Einzelfälle? Von wegen!

Die fehlende Aufenthaltsbewilligung ist oft die Kugel am Bein vieler junger Asylsuchender. Bild: Sans-Papiers Basel

lmt. In der Schweiz hängt der Zugang zu Bildung stark vom Aufenthaltsstatus ab. Viele junge Asylsuchende müssen ihre Lehre abbrechen, weil sie einen negativen Entscheid erhalten. Der Nationalrat sprach sich zum zweiten Mal dagegen aus. Der Beschluss des Ständerats wird entscheiden.

«Ich hätte gerne meine Lehre als sozialpädagogische Assistentin bestreiten wollen. Denn ich liebe es mit Kindern und Menschen zusammenzuarbeiten und ihnen zu helfen. Aber ich darf meinen Traum nicht verwirklichen», erklärt die junge Eritreerin Luwam in einem Interview mit dem Verein Bildung für alle. Was hindert die junge Frau? Einen negativen Asylentscheid, den sie kurz nach dem Abschluss ihrer Berufsvorbereitung erhielt.
In der Schweiz gilt die Regelung, dass Lernende ohne Bleiberecht nur eine Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung erhalten und ihre Lehre abschliessen können, wenn sie mindestens fünf Jahre ununterbrochen in die obligatorische Schule gegangen sind. Luwam kam 2015 als Minderjährige in die Schweiz. Schulischen Unterricht durfte sie erst sechs Monate nach ihrer Ankunft besuchen. 2019 erhielt sie dann ihren negativen Entscheid. Summa summarum sicherlich keine fünf Jahre. Somit wird ihr Wille und Engagement andern zu helfen und sich in der Schweiz zu integrieren im Keime erstickt.

Doppelt gemoppelt
Luwam ist kein Einzelfall. Das hat auch der Nationalrat erkannt. Es liegen zwei Motionen aus den liberalen Kreisen beim Bundesrat vor. Beide verlangen, die gesetzlichen Grundlagen so zu ändern, dass abgewiesene Jugendliche ihre Grundausbildungen abschliessen dürfen. Die erste Motion wurde im Dezember 2020 mit 129 zu 54 Stimmen bei sieben Enthaltungen sehr klar angenommen. Der Ständerat lehnte sie jedoch im Frühling letzten Jahres knapp ab. In der Debatte dazu wurde das Problem vom Migrationsamt (SEM), von den Gegner*innen und auch von der Bundesrätin Karin Keller-Sutter als «auslaufendes Phänomen», als ein Übergangsphänomen abgestempelt.
«Ja, meine Damen und Herren, es wäre ja gut, wenn sich das Problem gelöst hätte, aber leider ist das Gegenteil der Fall. Immer noch werden Lernende bei einem negativen Asylentscheid gezwungen, ihre Vorlehren oder Lehren abzubrechen», hält der grünliberale Nationalrat Jürg Grossen während seiner Rede über die Anliegen seiner Motion fest. Grossen beteuerte auch, dass mehrere Dutzende Betroffene in Rückkehrzentren beschäftigungslos und auf Kosten der Kantone leben müssen. «Statt zu arbeiten und auf eigenen Beinen zu stehen, werden die Betroffenen gezwungen, von Nothilfe zu leben. Das macht weder aus Sicht der lernenden Asylsuchenden noch aus Sicht der Lehrbetriebe und schon gar nicht aus Sicht des Staates Sinn.»
Dass die Beweggründe der Liberalen nicht in einer offenen Asylpolitik und gleichen Chancen für alle zu finden sind, liegt auf der Hand. Ihnen geht es vielmehr darum, billige Arbeitskräfte, in denen Lehrbetriebe investierten, nicht zu verlieren. Aber auch blinde Hühner finden ab und zu ein Korn. Das beweist mit 118 zu 71 Stimmen bei drei Enthaltungen die deutliche Annahmen der zweiten Motion. Somit doppelte der Nationalrat im Herbst 2021 nach.

Probleme der Vergangenheit?
Doch die Meinung des Nationalrates in diesem Anliegen teilt die Bundesrätin Karin Keller-Sutter bekanntlich nicht. Sie bekräftigte auch bei der zweiten Motion ihre Argumentation, dass es sich seit der Einführung des beschleunigten Asylverfahrens im März 2019 nur noch um Einzelfälle handle. Asylsuchende bekämen jetzt schon nach 140 Tagen ihren Entscheid. Da mache es gemäss der Bundesrätin bei einem negativen Entscheid keinen Sinn, eine Lehre anzutreten. Und auch sonst würden bis dato die jungen Asylsuchende die Kriterien für das Antreten einer Lehre noch nicht erfüllen. Betroffen von einem gezwungenen Lehrabbruch durch einen negativen Entscheid seien also nur noch all jene jungen Asylsuchende, die ihr Gesuch noch vor 2019 einreichten. Das sind die sogenannten altrechtlichen Fälle, von denen es nach Ansichten der Bundesrätin nicht mehr viele gäbe.
Karin Keller-Sutter wiederholte auch immer wieder ihr zweitliebstes Argument: «Ich weise gerne daraufhin, dass man die Ausreisefrist in begründeten Einzelfällen verlängern kann, wenn eine weggewiesene Person kurz vor dem Abschluss steht und so ihre Lehre beenden kann.» Der Argumentation des Bundesrates schliesst sich auch eine Mehrheit der staatspolitischen Kommission des Ständerats an. Sie lehnt ganz im Sinne der Regierung die Motion ab. Nun liegt es am bürgerlich dominierten Ständerat. Mit einem positiven Entscheid in der Frühlingssession kann er die Schweiz in Sachen «Bildungszugang für» alle einen wichtigen Schritt voranbringen.

Das Wesentliche ging vergessen
In der ganzen parlamentarischen Debatte wurde das Wesentliche, was bei einer Annahme der Motion herauskommen würde, ausser Acht gelassen. Es geht gar nicht darum, ob es sich nun um Einzelfälle oder ein Übergangsphänomen handelt. Noch sollten die Lehrbetriebe und ihre Investitionen im Vordergrund stehen. Und auch das beschleunigte Asylverfahren ist zweitrangig. Das Wesentliche ist das Recht auf Bildung für alle. Bildung ist ein Gut aller und darf nicht vom Aufenthaltsstatus abhängen.
Es liegt an uns Druck aufzubauen, dass der Zukunft junger Asylsuchenden, Abgewiesener und Sans-Papiers nicht mehr Steine in den Weg gestellt werden. Sie leisten tagtäglich einen wichtigen Beitrag für das Funktionieren unserer Gesellschaft und vieles mehr, was Anerkennung verdient.

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