Stahlwerk Gerlafingen muss bleiben!
sit. Der grösste Recycling-Stahlproduzent der Schweiz hat die nächste Welle von Massenentlassungen angekündigt und steht vor dem definitiven Aus. Eine Lösung gäbe es, und die liegt in den Händen der politischen Verantwortlichen.
«Wir glauben an diesen Standort und wollen das wunderbare Erbe aus 200 Jahren Stahlproduktion hier auch für die Zukunft sichern», so Antonio Beltrame, Präsident der italienischen AFV Beltrame Group, der Besitzerin des Stahlwerks Gerlafingen im Kanton Solothurn, im Frühling 2023. Ein paar Monate später, am 13.Oktober dieses Jahrs, erklärt derselbe Antonio Beltrame der «NZZ am Sonntag»: «Ich bin Unternehmer. Ich kann nicht jeden Tag Geld verlieren.» Zwischen den beiden Aussagen des italienischen Industriellen liegen die Kündigungen von 59 Arbeiter:innen sowie die Bekanntgabe von weiteren 120 Entlassungen. Das Werk baut damit innerhalb eines Jahrs ein Drittel aller Stellen ab. Und da sich der Multimillionär Beltrame keine Verluste leisten kann, fügt er hinzu, dass «die Stilllegung des Werks nicht auszuschliessen» sei.
Systemrelevant und umweltschonend
Stahl Gerlafingen feierte 2023 sein 200-jähriges Bestehen. Um diesen historischen Anlass gebührend zu feiern, wurde die Broschüre mit dem Titel «200 Jahre im Dienste der Schweiz» gedruckt. Darin ist zu lesen, dass die rund 560 Arbeiter:innen «im ununterbrochenen Vierschicht-Betrieb über 720000 Tonnen Stahlprodukte» jährlich produzieren. Als der grösste «Recycling-Stahlproduzent der Schweiz» trage das Unternehmen «einen wichtigen Teil zur Realisierung der zukunftsgerichteten Kreislaufwirtschaft in unserem Land» bei. Und man erfährt: «Die Schweizer Stahlproduktion hat Zukunft und ist systemrelevant für eine aktive und umweltschonende Kreislaufwirtschaft des Sekundärrohstoffes Schrott in der Schweiz und dem benachbarten Ausland.» Eine rosige Zukunft wird vorgelogen.
Vorgestellt wird auch die Besitzerin des Stahlwerks Gerlafingen, die AFV Beltrame Group mit Sitz in Vicenza, im Nordosten Italiens, die das Werk in Gerlafingen 2010 definitiv übernommen hat. 1896 gegründet, ist die AFV Beltrame Group weiterhin fest im Besitze der Gründerfamilie Beltrame. Sie besitzt heute sieben Werke und beschäftigt über 3000 Mitarbeitende in Italien, Frankreich, Rumänien und der Schweiz. Pro Jahr vermarktet das Unternehmen über zwei Millionen Tonnen Walzprodukte und erzielt einen Umsatz von rund 2,2 Milliarden Euro. Stahl Gerlafingen trägt dabei rund 30 Prozent zur Gesamtproduktion der AFV Beltrame Group bei.
Die Arbeiter:innen angelogen
Zu den «Kernwerten» der Familie Beltrame und somit auch des Unternehmens, die «auch in Zukunft gelebt werden und sichtbar bleiben sollen», gehören angeblich: «Soziale Verantwortung gegenüber den Mitarbeitenden wie Gesundheit und Sicherheit (…), sowie das langfristige Bekenntnis zu den Standorten der Werke.» Wie sich wohl die entlassenen Arbeiter:innen fühlen, wenn sie diese Zeilen in der Geburtstagsbroschüre wieder lesen, die sie von der Familie Beltrame geschenkt bekommen haben?
Und, wie sind die Massentlassungen und die damit verbundenen Schicksale der betroffenen Arbeiter:innen und ihrer Familien mit den «Kernwerten» des Beltrame-Clans zu vereinbaren? Es gehe darum, erklärte Alain Creteur, CEO Stahl Gerlafingen, in verschiedenen Medienberichten, mit den 120 Kündigungen die restlichen Arbeitsplätze zu schützen. Mit dieser «Erklärung» sendet der CEO zwischen den Zeilen viel mehr eine deutliche Botschaft an die «restlichen Arbeitsplätze», und die lautet: Falls ihr euch überlegt, zu streiken, denkt dran, dass eure Arbeitsplätze auch in Gefahr sind. In der Broschüre zum 200-jährigen Geburtstag schreibt Creteur: «Unser Werk im Kanton Solothurn ist zu einem unverzichtbaren Teil unserer Gruppe geworden. (…) Innerhalb unserer Gruppe ist Stahl Gerlafingen das umweltfreundlichste Werk. Es setzt Standards, um die wir weltweit schon bald beneidet werden.» Heute steht das «unverzichtbare Teil» vor dem Aus. Offenbar gehört Verlogenheit auch zu den «Kernwerten» der AFV Beltrame Group.
«Die Zukunft bleibt ein Rätsel»
Bei den Arbeiter:innen des Stahlwerks in Gerlafingen ist die Angst über ihre Zukunft natürlich gross. Sören Kaiser (24), stellvertretender Leiter Zentrallager, erklärt der Gewerkschaftszeitung work: «Von der Entlassung per se war ich nicht überrascht, aber von der Menge. Ich sorge mich sehr um mein Team, gerade um Ältere oder jene ohne Ausbildung.» Seine Kollegin Ramona Graf (27), Teamleiterin Kran-Instandhaltung, sagt: «Diese Entlassungswelle ist für mein Team fatal. Ich muss jetzt schon mit meinen verbliebenen Leuten jonglieren, damit wir die Schichten decken können. Verliere ich noch eine Person, kann mein Team die Arbeit nicht mehr stemmen.»
Der 51-jährige Tageskoordinator Markus Pfander arbeitet seit 31 Jahren im Betrieb. Er hält gegenüber work fest: «Die Belegschaft tappt komplett im Dunkeln. Die Geschäftsleitung muss endlich Klartext mit uns sprechen.» Heinz Niederhauser (55), Leiter Produktionsplan, drückt seine Sorge aus, in seinem Alter die Arbeit zu verlieren, denn «die Produktion muss theoretisch nicht in Gerlafingen geplant werden.» Silvio Beck (41), Leiter Umwelt, nennt die fachliche Perspektive: «Eine Schliessung hätte zur Folge, dass wir Stahl importieren müssten. Der CO?-Ausstoss würde für Stahl massiv steigen. Aus ökologischer Sicht wäre das ein krasser Rückschritt.» Die ganze traurige Situation in Gerlafingen bringt der 53-jährige Logistiker Ifeanyi Ezeh so auf den Punkt: «Diese Entlassungen sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Zukunft bleibt auch dann ein Rätsel.»
Welche Perspektiven gibt es?
Ein Rätsel, das länger keins bleiben darf. Die Gewerkschaft Unia hat gemeinsam mit der Angestellten- und der Betriebskommission und anderen Arbeitnehmerorganisationen die Petition «Stahl Gerlafingen muss bleiben!» lanciert. Gefordert werden «politische Massnahmen zur Rettung des Recycling-Betriebs und dem Erhalt der Arbeitsplätze.» Konkret verbindliche Vorgaben für die Verwendung von emissionsarmem Recycling-Stahl im öffentlichen Beschaffungswesen und in der gesamten Schweizer Bauwirtschaft. Und von der Beltrame-Gruppe «den Verzicht auf Entlassungen». Stattdessen sollen die Arbeiter:innen in Kurzarbeit weiterbeschäftigt werden.
Selbst der Kampf für heisses Wasser für den Tee in der Kantine sei Klassenkampf, lehrt Lenin. Umso mehr ist es eine Petition für den Erhalt der Arbeitsplätze. Die Frage bleibt aber: Welche Perspektiven gibt es für das Stahlwerk in Gerlafingen? Weiter wie bisher mit den gleichen Besitzern? Antonio Beltrame schreit nach «besseren Rahmenbedingungen». Konkret: Er will weniger Steuern und Abgaben bezahlen. Bekommt er heute, was er will, wird er trotzdem spätestens in fünf Jahren wieder an den Türen der politischen Verantwortlichen klopfen und verkünden: Wenn ihr Arbeitsplätze retten wollt, brauche ich bessere Rahmenbedingungen. Neue Investor:innen finden? Die würden gleich handeln wie Beltrame, weil Unternehmen es sich nicht leisten können, «täglich Geld zu verlieren».
Eine Frage des politischen Willens
Gibt es also noch Hoffnung? Ja, durch die öffentliche Hand, also durch eine Verstaatlichung des Betriebs. Unmöglich? Nein, nur eine Frage des politischen Willens. Und ob jenen, denen das Stahlwerk angeblich so am Herzen liegt, tatsächlich damit ernst ist. In der Broschüre zum 200-jährigen Jubiläum kommen politische Persönlichkeiten wie Bundesrat Albert Rösti, Nationalrätin Diana Gutjahr und Brigitte Wyss, Regierungsrätin des Kantons Solothurn sowie der Gemeindepräsident Philipp Heri zu Wort. Auch die Sozialpartnerschaft durfte nicht fehlen, mit Giorgio Tuti, Präsident des europäischen Gewerkschaftsverbands ETF Rail, und Thomas Freuler, Präsident des Stahl- und Haustechnikhandelsverbands (SSHV) und CEO der Stahlhandelsfirma Spaeter. Sie alle, querbeet über die Parteien und Interessenvertretungen hinweg, unterstrichen und beteuerten die Wichtigkeit des Stahlwerks in Gerlafingen, für Menschen, für die Region, für die Umwelt, ja gar für die Zukunft. Sie haben nun die Möglichkeit zu zeigen, dass sie nicht so verlogen sind wie die aktuelle Besitzerfamilie der AFS Beltrame Group. Denn wie meinte Antonio Beltrame im Frühling 2023 noch: «Wir glauben an diesen Standort und wollen das wunderbare Erbe aus 200 Jahren Stahlproduktion hier auch für die Zukunft sichern.»