Arbeitskampf im Baugewerbe
sit. Auf den Baustellen kommt es landesweit zu Protesttagen, an denen die
Arbeit niedergelegt wird. Die Arbeiter*innen fordern mehr Schutz sowie eine Lohnerhöhung und wehren sich gegen die Verschlechterungen ihrer Arbeits-bedingungen. Der Kampf kommt in seine entscheidende Phase.
«Das Resultat der Abstimmungen, an der über 20’000 Bauarbeiter in allen Landesteilen teilgenommen haben, ist eindeutig: Über 92 Prozent sprachen sich für Streikmassnahmen aus. Denn der Baumeisterverband greift bei den aktuellen Verhandlungen zum auslaufenden Landesmantelvertrag (LMV) ihre Rechte frontal an», informiert die Gewerkschaft Unia in ihrer Medienmitteilung vom 13.Oktober. Sie ist faktisch die Ankündigung der bevorstehenden Protesttage in der ganzen Schweiz. Der Beginn machte die Region Tessin am Montag, 17.Oktober, am 11.November werden die Bauarbeiter*innen in der Nordwestschweiz, am 7. und 8.November jene in der Romandie und am 11.November in Zürich, Bern sowie in der Zentral- und Ostschweiz die Arbeit niederlegen.
So nicht!
Es geht bei den aktuellen Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und dem Schweizerischen Baumeisterverband (SBV) um sehr viel: Der LMV, der Gesamtarbeitsvertrag der Bauarbeiter*innen, wird gänzlich neu verhandelt. «Die Baumeister wollen die geltenden Bestimmungen zur Arbeitszeit abschaffen. Künftig wären dann 12-Stunden-Arbeitstage und Arbeitswochen von 58 Stunden üblich», informiert die Unia in der Medienmitteilung weiter.
Die Abschaffung der geltenden Bestimmungen zur Arbeitszeit, wie es die Baumeister fordern, wäre fatal für die Bauleute. «Die Chefs könnten künftig kurzfristig anordnen, ob, wann und wie lange gearbeitet wird», erklärt die Gewerkschaft. Die Folgen? Katastrophal für die Arbeiter*innen auf dem Bau. Die Arbeitszeit wäre nicht mehr planbar und die Lohnabhängigen müssten auf Abruf arbeiten. Und: «Ausgerechnet im Sommer droht den Arbeiter*innen auf dem Bau, dass sie bei grösster Hitze noch längere Tage auf der Baustelle arbeiten müssen. Darunter würde die Gesundheit weiter leiden. Die radikalen Forderungen der Baumeister*innen stehen gar im Widerspruch zum Arbeitsgesetz», schreibt die Unia.
Gesundheit steht nicht zum Verkauf
Dass die Baubosse die Sache mit der Arbeitszeit bereits jetzt nicht so ganz genau nehmen, zeigt Folgendes: Heute werden pro Tag bis zu 30 Minuten Reisezeit von der Firma bis hin zur Baustelle nicht bezahlt – hochgerechnet macht das mehr als zwei Wochen unbezahlte Arbeitszeit pro Jahr. Dies sei «illegal», hält die Unia fest. In der Tat: Diese Regelung zur Arbeitszeit ist eine der wenigen Bestimmungen des LMV, die vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) nicht als allgemeinverbindlich erklärt wurde. Dies, weil sie mit dem Arbeitsgesetzt nicht vereinbar ist. Trotzdem bestehen die Baumeister*innen darauf.
Angesichts der Teuerung fordern die Bauarbei-ter*innen eine Reallohnerhöhung. Der SBV knüpft diese aber an die Abschaffung der geltenden Bestimmungen zur Arbeitszeit. «Wir lassen uns sicher nicht kaufen mit einer einmaligen Lohnerhöhung, die an Verschlechterungen im LMV für die nächsten Generationen gebunden ist.», sagt dazu Chris Kelley, Co-Leiter Bau der Gewerkschaft Unia, auf Anfrage des vorwärts. Der Kollege fügt hinzu: «Einen Abschluss ohne Lohnerhöhung kommt für uns nicht infrage. Die Bauarbeiter*innen verdienen aufgrund der Teuerung so oder so eine Lohnerhöhung – doch ihre Gesundheit steht nicht zum Verkauf. Gegen die Angriffe der Chefs werden wir kämpfen.»
Kampfbereitschaft an der Basis
Die Fronten sind verhärtet, vielleicht sogar so wie schon seit Jahren nicht mehr. Und klar ist auch, dass die Protesttage den weiteren Verlauf der Verhandlungen und den Abschluss stark beeinflussen werden. Von grösster Bedeutung ist daher der Kampfwille der Bauarbeiter*innen – und der ist gross. In Lausanne nahmen an der Versammlung der Gewerkschaft Unia rund 900 Baukolleg*innen teil, eine sehr hohe, ja gar rekordverdächtige Zahl. Und die Versammlung beschloss gar zwei Protesttage durchzuführen, anstatt es bei einem zu belassen. Ein deutliches Zeichen, dass die Wut bei den Direktbetroffenen enorm ist.
In Zürich trafen sich am 5.Oktober rund 200 Bauarbeiter*innen im Volkshaus. Und auch hier: «Bei der Abstimmung sagte eine riesige Mehrheit Ja zum Streik», bestätigt der junge Bauarbeiter Marius Käch, der vor Ort war, dem vorwärts. Käch, der auch Mitglied der Verhandlungsdelegation der Unia ist, sagte in seiner Rede: «Gerne würde ich euch von den Verhandlungen ein paar schöne Sachen erzählen, doch was die Baumeister fordern, ist katastrophal.» Und: «Wenn die Baumeister so weiter machen, werden wir sogar den ganzen LMV verlieren. Kurz gesagt: Uns stehen harte Zeiten bevor.» Folgerichtig rief der junge Gewerkschaftsaktivist seine Kolleg*innen zum Kampf auf: «Schaut euch um. Hunderte sind wir heute hier an diesem Abend, Zehntausende sind wir in der ganzen Schweiz. Wir haben die Kraft, ganze Städte zu blockieren und die Baubranche zum Stillstand zu bringen.»
Warn- und Branchenstreiks
Wie geht es weiter nach den Protesttagen? Die letzte Verhandlungsrunde zwischen den Gewerkschaften und dem SBV ist für den 14.November vorgesehen. Unlogisch ist daher, dass die Delegiertenversammlung des SBV, die über ein allfälliges Verhandlungsresultat entscheiden würde, bereits am 11.November stattfinden wird.
Steht der Entscheid bei den Baubossen bereits vor der letzten Verhandlungsrunde fest? Wollen sie ihre Drohungen eines vertragslosen Zustands wahrmachen? Es darf spekuliert werden. Wenn ja, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es zu einem vertragslosen Zustand ab 1.Januar 2023 kommen wird. Falls dem so sein wird, werden die Gewerkschaften umgehend zu ersten Warnstreiks im Januar mobilisieren, sowie zu einem Branchenstreik im Frühling.