«Solidarität gibt Kraft»
lmt. Am 15.Oktober fanden vor etlichen italienischen Konsulaten und im Lande selbst Proteste statt. Der Fokus lag auf dem unmenschlichen Memorandum zwischen Italien und Libyen, welches für Menschen auf der Flucht einem Todesurteil gleichkommt. Doch es regt sich Widerstand.
«Es ist unglaublich wichtig, dass wir heute hier stehen. Dadurch erfahren die Menschen, die auf der Flucht sind oder in Libyen in Lagern stecken, dass wir sie nicht vergessen haben», so die Worte eines syrischen Geflüchteten an den Protesten vom 15.Oktober in Zürich vor dem italienischen Konsulat. Und er erklärt dem vorwärts weiter: «Für die Geflüchteten ist unsere Solidarität und unsere Stimme zu hören von grosser Bedeutung.» Er muss es wissen, denn: «Ich war selbst 2015 in Libyen und als ich erfuhr, dass es in Europa Menschen gibt, die für unsere Rechte auf die Strassen gehen, gab mir das Kraft und Hoffnung weiterzugehen und zu kämpfen. Solidarität gibt Kraft!»
Zahlreiche europäische Städte riefen am 15.Oktober auf, die Proteste auf die Strasse zu tragen. Ziel dabei war und bleibt es, die italienische Regierung aufzufordern, das illegale und beschämende Memorandum mit Libyen zu beenden. Organisiert hatten den internationalen Protesttag Abolish Frontex, Diritto di migrare – diritto di restare (deutsch: Recht auf Migration, Recht auf Aufenthalt) und Solidarity with Refugees in Libya.
Europas Intrigen
Doch worum geht es? Im Jahr 2012 wurde Italien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt, weil die Regierung Menschen auf der Flucht nach Libyen abschob. Um dieses Urteil zu umgehen, wurde das «Memorandum of Understanding» (MoU) im Jahr 2017 unterzeichnet. Das MoU regelt die Zusammenarbeit zwischen Italien und Libyen in den Bereichen «Sicherheit und irreguläre Migration». Dazu gehören: technische und technologische Unterstützung für die sogenannte libysche Küstenwache, die Fertigstellung des Kontrollsystems an der südlichen Landgrenze Libyens sowie die Finanzierung der lokalen Haftzentren. Es wird hauptsächlich mit Geldern der EU finanziert und von keiner geringeren als der europäischen Grenzagentur Frontex umgesetzt.
Nun, in Wahrheit handelt es sich nicht um Schutz der Sicherheit, wie es uns die Regierungen weismachen wollen. Hinter diesem Memorandum, sowie allen anderen, steckt eine migrantenfeindliche europäische Politik. «Europa hat alle mediterranen Staaten gefragt, Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu verabschieden. Italien selbst hat nicht nur mit Libyen ein Memorandum, sondern auch mit Tunesien und vielen weiteren Staaten. Das Ganze beruht auf einem intriganten System», erklärt Angela Siciliano dem vorwärts. Sie arbeitet seit über 30 Jahren mit Migrant*innen zusammen und setzt sich somit seit Langem für ihre Rechte ein.
Am 2.November 2022 wird das MoU automatisch um weitere drei Jahre verlängert, sofern sie nicht von der italienischen oder der libyschen Regierung gekündigt wird. Keins der Länder scheint Absichten in diese Richtung zu haben. Daher wird die Fortführung dieses Memorandums die fatalen Folgen für Menschen auf der Flucht in Libyen weiter verfestigen.
Lukrativer Teufelskreis
«Europa ist drauf und dran, die Grenzen zu externalisieren. Die Grenzen sind schon lange nicht mehr da, wo Europa geografisch aufhört. Heutzutage wird Europa in Afrika, Balkan und so weiter verteidigt», erläutert Angela Siciliano die Realität. Dabei geht Europa mit äusserstem Kalkül vor, wie am Beispiel Italien-Libyen zu erkennen ist: Die italienische Regierung bildet libysche Sicherheitskräfte aus und arbeitet direkt mit Milizen und Menschenhändler*innen zusammen. Dabei springt für dieses Menschen ein Geschäft raus, das lukrativer als der Drogenschmuggel ist. «Wichtig zu betonen ist, dass das Abfangen der Migrant*innen oft von libyschen Kriminellen ausgeführt wird. Denn in Libyen gibt es keine stabile Regierung», bringt es Angela Siciliano auf den Punkt.
Seit 2017 wurden über 50000 Menschen auf der Flucht von der sogenannten «libyschen Küstenwache» abgefangen und in Lagern auf dem Festland zurückgeschickt. Die Berichte über die Gräueltaten in Libyen, die durch das italienischen Abkommen finanziert werden, häufen sich mehr und mehr. Anhand dieser lässt sich ein Muster oder auch Kreislauf erkennen: willkürlicher Inhaftierung, Schleusung, versuchte Flucht in «Sicherheit», Abfangen durch die libysche Küstenwache und erneute Inhaftierung. Ständige Begleiter sind in diesem Teufelskreis Folter, Vergewaltigung, Versklavung, Hunger und Tod.
Nochmals zur Erinnerung: Finanziert und politisch getragen wird das Ganze von europäischen Geldern, darunter auch Schweizer Franken. Es ist nicht lange her, wir erinnern uns, da beschloss die Eidgenossenschaft Frontex mit 61 Millionen Franken jährlich zu unterstützen und somit diesen brutalen Kreislauf mit am Leben zu erhalten.
Lieber den Tod als…
Ein Geflüchteter, der bei seiner Flucht in Libyen landete, hält in seinem Buch «die Aussagen eines Überlebenden» fest, und damit meint er sich selbst. Seine vertonten Zeugenaussagen wurden am Protest vom 15. Oktober in Zürich abgespielt. Er erzählt über die Gefangenenlager in Tripolis Libyen: «Es sind Straflager noch aus den Zeiten von Oberst Gaddafi. In meinen Tagen dort habe ich den menschlichen Horror kennengelernt. Wir waren 30 Menschen zusammengepfercht in einer winzigen Zelle.» Sein Schmerz sitzt tief: «Ich habe Sachen gesehen und erlebt, die ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen würde. Frauen wurden von den Wachleuten vergewaltigt. Ich hatte nie den Mut zu fragen, wo sie die Frauen hinbringen und was sie mit ihnen machen.» Er fügt hinzu: «Ich habe es erst bemerkt, als sie uns eines Tages fragten, wer von uns Sex haben möchte. Sie würden Frauen zur Verfügung stellen. Hätten sie mich vor die Wahl gestellt, hätte ich lieber den Tod gewählt, als diese Frauen zu erniedrigen.»
Und es geht noch weiter: «Die Männer und Minderjährigen wurden unter strengster Aufsicht der Wachleuten auf die Felder gebracht und zur Arbeit gezwungen. Kinder weinten die ganze Nacht, weil sie ihre Mütter vermissten. Wir erhielten nur einmal am Tag ein Stück Brot und eine Flasche Wasser. Wir mussten auf den nächsten Tag warten, um wieder essen zu können.»
Keine durchsetzungsfähige Kritik
Libyen hat die Genfer Konventionen von 1951 über die Rechtsstellung von Flüchtlingen nie ratifiziert. Die Regierung erkennt auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR nicht vollständig an. Selbst Menschen, die vom (UNHCR) als Schutzsuchende registriert sind, werden willkürlich verhaftet und in gefängnisgleichen Lagern festgehalten. Die UNO und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) haben die in diesen Lagern begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wiederholt verurteilt. Seit das Memorandum vor fünf Jahren zustande kam, wurde es von Menschenrechts-NGOs, den Vereinten Nationen (UN) und sogar von der Europäischen Union selbst stark angefochten und kritisiert. Es ist eindeutig, dass das MoU gegen internationales Recht verstösst und die Menschenrechte schwerwiegend verletzt. Dabei stellt sich die Frage, wieso keine Kritik noch Verurteilung genug stark ist, um die Gräueltaten zu beenden. Schon allein die Schweizer Abstimmung über Frontex liefert einen Einblick in die Antworten. So lange die bürgerliche xenophobe Politik in Europa den Takt vorgibt, wird sich so schnell nichts ändern. Denn hier in Europa wird jegliche Schuld und Verantwortung von sich gewiesen und mit dem Finger auf Ländern wie Libyen gezeigt. Dieser Meinung ist auch Angela Siciliano, wie sie dem vorwärts erklärt: «Es braucht ein Netzwerk an Organisationen, die direkt das europäische Parlament zwingen, jegliche Memoranden zurückzuziehen.» Und weiter: «Zusätzlich muss Druck gemacht werden, um die ganze Politik gegenüber den Migrant*innen umzukrempeln!»
Widerstand regt sich
Trotz brutalster Repression blieben die in Libyen Festsitzenden nicht regungslos. Ab Oktober 2021 protestierte «Refugees in Libya», eine Gruppe selbstorganisierter Menschen auf der Flucht, vor dem UNHCR-Büro in der libyschen Hauptstadt Tripolis gegen die unmenschlichen Bedingungen. Der Protest blieb nicht ohne Folgen. Im Januar 2022 kam es zur gewaltsamen Räumung des Protestcamps. Bis heute befinden sich noch mehr als 300 Personen in Haft, die am Protest teilnahmen.
Die untragbare Situation zwingt die Menschen in Europa, zu handeln. Es gilt sich mit den Geflüchteten in Libya zu solidarisieren. Jegliche Macht soll genutzt werden, um Italien und die EU zu zwingen, dieses unmenschliche Abkommen zu kündigen. Die Abgeordneten des italienischen Parlaments müssen gezwungen werden, die von der Verfassung garantierten Grundrechte zu verteidigen. Die Forderungen sind klar. Jegliche Finanzierung und Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache müssen ein Ende finden. Es braucht eine europäischen Seenotrettungsinitiative im Mittelmeer und die Entkriminalisierung der zivilen Seenotrettung.