Der Druck auf die Löhne steigt

sit. Die Schweiz und die EU werden wieder Verhandlungen aufnehmen. Für die Arbeitnehmer:in-nen hierzulande heisst dies, dass auch das Weggli in Gefahr ist – den Fünfer haben sie schon lange nicht mehr.

«Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Ergebnisse der Sondierungsgespräche mit der EU und die Fortschritte bei den internen Arbeiten es erlauben, einen Entwurf für ein Verhandlungsmandat auszuarbeiten», informierte die Landesregierung am 8.November. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) wurde beauftragt, mit den nötigen Arbeiten zu beginnen.
Nötig wurden diese Gespräche, weil der Bundesrat 2021 die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU abgebrochen hatte – was zu keiner Sympathiewelle aus Brüssel führte. Die Sondierungsgespräche wurden im April 2022 begonnen und betrafen einerseits die neuen Abkommen in den Bereichen «Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit». Und anderseits «die Aufnahme institutioneller Lösungen in die bestehenden Marktzugangsabkommen einschliesslich des Personenfreizügigkeitsabkommens, um deren Funktionsweise langfristig zu garantieren», informiert die Regierung weiter. Zudem war auch «die Aufnahme von Regeln für staatliche Beihilfen in den Abkommen in den Bereichen Luft- und Landverkehr sowie Strom» ein Gesprächsthema.

Keine tragfähige Basis
Zu den Ergebnissen dieser Sondierungsgespräche schreibt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) auf ihrer Website: «Die EU ist Bern in einigen Punkten entgegengekommen. Doch die Schweiz kommt nicht um die zentrale Brüsseler Forderung herum: Wo sie den vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt will, muss sie im Grundsatz die relevanten EU-Regeln übernehmen – und die massgebende Instanz für die Auslegung der EU-Gesetze ist nicht das Bundesgericht in Lausanne, sondern der Europäische Gerichtshof in Luxemburg». So sei eben das Leben, philosophiert die NZZ, denn «der Fünfer und das Weggli sind auf Dauer nicht gleichzeitig zu haben».
Bei den Gewerkschaften herrscht keine Freude über den Beschluss des Bundesrats. Bereits zwei Tage vor der offiziellen Bekanntgabe der Regierung hielten der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und der Dachverband Travail.Suisse in einer gemeinsamen Stellungnahme fest: «Die Bundesverwaltung hat in den Son-dierungsgesprächen erhebliche Zugeständnisse gemacht, die den Lohnschutz und den Service public beim Strom und bei der Bahn gefährden.» Die Behauptung der Regierung, der Service public werde in den kommenden Verhandlungen nicht tangiert, sei «irreführend», halten die Gewerkschaften fest. Das Ergebnis der Sondierungen sei deshalb keine «tragfähige Basis für einen Verhandlungsabschluss.»

Nicht auf Kosten des Service public
Mit deutlichen Worten meldete sich auch die Ge-werkschaft des Verkehrspersonals (SEV) «Die Liberali-sierung, die in Teilen Europas im Bahnsektor erzwungen worden ist, hat in aller Regel zu schlechteren Angeboten, schlechteren Arbeitsbedingungen, Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit geführt», wird SEV-Präsident Matthias Hartwich in der Medienmitteilung zitiert. Hartwich stellt dann richtige und wichtige Fragen: «Warum sollten wir das gut funktionierende Schweizer System opfern, um der EU-Kommission einen Gefallen zu tun? Sehen hier Schweizer Liberalisierungsturbos die Chance, ihre eigene Agenda unter dem Schutz der EU durchzudrücken?»
Der SEV stelle sich nicht gegen eine Öffnung der Schweiz gegenüber der EU. Die Öffnung dürfe aber nicht auf Kosten des Service public geschehen. «Dafür erhält der SEV auch die Unterstützung seiner europäischen Schwestergewerkschaften, welche die Folgen des europäischen Liberalisierungs- und Wettbewerbswahns hautnah erleben und im Moment mit diversen Kampagnen dagegen kämpfen», informiert die Gewerkschaft des Verkehrspersonals.

Es wird keine Ausnahme geben
Eines der Hauptprobleme der Gewerkschaften ist, dass sie sich bereits in der Defensive befinden. Sie halten selbst fest, dass der Lohnschutz unabhängig vom Abkommen bereits seit Längerem unter Druck ist. Prekäre Anstellungen wie die Temporärarbeit haben zugenommen und werden gefördert, Lohndumping zu wenig geahndet. Die kurzlebigen Lieferketten bedrohen die Gesamtarbeitsverträge. Adrian Wüthrich, Präsident von Travail.Suisse, hält daher fest: «Das Verhandlungsmandat darf keine Schwächung des Lohnschutzes und keine Liberalisierung im Service public in Betracht ziehen.» Doch genau diese – sogar möglichst weitgehende – Schwächung des Lohnschutzes sowie Liberalisierung des Service public inklusive des Strommarktes will die EU erreichen. Die Durchsetzung ultraliberaler Wirtschaftspolitik ist eine ihrer Hauptaufgaben. Die EU wird für die Schweiz bestimmt keine Ausnahme machen. Warum sollte sie auch, weil es bei uns idyllische Berge gibt? All dies bedeutet für viele Arbeitnehmer:innen hierzulande Folgendes: Auch das Weggli ist in Gefahr, den Fünfer haben sie schon lange nicht mehr.

Wozu sind die Gewerkschaften bereit?
«Der Bundesrat muss die Interessen der Schweizer Bevölkerung vertreten. Er muss in den Verhandlungen den Lohnschutz und den Service public sichern», fordern der SGB und Travail.Suisse. Notwendig seien «sehr harte und konsequente Verhandlungen». Angenommen, die Landesregierung tut es, die Chancen auf Erfolg sind klein. So ist folgendes Zukunftsszenario denkbar: Das Schweizer Parlament stimmt einem Verhandlungsergebnis mit der EU zu, das für die Gewerkschaften ähnlich unbefriedigend ist wie jenes jetzt nach den Sondierungsgesprächen. Sie müssen dann das Referendum ergreifen. Ob die Abstimmung gewonnen wird, ist höchst ungewiss und wird auch stark vom Verhalten der SVP abhängen. Wie weit sind die Gewerkschaften bereit, in diesem Abstimmungskampf zu gehen? Auch einen Schritt weiter als bisher? Zum Beispiel daran zu arbeiten, einen «Landesstreik» auszurufen, sei es auch «nur» für eine Stunde? Für die Gewerkschaften steht einiges auf dem Spiel, auch ein Teil ihrer Glaubwürdigkeit.

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