«Eure Kinder werden so wie wir!»
Laura Maiorano. Dreissig Jahre nach dem ersten Frauen*streik und zwei Jahre nach dem bisher grössten Streik der Schweiz gehen wir wieder gemeinsam auf die Strasse. Und auch heute werden wir FLINT-Personen Geschichte schreiben. Mehr noch: Wir kommen wieder!
«Sie sollten mal die Löhne richtig verteilen und die Schere zwischen sehr hohen und skandalös tiefen Löhnen verkleinern», beschwert sich eine Frau vor mir in der Essensschlange. Ihre zu einer grossen Schere ausgestreckten Armen führt sie mit einer zügigen Bewegung zusammen, um die Aussage zu symbolisieren. Die anderen Frauen* in der Schlange nicken zustimmend. Ich schaue mich um. Der kleine Anny-Klawa-Platz im Zürcher Kreis 4 ist gegen zwölf Uhr mittags gefüllt von Frauen*, Kindern und ein paar wenigen Männern*. «Her mit dem schönen Leben», «Mehr Respekt für unsere Arbeit» und noch viele weitere Sprüche auf den unzähligen Plakaten schmücken den Platz. Denn schliesslich ist heute der 14.Juni, Frauen*streiktag. Endlich bin ich an der Reihe und bekomme eine grosszügige Portion Linsencurry, spendiert von der Gewerkschaft vpod. Ich setze mich zu meiner Mutter und teile mit ihr mein Curry.
Aber wirklich Zeit zum Essen habe ich nicht. Denn es gibt so viel zu sehen. Neben den Plakaten sind auch viele Flyer, Broschüren und Merchandisings ausgestellt. Alle zielen vor allem auf die ungerechte Situation der Frauen* auf dem Arbeitsmarkt ab. Dass eine Frau* im 21.Jahrhundert immer noch weniger verdient als ein Mann*, und dass auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam gemacht werden muss, geht einfach nicht in meinem Kopf. Ich schaue wieder auf mein Curry und muss feststellen, dass meine Mutter schon alles gegessen hat. Tja, das kann passieren, wenn man nicht aufpasst. Mit dem Teller in der Hand stehe ich fordernd beim vpod-Stand. Aber der Mann sagt mit bedauerlicher Stimme: «Es ist alles leer. Die Frauen* waren hungrig. Sie mussten sich für einen langen Tag und harten Kampf stärken.» Tatsächlich. Naja schade, aber in der Kanzlei soll es auch ein Soli-Essen geben. Vielleicht hat mein Magen dort mehr Glück.
«Gebt meiner Mami ihr Geld»
Gerade als ich ankomme, hält eine junge Frau auf einem Podest eine Rede. Sie muss wohl einer Care-Arbeit nachgehen, denn ihre Ansage ist unmissverständlich: «Wer bezahlt die Care-Arbeit, ihrer wertvollen Bedeutung entsprechend? Es ist an der Zeit, dass sie besser entlöhnt wird und unter besseren Arbeitsbedingungen geleistet werden kann. Wir fordern unsere verdiente Anerkennung!». Nach diesen Worten bricht die Menge in Gejubel aus. Schon nur auf der Kanzleiwiese vor dem Podest sitzen um die hundert FLINT-Personen. Ebenso viele stehen rundherum. Alle klatschen, pfeifen und jubeln. Hier spüre ich zum ersten Mal an diesem Tag die Kraft des Frauen*streiks, die uns vereint auf die Strassen führt. Schon vor zwei Jahren überwältigte mich dieses Zusammenhalten und jetzt in diesem Gejubel kommt dieses Gefühl wieder.
Die Rede ist gleich vorbei und ich schaue mich auf dem Platz um. Am meisten beeindrucken mich die «Do-it-yourself-Stände». Selbstgebrachte T-Shirts, Taschen, Fahnen und weitere Textilien können mit starken Parolen oder Frauen*streiksymbolen bedruckt werden. Der Kreativität ist freien Lauf gelassen. Ein weiteres Merkmal des Frauen*steikes, denn schon vor zwei Jahren war er bunt und vielfältig. Ein kleines Mädchen vor mir ist gerade fertig geworden mit ihrem T-Shirt und zieht es gleich an. Vorne steht: «Gebt meiner Mami ihr Geld» und hinten hat sie noch ein grosses Frauen*symbol gezeichnet.
Wir lassen es uns nicht mehr gefallen
Es fängt gleich eine zweite Rede an zum Thema prekäre Arbeitsbedingungen in den obligatorischen Schulen. Bei jeder neuen Beschreibung, zu grosse Klassen, Überstunden und Burnouts verfällt die Menge in ein grosses «Buh». «Die Care-Arbeit wird überdurchschnittlich und fast ausschliesslich von FLINT-Personen geleistet. Während cis Männern gelobt werden für die Ausübung des Lehrberufes, erhalten wir FLINT-Personen selten Anerkennung für unsere Arbeit. Im Gegenteil unsere Löhne werden gedrückt, je mehr Care-Arbeit geleistet werden muss. Aber wir lassen uns das nicht mehr gefallen. Heute gehen wir auf die Strasse und morgen kämpfen wir weiter!» Die Menge platzt wieder in Gejubel aus. Die Wut über die diskriminierende Situation der FLINT-Personen ist sichtlich zu spüren. Wir alle jubeln und klatschen noch immer, da wird der Auftritt einer Zürcher Alternativ-Rapperin angekündigt. Da Rap nie so mein Stil war, mache ich noch eine Runde um den Platz und suche nach Essen. Ich werde leider nicht fündig und gehe nach Hause, denn auch ich muss mich für den Abend stärken.
Den Kampf ansagen
Nun stehe ich also hier auf der Brücke. Unter der brennend heissen Sonne warte ich, bis es endlich losgeht. Hinter mir ertönen Lautsprecher: «Vor siebzig Jahren erhielten wir das Frauen*stimmrecht. Die Bürgerlichen dachten dann, dies würde ausreichen, um uns zufrieden zu stellen. Aber da irrten sie sich. Die Nichteinhaltung des Gleichstellungsgesetzes, schlechte Arbeitsbedingungen und die Diskriminierung der Frauen* führten uns heute vor dreissig Jahren das erste Mals als Frauen*streik auf die Strassen. Vor zwei Jahren standen wir wieder genau hier. Und wir sind immer noch wütend.» Und die Frau am Mikrophon erklärt auch warum: «In diesen Jahren hat sich praktisch nichts verändert. Unsere Forderungen werden nicht nur überhört, sondern gar nicht ernst genommen. Die Rentenreform des Nationalrats beweist es. Das Frauen*rentenalter soll auf 65 erhöht werden, wodurch wir die Bürden mal wieder tragen sollen. Aber wir lassen uns das nicht mehr gefallen», sagt sie kämpferisch. «Wir akzeptieren keine Lohnungleichheiten, Diskriminierungen und schlechte Abreitbedingungen- und -zeiten mehr. Wir solidarisieren uns mit allen Frauen*kämpfen weltweit und setzen heute ein starkes Zeichen. Nehmen wir uns die Strassen, bis wir gesiegt haben.»
Wir brechen alle mal wieder in Gejubel aus. Diese starke Welle der Zuversicht und des Kampfgeistes kommt wieder über mich.
Grossartige Aussicht!
Endlich kommt ein bisschen Bewegung in die ganze Sache. Denn nach dieser starken Ansage wird der Tanz «El violador eres tu» von ungefähr zwanzig Frauen* vor dem Fronttranspi aufgeführt. Die Performance weist auf Gewalt an Frauen* hin und verurteilt sie. Danach starten wir mit der Demo. Über Zehntausend sind wir heute hier in Zürich auf der Strasse und marschieren – Parole für Parole skandierend und singend – immer weiter. Mein absoluter Lieblingsspruch ist: «Eure Kinder, die betreuen wir. Eure Kinder werden so wie wir». Was für eine grossartige Aussicht für die Zukunft. Aber das aller Schönste ist, dass, obwohl wir eine so bunte Truppe sind, wir gemeinsam und vereint ein Zeichen setzen können.
Nach über zwei Stunden erreichen wir lärmend den Ni-una-menos-Platz im Kreis 4. Dort ist inzwischen eine Bühne aufgebaut worden. Das Abendprogramm mit mehreren Reden und Konzerten beginnt. Die Stimmung ist auf der einen Seite fröhlich und entspannt auf der anderen Seite wütend und angespannt. Widersprüchlich? Nun ja, der Frauen*streik steht unter einem widersprüchlichen Stern. Denn wir nehmen uns jetzt schon das dritte Mal die Strasse und bringen unsere Forderungen an die Öffentlichkeit und dennoch haben wir das Gefühl, ignoriert zu werden. Es ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Tatsache. Wir rennen den Rückschritten hinterher und erkämpfen uns die Rechte wieder, welche uns genommen oder nie zugesprochen wurden. Die Erhöhung des Frauen*rentenalters beweist es. Aber auf der anderen Seite gibt uns der Frauen*streik auch ein Gefühl von Zusammenhalt und Zugehörigkeit. Die Präsenz der Masse auf der Strasse und dass trotz der Pandemie so viele gekommen sind, zeigt: Wir sind nicht allein. Und gibt mir ein wundervolles Gefühl und Hoffnung für die Zukunft. Vielleicht ist es noch kindliches Wunschdenken oder Naivität, aber ich glaube fest an eine bessere Schweiz. Eine Schweiz, in der Gleichstellung nicht nur leere Worte im Gesetz sind. In der nicht mehr im Schnitt alle zwei Wochen ein Femizid verübt wird. Und in der ein für alle Male die patriarchalen Machtstrukturen zerschlagen werden. Ob es nun Wunschdenken ist oder nicht, ich werde weiter dafür kämpfen.
Es ist schon elf Uhr und die Polizei macht uns darauf aufmerksam, dass wir schon eine Stunde überzogen haben. Für heute ist leider Schluss. Erschöpft gehe ich nach Hause und direkt ins Bett. Aber eins ist sicher, ich werde so lange nicht ruhen, bis wir an einem 14.Juni nur noch feiern werden. Macht euch gefasst, wir kommen wieder.