Die SP und die EU
flo. In der Sozialdemokratie ist rund um die Frage des Rahmenabkommens mit der EU eine Polemik ausgebrochen. Doch zwischen profilierungsfreudigen Altbundesrät*innen und Umfragen aus der Küche der Pharmaindustrie gehen die Werk-tätigen, die von Lohndumping betroffen sind, vergessen.
In den sozialen Medien gab es für Cédric Wermuth am 10.Mai dicke Post. Eine von ihm gehaltene Rede an der Delegiertenversammlung der SP sei eine Ausrede, um den Gewerkschaften nicht widersprechen zu müssen: «Sie sprechen damit der SVP aus dem Herzen!» Das Thema der Rede, an dem sich der Widerspruch entzündete, ist das Rahmenabkommen zwischen Bern und Brüssel. Kurz zuvor – und dies wird auch der Grund für Wermuths Grundsatzrede gewesen sein – hatte eine Umfrage der Gesellschaft für Sozialforschung (GfS) festgestellt, dass über 80 Prozent der SP-Basis nach wie vor für ein institutionelles Abkommen mit der EU seien. Rasch organisierte sich in der Partei Widerstand gegen die Haltung, kein Rahmenabkommen ohne ausreichenden Lohnschutz zu akzeptieren.
Einladung zur Lohndrückerei
Die SP ist eine Partei, die den Prozess der europäischen Integration eigentlich von Anfang an unterstützte und oft auch fetischisierte. Die EU sei ein Friedensprojekt und der einzige Grund, warum in Europa seit dem 2.Weltkrieg Frieden herrsche. Die Konflikte in Europa, wie auch die imperialistischen Kriege, die die EU-Mitglieder führen, werden da gerne vergessen und unter den Teppich gekehrt. Ebenso wie die Folgen des europäischen Binnenmarkts für die Werktätigen des Kontinents. So heisst es auf Wermuths Facebook-Chronik von einem Kritiker: «Ob die Voranmeldefrist 4 oder 8 Tage beträgt, ist jedem in diesem Land egal, mit Ausnahme von ein paar Dachdeckern in Schaffhausen. Das ist eine reine PR-Aktion und hat gar nichts mit dem Lohnschutz zu tun!» Genau da widersprechen aber die Gewerkschaften, die immerhin die mit Abstand grössten Organisationen der politischen Linken sind, den Kritiker*innen: Laut dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund sind genau solche Massnahmen, um die Entsendung von Arbeitskräften aus der EU in die Schweiz «unbürokratischer» zu gestalten, für Kapitalist*innen eine günstige Gelegenheit, um Lohn-kontrollen zu unterlaufen.
Die Schweiz ist bereits ein Eldorado für Lohn-dumping. So machen regelmässige heftige Fälle von missbräuchlichen Löhnen Schlagzeilen. Dies weist deutlich darauf hin, dass die ungenügenden Bestimmungen allein schon eine Einladung für Kapi-talist*innen zur Lohndrückerei sind. Wobei man sich zudem bewusst machen muss, dass es sich bei den bekannten Fällen nur um die Spitze des Eisberges handelt.
Cui bono?
Besonders gerne wird gegenüber der sozialdemokratischen Parteiführung mit der eingangs erwähnten GfS-Studie argumentiert und hantiert. Doch auch Studien – egal wie sehr sie sich mit der Aura von Wissenschaftlichkeit umgeben – können lausig konzipiert, unsauber erstellt oder gar bis ins Mark parteiisch sein. Und auch bei der Gfs-Studie darf man sich die Frage stellen: «Cui bono? Wem hilft es?». In Auftrag gegeben wurde sie vom Wirtschaftsverband Interpharma, der die Interessen der Pharmaindustrie vertritt. Auf seiner Homepage erklärt der Verband: «Um den bilateralen Weg zu erhalten, den Ausbau des Marktzugangs weiter voranzutreiben und die Erosion der existierenden Marktzugangsabkommen zu verhindern, erachtet Interpharma den raschen Abschluss eines institutionellen Abkommens weiterhin als notwendig.»
Was sich Interpharma von der Studie erhofft, dürfte deutlich sein. Wird aber allein dadurch das Resultat hinfällig? Nein, aber durch die Art und Weise, wie die Kernfrage in der Studie formuliert wurde, dürfte sie weniger aussagekräftig geworden sein. So werden vermeintliche Vorteile des Abkommens genannt: «Damit könnten die bestehenden Verträge effizienter und schneller an neue Gegebenheiten angepasst und neue Teilverträge einfacher ausgehandelt werden.» Von den Bedenken der Gegner*innen kein Wort. Ebenfalls interessant: Das Wort «Rahmenabkommen», unter das der angepeilte Vertrag mehrheitlich in der Schweizer Presse behandelt wurde, kommt zwar in der Auswertung der Umfrage, in der Umfrage selbst aber gar nicht vor. Dort ist die Rede einzig von «einem institutionellen Abkommen».
Jahrelange Lobhudelei
Der Anteil von SP-Mitgliedern, die sich bei der Umfrage für das «institutionelle Abkommen» aussprachen, dürfte sodann höher ausgefallen sein, als wenn man explizit nach dem «Rahmenabkommen» gefragt und dabei die Auswirkungen auf den Lohnschutz genannt hätte. Doch man muss sich nicht der Illusion hingeben, dass eine unkritische Unterstützung der EU durch einen grossen Teil der SP vom Tisch wäre. Der Pro-EU-Kurs der Sozialdemokratie ist in den letzten Jahrzehnten laut und eindeutig gewesen. Erst mit der völligen Diskreditierung der EU durch ihre mörderische Migrationspolitik, durch ihren Imperialismus, der sowohl im Trikont als auch ihren eigenen südlichen Mitgliedsstaaten wütet, und ihrer völlig arbeiter*innenfeindlichen Politik wurden die Preislieder zur EU leiser. Es gibt eben nicht viel her, den Mythos von «den durch die EU aufgehobenen Grenzen» zu wiederholen, wenn für alle sichtbar EU-Grenzwächter*innen Menschen mit Gewalt in den Tod treiben und Seenotrettung kriminalisieren. Aber die jahrelangen Lobhudeleien dürften Spuren hinterlassen haben und wohl heute noch wird eine Mehrheit in der SP grundsätzlich EU-freundlich sein.
Einen Anteil daran werden auch Teile der alten Parteiprominenz wie Alt-Bundesrat Leuenberger haben, die öffentlich für die EU und das Rahmenabkommen Stimmung machen. Die GfS-Umfrage war für diese Teile der Partei Wasser auf ihre Mühle. Doch, die Organisierung einer Partei rund um Umfrageergebnis hat den Parteien der europäischen Sozialdemokratie, die diese Linie am stärksten fuhren und sich «pragmatisch» auf die politische Mitte orientierten, massiv geschadet. Sie liegen teilweise im Sterben oder versuchen verzweifelt, ihren Untergang abzuwenden: Die britische Labour Party hat bei den Regionalwahlen miserabel abgeschnitten, die französische Sozialdemokratie dümpelt im einstelligen Prozentbereich, der deutschen Sozialdemokratie droht ein Wahldebakel bei der diesjährigen Bundestagswahl.
Kolossaler Fehlentscheid
Und auch die Schweizer Sozialdemokratie be-findet sich seit den Wahlen 2019 in einem Jahrhunderttief. Die Basis, von der angeblich 81 Prozent nach einem Rahmenabkommen um jeden Preis rufen, ist wohl die kleinste, die die Partei seit Einführung des Proporzes 1918 hatte. Sich für den Goodwill dieser Basis den Zugang zu den hunderttausenden Arbeiter*innen im Niedriglohnbereich, die von Lohndumping betroffen sind, zu verbauen und ein Rahmenabkommen ohne Lohnschutz zu akzeptieren, wäre ein kolossaler Fehlentscheid.