Patentrezept für mehr Armut
flo. Frauen* sind von Altersarmut etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer*, sollen aber für die geplante Konterreform des Rentenwesens übermässig stark aufkommen. Und durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer schauen alle in die Röhre.
Jahrzehntelang ergingen sich Herr und Frau Schweizer in ihren exzeptionalistischen Wunschvorstellungen: Die Schweiz sei eben in allem ein Sonderfall. Und irgendwie auch in allem am besten. Die Nachwehen solcher Wahnvorstellungen konnten wir miterleben, als Ueli Maurer bei seinem Amtsantritt als SVP-Bundesrat von der «besten Armee der Welt» fantasierte. Aber irgendwie hielt sich die Vorstellung von der eigenen Überlegenheit in vielen Bereichen. In Sachen Demokratie (in einem Land, das erst vor 50 Jahren den Frauen* das nationale Wahlrecht verlieh: ungerechtfertigt), in Sachen Berufsbildung (in einem Land, in dem Lernende sukzessiv und systematisch ausgebeutet werden: ungerechtfertigt) und eben auch in Sachen Altersvorsorge (Überraschung: wieder ungerechtfertigt).
Signale nicht angekommen
Inzwischen belegen auch bürgerliche Studien, dass die Schweiz in Sachen Altersvorsorge nur noch Mittelmass ist, selbst wenn man erzkapitalistische Massstäbe anwendet, wie beim Global Pension Index 2021 vom Unternehmen Mercer. Misst man die Altersvorsorge an ihrer Hauptaufgabe, der Verhütung von Altersarmut, sieht die Schweiz noch schlechter aus: Laut einer OECD-Studie von 2015 lag die Altersarmut in der Schweiz bei erschreckenden 23,4 Prozent. Das Altersvorsorgesystem lässt Hunderttausende Rentner*innen im Stich. Und mit den geplanten Verschlechterungen im Rahmen der kommenden Konterreform, über die am 25.September abgestimmt wird, wird sich die Altersarmut in der Schweiz noch verschlimmern.
Darüber, wie Frauen* unter den Fehlern des Rentensystems leiden müssen, wie viel weniger sie im Alter zur Verfügung haben, wie ihre oft unentgeltliche Arbeit beim Lebensabend unter den Tisch fällt, wurde schon reichlich geschrieben. So viel sei aber noch hinzugefügt: Die klaren Signale, welche die kämpfenden Frauen* mit ihrem Engagement und unter anderem mit dem Frauen*streik 2019 sendeten, sind im Parlament nicht angekommen. Denn sonst wäre Bundesbern nicht auf die Idee gekommen, das Frauen*rentenalter zu erhöhen – und dies trotz des höchsten Frauen*anteils in beiden Kammern in der Geschichte des Landes.
Gutschweizerische Kompromisse?
Oft wird so getan, als ob das politische Establishment in der Schweiz so erfolgreich sei, weil man sich immer im Finden von Kompromissen übe. Wir müssen uns aber bewusst sein, wer untereinander den Kompromiss aushandelt: Wenn Gesetze gemacht werden, sitzen Kapitalist*innen oder Bürokrat*innen aber eben keine Arbeiter*innen am Tisch. Auch das heutige Drei-Säulen-System ist aus so einem «Kompromiss», aus einem Ausgleich zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum entstanden, um die Initiative für eine Volkspension der Partei der Arbeit im Jahr 1972 zu torpedieren. Es setzten sich dann also eine Reihe von Parlamentarier*innen zusammen, die zu den Lebensrealitäten der Massen nun wirklich keinen besonderen Bezug hatten, und verankerten die ökonomische Abhängigkeit der Frauen* institutionell in unserer Altersvorsorge. Ein «Kompromiss», bei dem sich die Urheber vermutlich stolz auf die Schultern klopften, vielleicht gar die unmögliche Wortschöpfung vom «gutschweizerischen Kompromiss» die Runde machte, der für Unzählige Prekarisierung und Verarmung nach einem Leben voller Arbeit bedeutet. So haben wir eine 1.Säule, die kein würdiges Leben im Alter ermöglicht, sowie eine 2.Säule, bei der man schlicht die Privatwirtschaft mit Geldern von Arbeiter*innen aufpumpt, obwohl die nötigen Renditen seit Jahren fehlen. Und eine 3.Säule, die für Superreiche vor allem ein Vehikel der Steuervermeidung ist, die von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gar nicht aufgebaut werden kann.
Krisenprofiteure en vogue
Doch auch für die nicht weibliche Hälfte der Bevölkerung bedeutet die geplante Verschlechterung weniger Geld im Portemonnaie: Die Finanzierung der AHV soll zu einem grossen Teil (etwa 12,4 Milliarden) über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ablaufen. Faktisch bedeutet dies, dass praktisch alle Produkte und Dienstleistungen teurer werden. Und weil die Mehrwertsteuer eine der unsozialsten Steuern ist – je reicher man ist, desto weniger fällt die Erhöhung ins Gewicht, je ärmer man ist, desto mehr tut sie weh – haben wir bei den Finanzierungsplänen in Sachen Altersvorsorge wohl wieder mit so einem verkorksten Kompromiss zu tun, bei dem sich irgendwelche Mandatsträger*innen in Einigkeit auf die Schulter klopfte, ohne die Rechnung mit dem Wirt, sprich in diesem Fall mit den Arbeiter*innen zu machen.
Sprengkraft bietet auch der Hintergrund der massiven Teuerungsentwicklung, in der diese Verschlechterungen stattfinden. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer wird, davon können wir inzwischen ohne Zweifel ausgehen, sich auch auf die Wirtschaft auswirken, die ihre erhöhten Kosten direkt an die Konsument*innen abgeben wird. Und vermutlich noch ein bisschen mehr, denn: Krisenprofiteur zu sein, ist bei Bourgeoisen ja aktuell en vogue.
Die Aufgabe bleibt
Fassen wir all diese Faktoren zusammen: Grösseren Beitragslücken und noch mehr Rentenklau bei Frauen*, die sowieso schon viel stärker von Armut im Alter betroffen sind – was dann noch höhnisch als «Gleichstellung» verkauft wird – sowie (!) höhere Lebenshaltungskosten für alle. Unter dem Strich ist diese Konterreform der Altersversicherung ein Patentrezept für wachsende Armut. Eine Ablehnung tut deshalb not. Doch selbst bei einer Annahme wäre unsere Aufgabe dieselbe. Das Rentensystem in der Schweiz ist auch ohne Verschlechterungen lausig und gehört umgewälzt. Solange dieses Rentensystem bleibt, ist die Revolution immer noch die beste Altersvorsorge.