Das Sterben stoppen

Lioba Junker und Anne Noack. Mehr als 1000 Tote: Das Mittelmeer ist ein Massengrab. Und was tut die Schweiz? Bundes- und Nationalrat lehnen konkrete humanitäre Verbesserungen für Menschen auf der Flucht ab. Aber die Solidarität in der Bevölkerung wächst. Dies auch dank der Arbeit von Organisationen wie Seebrücke Schweiz.

«Das Sterben im Mittelmeer geht weiter. Wenn wir in 30 Jahren gefragt werden, was wir damals getan haben, will ich sagen können: Wir haben nicht aus unserer privilegierten Position heraus zugeschaut. Wir haben gehandelt. Wir haben alles getan, um das Sterben im Mittelmeer, an der Grenze zu Europa oder in Konfliktgebieten zu beenden. Wir haben dafür gekämpft, dass die Menschenwürde für alle gilt, bedingungslos.» So äusserte sich Mattea Meyer, SP-Nationalrätin und Initiantin der Motion «Das Sterben auf dem Mittelmeer beenden», zur Ablehnung des Nationalrats im Dezember 2020. Doch der Reihe nach.
Eingereicht hatte Meyer die Motion im Mai 2019. Sie formulierte vier konkrete Möglichkeiten, wie die Schweiz auf die humanitäre Notsituation auf dem Mittelmeer reagieren kann: Mit dem Aufbau eines europäisch organisierten und finanzierten zivilen Seenotrettungssystems. Mit der Schaffung eines an humanitären und rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierten Verteilmechanismus von Menschen, die aus Seenot gerettet werden. Mit der Unterstützung von Gemeinden, die sich zur Aufnahme geflüchteter Menschen bereit erklären. Und mit ihrem Einsatz für die unverzügliche Freilassung aller internierten Schutzsuchenden in Libyen sowie deren Aufnahme durch ein sogenanntes Resettlement-Programm.

Deutliche Zeichen aus der Bevölkerung
In seiner Stellungnahme vom 21.August 2019 empfahl der Bundesrat die Ablehnung der Motion. In seiner Begründung spricht er davon, dass ja schon Gespräche auf EU-Ebene laufen, die vorhandenen Lösungsvorschläge aber nicht ausreichend seien. Ausserdem leiste man bereits finanzielle Un-terstützung vor Ort. Und: Man nehme ja bereits freiwillig Menschen auf. Abgewimmelt wurde auch der Punkt betreffenden den Gemeinden. Dies sei Sache der Kantone, hielt die Landesregierung lapidar fest. Dies alles ist für die Menschen, die sich bei der Flucht über das Mittelmeer in Lebensgefahr begeben, in keiner Weise hilfreich.
Es verging über ein Jahr, bis die Motion am 9.Dezember 2020 im Nationalrat behandelt wurde. 100 Nationalrät*innen folgten der Empfehlung des Bundesrats zur Ablehnung der Motion. 90 stimmten ihr zu, was beweist, dass die Thematik nicht allen egal ist. Neben der Motion wurde auch die gleichnamige Petition abgelehnt, die ein breites Bündnis an Unterstützer*innen im Januar 2020 mit 25000 Unterschriften eingereicht hatte. Dies zeigt deutlich auf, wie wichtig das Anliegen auch von der Bevölkerung bewertet wird. Unterstützt wurde das Anliegen auch von zahlreichen Städten und Gemeinden, die sich bereits zahlreich zur zusätzlichen Aufnahme bereit erklärt hatten. Doch auf die Forderung der Motion, die Schweiz solle «Gemeinden, die sich bereit erklären, Bootsflüchtlinge aufzunehmen, in geeigneter Form unterstützen», ging der Nationalrat ? wenig überraschend – überhaupt nicht ein.

Zivile Seenotrettung wird aktiv behindert
Auch 2020 war der Weg über das Mittelmeer eine der häufigsten Fluchtrouten nach Europa. Die meisten Schlauch- oder Holzboote starten von Libyen aus. Dort warten die Menschen in menschenunwürdigen Lagern. Viele werden auf der Flucht von der lübischen Küstenwache abgefangen oder geraten in Seenot. Obwohl die Seenotrettung eine staatliche Aufgabe ist, müssen seit Jahren zivile Seenotrettungsorganisationen Menschen vor dem Ertrinken retten. Dabei werden sie auch 2020 von staatlicher Seite zusätzlich behindert und kriminalisiert. Hier einige Beispiele: Schiffe mit geretteten Geflüchteten an Bord wurde die Einfahrt in Häfen verweigert. Dies, obwohl oft Menschen an Bord waren, die dringende medizinische Versorgung benötigen, darunter auch Kinder und schwangere Frauen. Europäische Rettungsleitstellen verweigerten immer wieder die Koordination von Rettungseinsätzen, was zu tagelangen Verzögerungen oder einer ausbleibenden Rettung gesichteter Schiffbrüchiger führte. Durch die Covid-19-Pandemie kamen einige Missionen auf dem Mittelmeer zeitweise vollständig zum Erliegen, da die Einreise der Crews blockiert oder das Auslaufen von Rettungsschiffen untersagt wurden.

Pushback: Zurück in die Lager
Trotzdem konnten im Jahr 2020 insgesamt 3500 Menschen durch acht NGO-Schiffe gerettet werden. Aber bei weitem wurden nicht alle Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer entdeckt. Für das gesamte Jahr 2020 hat die International Organization for Migration (IOM) 1111 Todesfälle im gesamten Mittelmeer und 739 Todesfälle im zentralen Mittelmeer registriert. Doch man geht von einer deutlich höheren Zahl aus. 82704 Menschen haben das europäische Festland erreicht. Mehr als 11000 Menschen wurden 2020 von der libyschen Küstenwache abgefangen und in Gefangenenlager gebracht. Diese Art der Rückführung wird als Pushback bezeichnet und durch die EU und ihre Grenzschutzagentur Frontex unterstützt, die ihrerseits von der Schweiz mitfinanziert wird. Die beteiligten EU-Länder verstossen mit diesen Massnahmen gegen das Völkerrecht.
Und was machte die Schweiz bisher? Während sie sich in keiner Weise aktiv für die Seenotrettung einsetzt, ist zumindest ein Blick auf das Aufnahmeverhalten möglich. Seit 2019 gibt es ein Kontingent für sogenannte «Resettlement-Flüchtlinge» von 800 Personen pro Jahr. 2019 wurde dies nahezu ausgeschöpft. Darunter waren 35 aus Seenot gerettete Menschen. Für 2020 hat die Schweiz wieder das gleiche Kontingent gesprochen. Lange wurde das Programm jedoch aufgrund der Corona-Pandemie pausiert. Viele Städte in der Schweiz sind bereit, ein solches Ankommen zu ermöglichen. Nach dem Brand im Lager Moria auf Lesbos im September 2020 erklärte sich beispielsweise die Stadt Zürich bereit, allein 800 Personen aufzunehmen. Das lässt die Zahlen des Bundes direkt lächerlich gering und weit unter den vorhandenen Möglichkeiten erscheinen.

«Sichere Häfen» schaffen
In der Schweiz engagiert sich die Seebrücke für eine Veränderung der Migrationspolitik. Sie setzt sich auf politischer Ebene und mit Druck von der Strasse für sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung sowie eine menschenwürdige Aufnahme von Personen ein, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind.
In den Städten Basel, Bern, Genf, Luzern und Zürich arbeiten Menschen in Lokalgruppen der Seebrücke zusammen, um ihre Städte zu sogenannten «Sicheren Häfen» zu machen. Städte, die sich zum Sicheren Hafen erklären, sind bereit, mehr Menschen aufzunehmen, als sie laut Verteilschlüssel müssten. Gemeinsam bilden sie eine starke Gegenstimme zur europäischen Abschottungspolitik, die nicht verhindert, dass sich Menschen auf die Flucht begeben. Diese Politik macht die Flucht lediglich gefährlicher und fordert Menschenleben. Als erste Schweizer Stadt wurde die Kampagne in Bern in den Stadtrat getragen. (Siehe dazu vorwärts-Ausgabe vom 20.November 2020). Die Behandlung steht noch aus. «Als Seebrücke schaffen wir Sichere Häfen mitten in Europa. So können sich auch Städte, die nicht geografisch an der Küste liegen, solidarisch erklären. Bern kann hier als erster Sicherer Hafen der Schweiz vorangehen», sagt eine Aktivistin der Lokalgruppe Bern.
Es bleibt weiterhin inakzeptabel, dass die Schweiz dem Sterben an den europäischen Aussengrenzen zusieht.

Die Autorinnen sind in den Lokalgruppen von Seebrücke Bern und Luzern aktiv. Weitere Infos: seebruecke.org

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