Wohnen in Winterthur – zwischen Renditeobjekten und Renovationsoffensive

Peter Müller. Trotz vieler Neubauten herrscht in Winterthur akute Wohnungsnot. Günstiger Wohnraum wird abgerissen oder totalsaniert, gebaut und vermietet wird die Stadt für Reiche. Doch in Winti regt sich immer wieder Widerstand gegen die Stadtaufwertung von oben.

Winterthur, das war lange die Arbeiter:innenstadt im Schatten Zürichs. Die Maschinenfabriken der Sulzer und Rieter bestimmten über Jahrzehnte das Tagesgeschehen, so auch die frühe Polizeistunde in den Beizen und den Wohnungsmarkt. Und die «Patrons» der Industriekonzerne übernahmen auch gleich den Bau von Wohnungen für jene, die in ihren Fabriken schufteten. Nicht etwa, weil die Industriellen so selbstlos waren, sondern, weil sie so einen Teil der ausbezahlten Löhne wieder in die Firma zurückführen und die Abhängigkeit ihrer Belegschaft erhöhen konnten. Die Stadt Winterthur musste und wollte deshalb selbst kaum Wohnungsbau betreiben. Sie überliess diesen der Industrie, Privatpersonen und in bescheidenem Masse den Genossenschaften. Das zeigt sich bis heute in den Besitzverhältnissen: Die Stadt Winterthur besitzt gerade mal rund zwei Prozent der Mietwohnungen, in Basel ist der Anteil doppelt, in Zürich, Bern und Lausanne rund dreimal so hoch. Auch der Anteil an Genossenschaftswohnungen ist in Winterthur im Vergleich mit anderen Städten mit 14 Prozent eher gering.

Wohnraum als Finanzanlage
Mit dem Zusammenbruch der lokalen Schwerindustrie im Zuge der Kapitalüberproduktionskrise stand Winterthur ab Mitte der 1980er-Jahre dann vor massiven Problemen, die Wohnbaupolitik veränderte das aber nicht. Im Gegenteil: Die Stadt begann unter der Regie des damaligen SP-Stadtpräsidenten Ernst Wohlwend eine Politik des aggressiven Standortmarketings zu betreiben. Ziel war es, sogenannt «gute Steuerzahler:innen» anzulocken, die dann die neu ausgerichtete «Bildungs- und Kulturstadt» finanzieren sollten. So wurden auf dem Sulzerareal Stadtmitte Lofts für Gutverdienende hochgezogen und das Volkshaus beim Bahnhof wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geschliffen und durch die protzigen «Archhöfe» ersetzt.
Wirklich erfolgreich war dies jedoch nicht. Angelockt wurden dadurch nämlich kaum die gewünschten, richtig guten Steuerzahler:innen, wie die Stadt in einer Untersuchung einst selbst feststellte, dafür zahlreiche Pensionskassen, Versicherungen, Immobilienfonds und Bauriesen wie Implenia auf der Suche nach Finanzanlagen im Immobilienbereich. Diese grossen Konzerne haben mit der Verschärfung der Krise des Kapitalismus zunehmend Mühe, profitable Anlagemöglichkeiten zu finden. Sie stürzen sich deshalb bevorzugt auf die Immobilienbranche, die stabile und vergleichsweise hohe Renditen verspricht – mit durchschnittlich 6,24 Prozent Rendite zwischen 2009 und 2021 gehören Immobilien laut UBS sogar zu den rentabelsten Finanzanlagen. Mit diesen Investitionen und der Aufwertung ganzer Stadtteile wird die Situation dann zusätzlich angefeuert und die Mietpreise steigen weiter. Die Neubauten der grossen «Entwicklungsgebiete» in Neuhegi, Wülflingen und in den letzten Industriebrachen in Töss sind fast alle fest in der Hand von Pensionskassen und Versicherungen. Gebaut werden seit einigen Jahren vornehmlich kleine Wohnungen im «gehobenen Preissegment», weil damit die Rendite maximiert werden kann. Und die hohen Mieten in diesen Überbauungen erhöhen mittelfristig auch die Mieten in der Nachbarschaft. Dies, weil andere Vermieter:innen bei Neuvermietungen die Miete mit Verweis auf die «Quartierüblichkeit» erhöhen dürfen oder das neue, «aufgewertete» Umfeld zu weiteren Sanierungen oder Neubauten führt.

Die Winterthurer Besonderheit
Es wundert also nicht, dass die Mieten in Winterthur allein von 2017 bis heute um rund acht Prozent gestiegen sind. Obwohl seit 2003 rund 20000 Wohnungen neu gebaut wurden, standen Anfang Juni 2024 in Winterthur gerade mal 83 Wohnungen leer, das entspricht der tiefen Leerstandziffer von 0,14 Prozent im Verhältnis zum Bestand.
Zur aktuellen Misere, in Winterthur eine bezahlbare Wohnung zu finden, trägt aber auch eine Winterthurer Besonderheit bei: Die Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG) des verstorbenen Bruno Stefanini besitzt neben tonnenweise Kunst und Krempel rund 1700 Wohnungen in Winterthur. Die meisten dieser Wohnungen wurden über Jahrzehnte kaum durch die SKKG unterhalten, waren dafür aber vergleichsweise günstig. Nach dem Tod von Bruno Stefanini im Jahr 2018 hat sich das allerdings verändert. Seine Tochter Bettina Stefanini, die heute als Stiftungsdirektorin waltet, hat der Stadt eine «Renovationsoffensive» versprochen. Rund eine Milliarde Franken will die SKKG im nächsten Jahrzehnt in die Sanierung und den Neubau von Wohnungen in Winterthur investieren. Geld, das die SKKG mit Mieterhöhungen nach den Renovationen wieder einnehmen will. Unter den Teppich gewischt wird dabei, dass eine Vermieterin von Wohnraum eigentlich stets einen Teil der Mieteinnahmen als Rückstellung für zukünftige Renovationen zur Seite legen muss. Im Fall der SKKG flossen zwar über die Jahrzehnte Millionen Franken Miete in deren Kasse, das Geld wurde aber vor allem für die Sammelwut von Bruno Stefanini abgezweigt. Die notwendigen Unterhaltsarbeiten wurden zudem häufig von den Bewohner:innen selbst finanziert.

«Behutsame Entwicklung» heisst Vertreibung
In der Winterthurer Altstadt ist dieser Prozess schon zu weiten Teilen umgesetzt, die Mieten in den sanierten Häusern sind bis auf wenige Fälle massiv gestiegen, teils auf das Dreifache. Nun nimmt sich die SKKG auch die zahlreichen Mehrfamilienhäuser in den Aussenquartieren vor und setzt teilweise auf Abriss und Neubauten. So sollen die mehrheitlich von Sozialhilfebezüger:innen und Leuten mit sehr geringem Einkommen bewohnten und verlotterten Wohnblocks an der Zypressenstrasse in Wülflingen abgerissen und durch eine «nachhaltige, ökologische» Neubausiedlung ersetzt werden. Sämtlichen Mieter:innen wird gekündigt. Und anders, als die SKKG es stets beteuert, wird kein vergleichbares Ersatzobjekt angeboten.
Dass die SKKG gerade am Rand des Quartiers Wülflingen ein solches Projekt durchzieht, steht ganz im Einklang mit den Stadtentwicklungszielen des Winterthurer Stadtrats. Im Leitbild «Räumliche Entwicklungsperspektiven Winterthur 2040», herausgegeben im Herbst 2021, werden hauptsächlich zwei Äste für den «Ausbau des urbanen Profils» der Stadt formuliert: Einerseits die Entwicklung bisheriger Industriebrachen das ehemalige Sulzer-Areal Oberwinterthur (heute Neuhegi-Grüze genannt) oder auf dem Rieter-Areal im Stadtteil Töss, anderseits die «behutsame Entwicklung» von «Wohngebieten mit Erneuerungspotential». Eine Karte verdeutlicht, welche Quartiere und Siedlungen damit gemeint sind: Betroffen werden die Mieter:innen der bisher günstigen Wohnungen am Stadtrand in Wülflingen, Oberwinterthur und am Rosenberg sein. Also da, wo es besonders viele «Stefanini-Blöcke» aus den 1960er-Jahren gibt.
Im Einklang mit der städtischen Vertreibungspolitik steht auch der angekündigte Umgang mit den sieben selbstverwalteten Häusern in und um Winterthur, die alle im Besitz der SKKG sind: ab 2025 sollen drei selbstverwaltete Häuser in der Stadt geräumt, abgerissen oder saniert werden. Es sind dies jene Häuser, die am längsten von den Bewohner:innen instand gesetzt und bewohnt werden: die General-Guisanstrasse seit 1997, die Schaffhauserstrasse seit 2003 und die Zürcherstrasse seit 2004. Inmitten einer akuten Wohnungsnot sollen also viele Leute, die wenig haben, obdachlos gemacht und günstiger Wohnraum zerstört werden. Als Kuhhandel will die SKKG vier Häusern «mittel- bis langfristige» Verträge vorlegen, zwei davon in der Landwirtschaftszone ausserhalb der Stadt, also wenig renditeträchtig. Bisher waren die Verträge, die die SKKG vorschlug, einzig repressiv und nie langfristig. Es besteht also weiterhin Unklarheit, was den vier vorerst verschonten Häuser wirklich blüht, sollte die SKKG diese Pläne umsetzen können.

Ein Tropfen auf dem heissen Stein
Die über Jahre «rot-grün» dominierte Stadtpolitik gibt aber nicht nur die Rahmenbedingungen an die privaten Immobilien-Besitzer:innen durch, sie legt auch selbst Hand an: Auf dem ehemaligen Polizeiareal am Obertor forcierte sie über Jahre den Bau eines Wellness-Tempels, um die obere Altstadt aufzuwerten. Im Rosenberg-Quartier plant sie die Umgestaltung des Campings Schützenweiher, wo Leute bisher noch günstig eine Bleibe in ihrem Wohnwagen fanden. Und bei jeder Erhöhung des Referenzzinssatzes erhöht die Stadt die Mieten ihrer eigenen Wohnungen um das Maximum.
An der städtischen Wohnbaupolitik dürfte also auch die kommunale SP-Initiative «Wohnen für alle», die am 24.November zusammen mit zwei Gegenvorschlägen zur Abstimmung kommt, wenig ändern. Die Initiative fordert, dass der Anteil an gemeinnützigen Wohnungen in den nächsten 20 Jahren auf 25 Prozent gesteigert wird und will der Stadt mehr Handlungsspielraum für Vorschriften in Bezug auf preisgünstige Wohnungen bei Neubauten verschaffen. Angesichts der Mietpreise in den kürzlich erstellten genossenschaftlichen Neubauten wird aber deutlich, dass diese das Problem für Leute mit geringen Einkommen nicht lösen können. Und es ist mehr als fraglich, ob die Stadt einen grösseren Handlungsspielraum auch tatsächlich nutzen würde. Nachdem die Sozialdemokratie in Winti über Jahre aktiv die profitorientierte Stadtaufwertung vorangetrieben hat, ist ihre Initiative also bloss der berühmte Tropfen auf den heissen Stein.

Widerstand gegen die Stadt der Reichen
In Winterthur gibt es aber nicht nur die Kontinuität des Einhergehens von Kapital und Stadtpolitik, es gibt über die letzten Jahrzehnte auch eine Kontinuität des Widerstands gegen die Stadtaufwertung von oben. In den 1980er- und 1990er-Jahren gab es viele Hausbesetzungen in der Stadt, 2004 wurde die Kritik an der Stadtentwicklungspolitik mit der Besetzung des Sulzer-Hochhauses auf den Punkt gebracht. Es folgten weitere Besetzungen und «Sauvagen» in Industriebrachen und leer stehenden Wohnhäusern. 2013 wurde eine geplante «Tanzdemo» mit dem passenden Namen «StandortFUCKtor» brutal von der Polizei eingemacht, die anschliessenden juristischen Auseinandersetzungen konnten von der Bewegung aber offensiv zur Verdeutlichung der Kritik genutzt werden. Ende Mai 2023 luden verschiedene Betroffene der Sanierungs- und Räumungspolitik zusammen mit antikapitalistischen Gruppen zu einem überregionalen «Treffen gegen die Stadt der Reichen» in Winterthur ein. Und am 2.November 2024 steht mit der Wohndemo in Winterthur die nächste Mobilisierung gegen die herrschende Wohnkrise und für eine Stadt für alle an. Wieso diese Demo und der Winterthurer Ausdruck der Wohnungsnot auch Leute aus anderen Städten und insbesondere Stadtzürcher:innen interessieren sollte, zeigt ein Blick in die Statistik: Gerade in den letzten Jahren ziehen deutlich mehr Menschen aus der Stadt Zürich nach Winterthur als umgekehrt.

Der Autor ist aktiv im Antikapitalistischen Bündnis Winterthur

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