«Eine Bewegung des Mittelstands»
Seit Wochen gehen in Israel Zehntausende auf die Strasse, um gegen die schlechten Lebensbedingungen zu protestieren. Welchen Hintergrund haben die jüngsten sozialen Proteste in Israel? Wie gestaltet sich die Wechselwirkung von sozialem Protest, anhaltender Okkupationspraxis Israels und beständiger Kriegsdrohung? Ein Gespräch mit dem bekannten israelischen Historiker und Soziologen Moshe Zuckermann über die aktuellen Proteste in Tel Aviv.
In den letzten Wochen haben sich immer wieder meist junge Menschen in Tel Aviv versammelt.Sie haben gegen soziale Missstände in der israelischen Gesellschaft wie zu hohe Mieten, gestiegene Lebenshaltungskosten allgemein und jugendliche Chancenlosigkeit protestiert. Können Sie erst einmal schildern, was sich genau in Tel Aviv zuträgt und ob diese Proteste etwas qualitativ Neues in der israelischen Protestkultur darstellen?
Es ist eigentlich eine Protestbewegung des israelischen Mittelstands. Sie kommt nicht ganz von unten. Die Bewegung geht nicht aus von den mittelosen und den unterprivilegierten Schichten und Klassen der israelischen Gesellschaft, sondern, wie gesagt, sie geht aus vom Mittelstand, der im Grossen und Ganzen gut verdient. Aber wegen den vollkommen abgebauten israelischen Wohlfahrtsstrukturen, den Privatisierungstendenzen der letzten zehn Jahre und aufgrund der neoliberalen Ausrichtung eines Netanjahu ist der Mittelstand an einen Punkt gelangt, wo er – obwohl er gut verdient – die explodierenden Lebenshaltungskosten nicht mehr aufbringen kann, sich verschuldet. Oder wo die Erwartungen, die er an einen guten Verdienst hat, enttäuscht werden. Was aber ganz lokal, harmlos und minoritär begann, das Zeltaufschlagen in einer zentralen Allee Tel Avivs, hat sich zu einer Massenbewegung ausgeweitet, die bei weitem das übertrifft, was die ursprünglichen Initiatoren dieser Bewegung vor Augen hatten und sie überhaupt erwarten durften. Wenn ich an die Proteste vom 14. August denke, als 350 000 Menschen auf Israels Strassen, vor allem in Tel Aviv, gegangen sind, muss ich konstatieren: Das hatten wir noch nie. Und das lässt mich vermuten, dass es nicht nur um die ökonomischen Belange geht, die jetzt als offizielle Belange verkündet werden. Denn es hat schon Zeiten in Israel gegeben, in denen es den Leuten weit schlechter ging als heute. Obwohl natürlich heute die soziale Kluft und die soziale Diskrepanz so weit auseinander gegangen sind, wie wir sie schon lang nicht mehr hatten. Aber insgesamt war ja die israelische Gesellschaft in vergangenen Epochen viel schlimmer dran. Ich vermute, dass mit dieser Protestbewegung sich etwas ankündigt, das eine Ahnung davon entwickelt, dass Israel sich insgesamt in eine Sackgasse manövriert hat. Diese Ahnung existiert allerdings lediglich im Vorbewussten, es wird nicht deutlich artikuliert. Denn wie in der Wirtschaftspolitik hat man sich vor allem aussenpolitisch in eine Sackgasse katapultiert. Nun wird von Seiten der Protestbewegung dieses Problem jedoch nicht angesprochen, sondern – ganz im Gegenteil – versucht, den Protest «nicht politisch» zu halten.
Wie waren nun die Reaktionen der Protestbewegung nach der Anschlagswelle in Eilat und den darauf folgenden Bombardierungen des Gaza-Streifens rund um den 18. und 19. August?
Wie es eben leider nicht anders zu erwarten war: In dem Moment als die Kanonen dröhnen, schweigen die Musen. In dem Moment haben auch die Protestierenden mehr oder weniger geschwiegen. Das letzte Wochenende (20. und 21. August) hat man einen Schweigemarsch in Tel Aviv gemacht. Da kamen gerade mal 4 000 bis 5 000 Menschen. Diejenigen, die dann dort versammelt waren, waren dann auch alte Bekannte. Es waren eben nur noch diejenigen auf der Strasse, die auch sonst, wenn die Sicherheitsfrage instrumentalisiert wird, nicht aufhören zu protestieren. Aber es blieben eben ein paar Tausend Menschen, was im Vergleich zu den Zahlen der Protestbewegung davor ein steiler Abfall war. Es bleibt die Frage, ob sich die Proteste wieder in Bewegung setzen werden, wenn sich die Situation an den Grenzen abgekühlt hat.
Die Regierung reagierte sehr aufgeschreckt über die Breite der Protestbewegung. Da stellt sich der Protestbewegung die Frage: Was wird passieren, wenn die Regierung, um die Protestbewegung auszuhöhlen, sagt: «Jetzt haben wir ja gesehen, dass die Leute wieder in dem Moment zu braven israelischen Bürgern werden, wenn es an den Grenzen heiss wird, nun dann heizen wir einfach an den Grenzen an.» Das muss nicht unbedingt in einen nächsten Krieg oder in eine nächste Intifada ausarten. Es steht ja im September einiges an, beispielsweise die Proklamation des Palästinenserstaates in der UN. Das könnte dann dazu führen, dass in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes einiges an Bewegungen bei den Palästinensern entsteht. Die israelische Regierung könnte darauf den Sicherheitskräften anordnen, dass diese die entstehenden Unruhen in den Griff kriegen sollen. Und innenpolitisch gibt es Schweigen. Ich will also nicht ausschliessen, dass es unter diesen Gesichtspunkten zu einer Instrumentalisierung dessen, was wir gerade als das Sicherheitsproblem benannt haben, kommen könnte. Und in diesem Fall wäre dann in der Tat abzuwarten, wie dann die Protestbewegung reagiert. Für die aktuelle Situation muss man festhalten: Sie hat sich selbst Schweigen auferlegt.