Den Plastikwahn stoppen – sofort

lmt. Auf internationaler Ebene sind Verhandlungen für ein Abkommen zur Eindämmung der Plastikproduktion und -verschmutzung am Laufen. Die Schweiz ist auch dabei. Doch ändert sich der Kurs der Verhandlungen nicht, steht eine Katastrophe bevor.

Was hinterlassen wir zukünftigen Generationen, wenn wir Plastikproduktion und -konsum nicht reduzieren? Die Fakten liefern eine eindeutige Antwort: Eine Verdopplung bis Verdreifachung der Plastikproduktion in den nächsten 20 bis 30 Jahren. Infolgedessen wird sich der Plastikmüll in den Meeren ebenfalls bis 2040 verdreifachen. Kunststoffe sind ein essenzieller Bestandteil der modernen Wirtschaft geworden. Ihr Einsatz hat sich in der Hälfte des letzten Jahrhunderts verzwanzigfacht. In fast jedem Produkt befindet sich Plastik. Denn Kunststoffe verbinden unübertroffene funktionelle Eigenschaften mit niedrigen Kosten. Doch ihr Einsatz hat erhebliche Schattenseiten. Schätzungsweise entgehen 32 Prozent oder mehr der Kunststoffverpackungen Sammelsystemen. Sie landen in lebenswichtigen Ökosystemen, wie dem Meer – rund neun Millionen Tonnen jedes Jahr. Mittlerweile sind alle Ozeane von Plastikabfall betroffen. Millionen von Tonnen Plastikmüll treiben in fünf riesigen Müllstrudeln. Der Pazifikstrudel ist fast 40-mal grösser als die Schweiz.

Historische Chance vor dem Abgrund
Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass die Plastikproduktion bis 2024 um mindestens 75 Prozent gesenkt werden muss, damit der Planet und die menschliche Gesundheit gerettet werden können. Aufgrund der Plastikproblematik wurde im März 2022 an der UN-Umweltversammlung eine historische Resolution zur Entwicklung eines internationalen rechtsverbindlichen Instruments zur Bekämpfung der Plastikverschmutzung verabschiedet. Der Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms wurde beauftragt, einen zwischenstaatlichen Verhandlungsausschuss (INC) einzuberufen. Delegationen aus Ländern der Welt sowie NGOs und Vertreter:innen der Öl- und Gaswirtschaft sind an den insgesamt fünf Verhandlungsrunden vertreten. Wie zynisch, dass diejenigen, welche sich mit Kunststoffen eine goldene Nase verdienen, an den Verhandlungen mitwirken können. Die Schweiz ist ebenfalls Teil des Ausschusses und in der «High Ambition Coalition». Die Koalition fordert griffige und internationale Interventionen entlang des gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen zur radikalen Eindämmung der Plastikproduktion.
Der INC nahm seine Arbeit in der zweiten Jahreshälfte 2022 auf, mit dem Ziel, die Verhandlungen bis Ende 2024 abzuschliessen. Die fünfte und letzte Tagung des INC ist für Ende November geplant. Das Ziel ist es, international geltende Regelungen zur Eindämmung der Plastikproduktion und -verschmutzung auszuarbeiten, die den gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen, einschliesslich seiner Herstellung, Gestaltung und Entsorgung, berücksichtigen. Doch bis anhin liefern die Verhandlungsrunden enttäuschende Ergebnisse. Die Verhandelnden geben dem Druck der Öl-, Gas- und Chemieunternehmen nach. Es wurden Kompromisse eingegangen, welche keine Reduktion der Plastikproduktion berücksichtigen. Solange die Staaten mehr auf die Lobbyist:innen der petrochemischen Industrie als auf die Wissenschaftler:innen hören, ist ein nutzloses Abkommen vorprogrammiert.

Die unsichtbare Gefahr
Das internationale Abkommen ist eine historische Chance, um die Plastikverschmutzung anzugehen. Doch wieso ist eine Reduktion der Plastikproduktion so wichtig? Von der Gewinnung von Rohstoffen (Öl, Gas und Kohle) bis zur Entsorgung bedroht Plastik die Gesundheit von Menschen, Wildtieren und verschärft die Klima- und Biodiversitätskrise. Es zerfällt zu Mikroplastik, das überall ist: in den Ozeanen, den Flüssen und im Schnee in unseren Bergen. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit. Mittlerweile wird in allen Systemen und Organen des menschlichen Körpers Mikroplastik gefunden, selbst in der Plazenta und in der Muttermilch. Zudem enthält Plastik über 16000 Chemikalien. Weniger als sechs Prozent davon sind reguliert. Mehr als 4200 Chemikalien sind bereits als besorgniserregend eingestuft und über 10000 sind bisher nicht auf ihre potenzielle Gefährlichkeit hin untersucht. Dennoch ist der Wissenschaft seit den 1950er-Jahren bekannt, dass Chemikalien in Kunststoffverpackungen und -behältern über die von uns verzehrten Lebensmittel und Getränke in unseren Körper gelangen. Sie können zu Krankheiten, Behinderungen bis hin zum Tod führen.

Und die Schweiz?
Die Schweiz wird im globalen Kontext immer als ein sehr sauberes und organisiertes Land dargestellt. Doch der Schein trügt. Die Fakten-Analyse im Bericht der Organisation OceanCare offenbart ernüchternde Schwachstellen: Die Schweiz verbraucht pro Kopf so viel Plastik wie kaum ein Land der Welt. Ob Verpackungsmüll oder Mikroplastik, der Umweltschaden, der durch Unmengen von Einwegplastik entsteht, ist nicht mit Recycling wiedergutzumachen. Rund 80 Prozent der etwa neun Millionen Tonnen Plastik, die jährlich in die Meere gelangen, stammen vom Festland. Auch aus der Schweiz. Allein die Rhone transportiert rund zehn Kilo Mikroplastik pro Tag aus dem Genfer See ins Mittelmeer. Flüsse sind sozusagen die «Wurzeln der Meere», womit der Meeresschutz vor unserer eigenen Tür beginnt – auch in der Schweiz.

Vom Weg abgekommen
Wohl auch auf diesem Hintergrund erteilte die Regierung im August 2022 der Schweizer Delegation den Auftrag, sich für eine ambitionierte Konvention einzusetzen. «Da die Umweltbelastung in allen Phasen des Lebenszyklus auftritt, sind Massnahmen auf allen Ebenen erforderlich», erklärte der Bundesrat. Die Schweizer Delegation habe sich gemäss Mandat für ein Abkommen einzusetzen, das die Belastung der Umwelt durch Kunststoffe (inklusive Mikroplastik) verhindere und die Gesundheit der Menschen schütze. Dafür soll auch die Produktion von neuem Kunststoff reduziert werden. «Ein weiteres Ziel ist die schrittweise Abschaffung von Kunststoffen, die kaum rezyklierbar sind und problematische Zusatzstoffe enthalten», kündigte der Bundesrat an. Die Schweiz solle sich dafür engagieren, den Einsatz unnötiger Kunststoffe zu begrenzen, dazu gehören etwa vermeidbare Verpackungen und bestimmte Einwegprodukte aus Kunststoff.
Schade nur, dass die Schweiz, obwohl sie Teil der «High Ambition Coalition» ist, ihren Ambitionen nicht treu bleibt. Denn auch sie knickte in den letzten Verhandlungen zugunsten der Öl- und Gaskonzerne ein. Für Joëlle Hérin, Expertin für Konsum und Kreislaufwirtschaft bei Greenpeace Schweiz, die bei den Verhandlungen vor Ort war, ist klar, dass wir in eine Katastrophe laufen. «Ohne weniger Plastik zu produzieren, wird es nicht möglich sein, das Klima, die Artenvielfalt oder unsere Gesundheit zu schützen», erklärt sie. Doch solange die Regierungen es zulassen, dass die Interessen der Fossilindustrie die Verhandlungen lenken, wird das Abkommen die Plastikverschmutzung verschlimmern und den Klimawandel beschleunigen. Denn ohne radikale Massnahmen wird der Plastikwahnsinn nicht zu stoppen sein.

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