, mit dem Messer verletzt und vieles mehr. Diese Qualen musste sie jahrelang erleiden und wegen den Verletzungen immer wieder ins Spital eingeliefert werden. Vergeblich versuchte sie mehrmals, aus dieser Gewaltspirale auszubrechen. Sie wurde aber immer wieder gefunden und mit Zwang zurückgebracht.

Drei Jahre in Untersuchungshaft
Als 2013 ihr Sohn zur Welt kam, war es der glücklichste Moment in ihrem Leben. Ihre Schwiegermutter holte sie zu sich mit dem frischgeborenen Baby. So konnte sie für knapp drei Monate durchatmen, ohne Angst zu haben und Schmerz zu erleiden.
Doch am Abend des 24.Juli 2014 geschah es, als erneut ein Streit eskalierte. Yasemins Ehemann drohte, sie und das Baby umzubringen und sich dann selbst das Leben zu nehmen. Er fing an, Yasemin mit dem Gurt zu schlagen und anschliessend sie zu würgen. Gleichzeitig drückte er mit seinem Fuss auf das Gesicht des noch nicht einmal ein Jahr alten Babys, welches am Boden lag. Yasemin griff darauf nach dem Küchenmesser und stach auf ihren Ehemann ein. Dann nahm sie ihr Kind und rannte nach draussen. Sie lief zu einem Sicherheitsbeamten und bat ihn, er solle die Ambulanz rufen. Im Krankenhaus erlag ihr Mann seinen Verletzungen. Laut Polizeibericht stand Yasemin unter Schock, als die Polizei eintraf. In einer Hand hielt sie das Messer und in der anderen ihr Baby. Sie wurde verhaftet, sass drei Jahre in Untersuchungshaft und wurde dann aber in erster Instanz freigesprochen. Ein Freispruch wegen Notwehr für eine Frau, das war eine Premiere in der Türkei.
Nach der Entlassung wollte ihre Familie sie wieder verheiraten. Auch wurde ihr Sohn wurde von einem unbekannten Täter angegriffen, der mehrmals mit einem harten Gegenstand auf den Kopf des Kindes schlug. Yasemins Sohn musste für 22 Tage ins Spital. Auch der Freispruch hielt nicht lange an. Er wurde durch eine höhere gerichtliche Instanz aufgehoben. Dies mit der Begrünung, Yasemin habe vorsätzlich gehandelt. Darauf hin entschied sie sich, mit ihren Sohn in die Schweiz zu flüchten.

Yasemin, beginnen wir das Gespräch mit deinem Entscheid, in die Schweiz zu flüchten. Wie lief das ab?
Ich hatte viele Anwält*innen, die mich währende meinem Prozess in der Türkei begleiteten. Wir haben die nächsten Schritte immer gemeinsam entschieden. Als ich ihnen mitteilte, dass ich in die Schweiz gehen wolle, um dort einen politischen Asylantrag zu stellen, gingen die Meinungen meiner Anwält*innen auseinander. Sie konnten nicht einschätzen, wie die Schweizer Behörden meinen Fall beurteilen würden. Doch, mir drohte eine lebenslängliche Haftstrafe. Mit diesem Risiko konnte ich nicht leben und die türkischen Behörden hätten mir dann mein Kind weggenommen. Den Kampf in der Türkei weiterzuführen, war für mich und meinen Sohn zu riskant. So stellte ich hier einen Antrag auf politisches Asyl. Im Nachhinein bin ich sehr froh über meinen Entscheid. Ich wurde in der Türkei zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das definitive Urteil steht noch aus, da von der Hälfte der Richter*innen ein Rekurs eingelegt wurde und daher das Oberste Gerichtshof darüber befinden muss. Zum Glück bin ich mit meinem Sohn geflüchtet.

Wie wurde dein Fall hier behandelt?
Meine Anwältin erklärte mir, dass es als Präzedenzfall behandelt worden ist. Mein Fall sei in einem erweiterten Asylverfahren gekommen, da er sehr komplex ist. Laut meiner Anwältin ist es auch das erste Mal in der Schweiz, dass eine Frau, die ihren Ehemann getötet hat, um politisches Asyl ersucht. Doch am 1.April 2021 erhielt ich dann den Anruf, dass mein Gesuch genehmigt wurde und dies innerhalb von knapp einem Jahr. Ich bin unbeschreiblich erleichtert und glücklich. Endlich bin ich angekommen.
Lass uns das Thema wechseln und über Feminismus reden. Wie war vor deiner Gefängniszeit deine Vorstellung von Feminist*innen?
Ich bin konservativ und sehr religiös in einem in sich geschlossenen Familienkreis aufgewachsen. Ein Beispiel: Bei uns assen die Frauen* und die Männer* in separaten Zimmern. Daher sind wir mit dem Bild gross geworden, dass Feminist*innen Frauen* sind, die sich ausziehen, auf ihren Körper etwas draufschreiben und sich dann so auf der Strasse präsentieren, ohne Scham und Religionsverbundenheit. Also Frauen*, die psychisch krank sind. Obwohl ich als Kind keine Ahnung vom Feminismus hatte, merkte ich im Nachhinein, dass ich schon damals feministische Gedanken hegte. So fragte ich mich immer, weshalb wir in unserer Familie die Geschlechtertrennung beim Essen pflegten. Oder warum mein Bruder Velo fahren durfte und ich nicht. Das fand ich schon damals ungerecht und unverständlich. Aber sobald ich Fragen stellte, wurde ich gestoppt. Im Alter von 13 Jahren, wollte meine Familie, dass ich mein Kopf bedecke. Nach langem Widerstand konnte ich mich wenigstens in diesem Punkt durchsetzen. Später bin ich dann mehrmals vor meinem Ehemann in das Frauenhaus und einmal zu meiner Tante geflohen. Doch sie fanden mich und holten mich jedes Mal wieder zurück. Erst jetzt im Nachhinein wird mir bewusst, dass ich eigentlich immer schon gekämpft habe. Ich wurde in diese Strukturen hineingepfercht und versuchte von der Gewaltspirale auszubrechen. Ich hatte Glück!

Du hattest Glück? Das musst du bitte genauer erklären.
Im Gefängnis beschuldigte ich mich immer wieder selbst: Ich habe meinen Mann umgebracht, ich habe jemanden getötet. Damals war ich sehr gläubig und konnte mir das nicht verzeihen. Ich trauerte und war verzweifelt. Ich bekam Medikamente, um mich an den Tatvorgang zu erinnern. Das machte mir Angst und aus Verzweiflung versuchte ich mir, das Leben zu nehmen. Danach wurde ich in die Psychiatrie eingeliefert. Der Arzt leitete sofort eine gerichtsmedizinische Untersuchung ein, um die Narben an meinem ganzen Körper durch die jahrelange Folter zu dokumentieren. Dann, als meine Rechtsanwältin, Frau Meric Eyüboglu, meinen Fall übernahm, änderte sich alles. Das war der Wendepunkt in meinem Leben. Sie war die erste Person, der ich sofort traute. Durch die vielen Gespräche mit ihr realisierte ich, wieviel Glück im Unglück ich gehabt hatte. Ich habe mein Sohn und mich gerettet, wir leben. Meine Anwält*innen machten mir dann klar, dass mein Fall politisch ist. Denn Gewalt an Frauen* sowie Femizide haben mit dem patriarchalen System zu tun. Das lernte ich erst in den drei Jahren im Gefängnis. Zuvor war ich eine Hausfrau, die unzählig viele Kochrezepte kannte. Im Gefängnis lernte ich mehr als an einer Universität, an der ich zwei Abschlüsse gemacht hätte. Es war eine sehr intensive und lehrreiche Zeit für mich. Ich lernte Schach spielen, lernte weiter viel über Frauen*rechte, über mich, über die Politik und die Welt. Ich hatte das Glück, guten Menschen zu begegnen und schloss viele Freundschaften mit Gefängnisinsass*innen, die ich heute noch pflege. Diese Menschen unterstützten mich in dieser schwierigen Zeit.

Kommen wir zurück zur Schweiz. Du wurdest mit deinem Sohn in einem Asylzentrum untergebracht. Wie ist dort das Leben?
Das Leben in den Flüchtlingslagern hier ist hart. Die Menschen, die hierher flüchten, bringen viele Traumas mit sich. Jedoch ist das Personal nicht genug ausgebildet, um den Menschen und ihren Bedürfnissen sowie den traumaspezifischen Problemen gerecht zu werden. Es hat einige unter den Mitarbeiter*innen, die rassistisch sind. Das hat mich sehr schockiert. Daher sollten die Mitarbeiter*innen in den Flüchtlingsunterkünften besser geschult werden und das Leben dieser Flüchtenden nicht noch schwieriger machen, indem sie zum Teil ihre Macht ausüben. Ich erhielt neun Monate lang keinen Deutschkurs, obwohl ich mehrmals darum gebeten hatte. Erst durch meine persönlichen Kontakte habe ich eine eine kirchliche Organisation gefunden, die einmal pro Woche einen Deutschkurs anbietet. Diesen besuche ich regelmässig. Mein Sohn konnte während diesen neun Monaten nicht zur Schule. Im Lager gibt es eine zusammengewürfelte Schule, in der Kinder von fünf bis elf Jahren zusammen lernen, was meines Erachtens nicht wirklich förderlich ist. Die Menschen in den Lagern sind sehr isoliert von der Aussenwelt. Einige Orte haben keine Einkaufsmöglichkeit oder sind zu weit weg. Ich glaube, viele Menschen da draussen sind gar nicht informiert, wie die Bedingungen in den Camps sind. Mein Glück war, viele unterstützende Menschen um mich herum zu haben, die mir immer zur Seite standen. Leider sind viele Menschen in den Camps auf sich allein gestellt mit ihrem Traumas und Ängsten.

Wie fühlst du dich heute, und was sind deine Zukunftspläne?
Momentan bin ich aktiv auf Wohnungssuche und merke dabei, dass ich viel am Lächeln bin. Die Vorstellung, bald mal, so hoffe ich es zumindest, mit meinem Sohn in eine eigene Wohnung einziehen zu dürfen, erfüllt mich mit Freude. Er ist jetzt im Kindergarten und nach den Sommerferien kommt er in die 1.Klasse. Ich werde ein Jahr lang ein Intensivdeutschkurs besuchen. Und wenn alles gut kommt, dann möchte ich eine Ausbildung als Krankenpflegerin beginnen. Ich werde mich sehr anstrengen und will mein Ziel unbedingt erreichen. Wenn ich draussen auf der Strasse bin, grüssen einige Menschen mich mit «Grüezi» oder «Guete Tag». Ich habe angefangen, auch mit «Grüezi» zu antworten. Das gibt mir das Gefühl, gesehen und wahrgenommen zu werden und dies schätze ich sehr. Seit meiner Ankunft hier in der Schweiz habe ich sehr viele Menschen kennen gelernt, darunter auch viele Schweizer*innen. Ich bin durchaus glücklich, diese Freundschaften aufgebaut zu haben. Ich bin mitten im politischen Leben. Und dies erfüllt mich. Ich denke, wir Frauen * sind zusammen stark, das habe ich gelernt. Dass ich mich so entwickeln konnte, erfüllt mich auch mit Freude. Wenn ich zurückblicke, war ich eine eingeschüchterte, ängstliche Person und hatte überhaupt kein Selbstvertrauen. Hier und jetzt kann ich sprechen und fühle mich frei. Mein Sohn und ich können uns frei bewegen. Wir sind in Sicherheit. Ich bin jetzt 31 Jahre alt, doch fühle ich mich, nach all dem, was ich erlebt habe, wie 70. Ich habe den Kampf gewonnen, trage aber sehr viele Wunden mit mir.

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