Armut als Waffe

Mitarbeitende der PMRS-Gaza stellen das Gesundheitszentrum im Flüchtlingscamp Jabalia nach Angriffen der israelischen Armee wieder instand. Bild: PMRS

flo. Die humanitäre Lage im Gaza-Streifen ist katastrophal. Dennoch hat der Nationalrat mit den Stimmen der Bürgerlichen beschlossen, das Hilfswerk UNRWA nicht mehr zu unterstützen. In Israel ist die Hilfsorganisation gar verboten worden.

Es sind brutale Zahlen: Vier Fünftel aller Bewohner:innen des Gaza-Streifens haben keine Arbeit, mehr als die Hälfte der zwei Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze, rund 680000 Personen sind von «katastrophalem Hunger» betroffen. Laut der UN-Hilfsorganisation OCHA (das Amt für Koordination humanitärer Angelegenheiten) erhielten im August und September eine Millione Bewohner:innen von Gaza keine Lebensmittelrationen mehr. Der aktuelle Krieg in der Region hat die Situation noch um Dimensionen verschlimmert. Es scheint für die israelische Regierung ein Ziel zu sein, die humanitäre Situation im Gaza-Streifen möglichst härter zu machen. So hat in Israel Ende Oktober der Knesset, das israelische Parlament, das Hilfswerk UNRWA verboten. Jetzt mischt am Aushungern aber auch die Schweiz mit: Der Nationalrat beschloss am 9.September im Rahmen der Herbstsession, die Unterstützung für die UNRWA zu kappen.

Vorgeschobene Begründungen
Urheber des Antrags zur Streichung der schweizerischen Unterstützungsgelder an die UNRWA ist der Appenzeller SVP-Nationalrat David Zuberbühler. Er argumentierte, dass die Organisation zwar behauptet, dass in ihren Schulen nicht Toleranz und Menschenrechte gelehrt, sondern Terrorist:innen ausgebildet werden. Was er nicht sagte: Dass für viele Kinder in Gaza ohne die UNRWA gar keine Schulbildung existiert. Der Antrag wurde im tief bürgerlichen Parlament mit 99 zu 88 Stimmen angenommen. Sieben Personen enthielten sich der Stimme. SP, Grüne und GLP waren gegen die Vorlage, die SVP unterstützte sie, die Mitte und der Freisinn waren gespalten.
Sogar der Bundesrat hatte sich gegen die Motion ausgesprochen. Der freisinnige Bundesrat Ignazio Cassis warnte, dass die Vorlage wegen der katastrophalen Situation der humanitären Tradition der Schweiz widerspreche. Vor dem Leid der Menschen in Palästina verschliesst die Mehrheit der Parlamentarier:innen die Augen sehr bewusst. Es geht um insgesamt rund zehn Millionen Schweizer Franken, die dem Hilfswerk künftig fehlen werden. Dabei hatte die Schweiz schon im letzten Dezember ihre Leistungen an die Organisation halbiert. Die Einigungskonferenz von National- und Ständerat hatte sich darauf verständigt. Schon damals hatte Zuberbühler für die Streichung der Hilfsgelder argumentiert. Dabei war der damalige Einschnitt aber weniger konkret: Es wurde nicht direkt bei der UNRWA angesetzt, sondern beim allgemeinen Kredit des Departements des Äusseren. Zusätzlich beschloss man eine Auszahlung in Tranchen, sowie den Grundsatz, dass Hilfsgelder einzig der Zivilbevölkerung zugutekommen dürften. Auch in den USA und dem Vereinigten Königreich beschloss man, das Hilfswerk nicht mehr zu unterstützen.

Schwarz oder Weiss
Die Polarisierung, die Zuspitzung der Situation seit dem 7. Oktober 2023 im Nahen Osten, ist ziemlich beispiellos. Und auch im Westen scheint es nur noch zwei Optionen zu geben: Für Israel oder für Palästina zu sein – wer sich in dieser Situation für die Lage der im Gaza leidenden Massen ausspricht, handelt sich so gelegentlich den Vorwurf ein, Terrorismus zu unterstützen. Dabei ist die UNRWA nicht nur in Gaza aktiv, dem einzigen Ort in der Region, in der die Hamas, die für den Angriff vom 7.Oktober 2023 verantwortlich ist, auch an der Macht ist. Das bestätigt auch die SRG-Auslandskorrespondentin Susanne Brunner in einem Interview auf srf.ch: «Die UNRWA betreut nicht nur palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachkommen im Gaza-Streifen und im Westjordanland, sondern auch in Ostjerusalem und in Jordanien, Libanon und Syrien.» Und sie fügte hinzu: «Vor allem im kriegsversehrten Syrien und im verarmten Libanon würde das Wegbrechen der UNRWA ein noch grösseres Flüchtlingselend bedeuten. Das hätte wiederum Auswirkungen auf die ganze Region.»

Zynismus und Heuchelei
Es geht um mehrere Hundert Millionen, die in mehreren Parlamenten für das Hilfswerk gestrichen werden. Die Vorstellung jedoch, dass man dem Terrorismus so in Palästina den Boden entziehen könnte, ist unglaublich naiv und weltfremd. Dabei muss klar sein, dass der aktuelle Krieg in Gaza die internationale Hilfe bereits massiv erschwert hat: Die Zerstörung von Infrastruktur, die Blockade zu Land und zur See, die Flucht von Hunderttausenden hat die effektive Leistung von Hilfe schon massiv erschwert. Die 13000 Mitarbeitenden der UNRWA haben in den letzten 13 Monaten Arbeit geleistet, die durch keine andere Organisation übernommen werden könnte. Und hier zeigt sich der Zynismus und die Heuchelei des Nationalrats noch viel klarer: Neben dem Vorstoss Zuberbühler gab es noch einen weiteren, der die UNRWA treffen sollte. Denn der Vorstoss der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats verlangte, die Schweiz solle statt der UNO-Organisation die Nothilfe durch andere Organisationen im Gaza-Streifen direkt unterstützen. Auch dieser wurde angenommen.

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