1 zu 0 für die KlimaSeniorinnen
lmt. Im April 2023 führte der vorwärts ein Interview mit Oda Müller, Vorstandsmitglied des Vereins KlimaSeniorinnen. Damals hatten sie gerade den Schweizer Staat am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt. Nun, ein Jahr später, folgte das Urteil. Wir fragten bei der Klimaseniorin nach.
Oda, was ist seit unserem letzten Interview, sprich eurer Reise nach Strasbourg geschehen?
Nach der Anhörung in Strasbourg hatte sich so ziemlich alles verändert. Wir erhielten ganz viele Interview-Anfragen, Einladungen für Podiumsdiskussionen und noch vieles mehr. Ausserdem waren wir ein zweites Mal in Strasbourg für die Anhörung der Jugendlichen aus Portugal. Da haben wir gemeinsam Fotos gemacht und ihnen ein Banner gemalt, um zu zeigen, dass wir uns mit ihnen verbinden. Es war ein sehr herzlicher Moment und es brachte uns dem Gerichtshof etwas näher. Beim zweiten Mal fühlte man sich auch nicht mehr so fremd und erschlagen von diesem riesigen Gebäude. Uns wurde bei unserer Anhörung mitgeteilt, dass der Entscheid des Gerichtshofes voraussichtlich in einem Jahr, also im 2024, fallen würde. Aber ein genaues Datum wurde nicht bekannt gegeben. Das bildete immer eine Unsicherheit. Trotzdem kann gesagt werden, dass die Spannung mehr und mehr stieg. Erst recht, als das neue Jahr anbrach. Im Februar kam dann die Mitteilung, dass im Frühling das Urteil erfolgen würde. Und dann plötzlich, am 9.April, war es so weit. Wir waren alle sehr gespannt darauf, aber auch völlig überrumpelt. Denn wir erfuhren zwei Wochen im Voraus, so wie sie es angekündigt hatten, wann die Urteilsverkündung sein würde. So mussten wir in Windeseile noch alles Nötige organisieren und fertigstellen. Für uns war klar, dass wir alle dorthin fahren würden, zusammen mit den Begleiter:innen von Greenpeace und unseren Anwält:innen.
Wie hast du die Urteilsverkündung erlebt?
Wir reisten bereits einen Tag früher an, da noch eine grosse Sitzung mit allen Beteiligten anstand, über unser Vorgehen. Am Tag der Urteilsverkündung mussten wir sehr früh aufstehen, da das Urteil am Vormittag verlautbart werden würde. Als wir ankamen, waren schon viele Leute und vor allem Medienschaffende vor Ort. Es waren ja bereits bei der Anhörung viele Medienschaffende anwesend, aber am Tag der Urteilsverkündung kam es mir vor, als wären es noch mehr. Das war unglaublich. Um 9.15 Uhr konnten wir rein gehen. Es ist wie am Flughafen, man muss den Pass abgeben, die Taschen zeigen und durch so einen Metalldetektor gehen. Daraufhin sind wir in den grossen Gerichtssaal. Die Spannung stieg von Minute zu Minute. Ich habe erwartet, dass alle Richter:innen kommen würden, aber es war nur die Vorsitzende mit einem Beisitzer anwesend. Der Gerichtsdiener kündete dann «La Cour» an und wir mussten alle aufstehen. Die Vorsitzende kam rein und wir konnten uns wieder setzen. Und dann begann sie zu sprechen. Ich habe mich extrem angestrengt, das juristische Englisch zu verstehen. Ich sass zuvorderst auf dem Stuhl und war wahnsinnig gespannt. Und ich meinte dreimal «Article 8» verstanden zu haben. Das war ja das, was wir uns zwar nicht hätten vorstellen können, aber sehr wünschten. Aber ich dachte, nein das kann nicht sein, ich habe sicher falsch verstanden. Dann ist die Vorsitzende wieder aufgestanden und hat den Saal verlassen. Daraufhin hat mich Lou, eine englischsprachige Juristin, welche neben mir sass, umarmt. Und da wusste ich, ich hatte richtig verstanden. Wir haben gewonnen! Artikel 8 der EMRK wurde gutgeheissen. Das betrifft das Privatleben und darin ist die Gesundheit eingeschlossen. Das war ein unbeschreiblicher Moment. Wir fielen uns alle um den Hals. Ich glaube, so einen Tag wie diesen erlebt man nur einmal im Leben.
Ja, deine Freude ist auch jetzt zu spüren. Wie ging es weiter?
Unsere Jurist:innen haben das 260 Seiten lange Urteil überflogen und die wichtigsten Punkte herausgepickt. Sie unterrichteten uns, was wir den Medien sagen sollen und wie. Daraufhin verliessen wir den Gerichtssaal und gingen die grosse Treppe nach unten. Da entstand auch das Bild, welches in den Medien die Runde machte. Cordelia Bähr, die leitende Juristin, gab eine kurze Medienkonferenz, dann kamen die Einzelinterviews. Anschliessend gab es einen Apéro in unserem Hotel. Mein Telefon ist heute noch voll mit Glückwünschen. Alle, die mich kennen und es gut meinen, haben mir geschrieben. Ich kann genau unterscheiden, wer es nicht gut findet, dass wir gewonnen haben: Denn diese sagen und schreiben nichts.
Was bedeutet die Entscheidung des EGMR für die Schweiz?
Der Bundesrat nahm das Urteil bereits zur Kenntnis. Er liess verlauten, dass er das Urteil sehr genau studieren würde. Ich denke, der Bundesrat muss Anpassungen vornehmen und Gesetze erlassen. Und er wird dabei kontrolliert, sicher von, uns aber auch vom Minister:innenrat des Europarates. Das sind Aussenminister:innen von Europa, denen der Bundesrat Bericht erstatten muss, über die erfolgten Anpassungen. Das beruhigt uns sehr, dass es nicht allein auf unseren Schultern lastet. Dies gilt für die Schweiz, aber das Urteil betrifft ganz Europa. Sehr viele Gerichte haben auf so ein Urteil gewartet, auf welches sie sich nun berufen können.
Gab es noch weitere Urteile?
Die portugiesischen Jugendlichen haben vor Gericht verloren und waren dementsprechend enttäuscht. Die Begründung war, dass sie sich direkt an den EGMR gewandt haben, ohne die Instanzen in Portugal durchgegangen zu sein. Aber die Jugendlichen haben realisiert, dass sie sich in ihrem Land vor Gericht auf unser Urteil stützen können. Es gab noch einen dritten Fall, eines französischen Bürgermeisters. Er klagte gegen den Staat Frankreich, weil sein Dorf vom Meer überspült zu werden droht. Aber da er nun Europaabgeordneter ist und in Brüssel lebt, verfügt er nicht mehr über den nötigen Opferstatus. Und unsere Einzelkläger:innen bekamen auch kein Recht. Dazu habe ich mir überlegt, dass das EGMR das Urteil so formulierten, dass Vereine und Verbände klagen können und keine Einzelpersonen. Ich glaube, ansonsten würden die Gerichte überschwemmt werden. Man muss sich also zusammenschliessen, damit man klagen kann. Das ist wohl reine Formsache.
Was muss die Schweiz nun konkret für die älteren Personen unternehmen?
Was die Schweiz für Massnahmen ergreifen muss, wird vom Gericht nicht vorgeschrieben. Das muss sie selbst entscheiden. Aber aus unserer Sicht muss sie ganz sicher jegliche Projekte und Handlungen stoppen, welche die Klimaerwärmung vorantreiben. Dazu gehört der Ausbau der Autobahn. Dann muss der Flugverkehr eingeschränkt, Kerosin besteuert werden und so weiter. Das sind natürlich alles sehr unbeliebte Massnahmen, aber notwendige. Wir werden wahrscheinlich auf die Strassen müssen, Flyer verteilen und Unterschriften sammeln. Das machen wir natürlich.
Wie geht es jetzt eurerseits weiter?
Das ist eine Frage, die immer kommt und auf die ich leider noch keine Antwort geben kann. Ganz klar ist, dass wir den Verein nicht auflösen werden. Ende April haben wir eine Vorstandssitzung, an der genau diese Frage das Hauptthema sein wird. Aktuell sind wir noch mit Interviews beschäftigt. Da jetzt die Anspannung gefallen ist, ist es schön und locker. Wir wussten die ganze Zeit über, dass wir etwas Gutes machen. Aber, dass es die andern auch so sehen, vor allem der Gerichtshof, ist unbeschreiblich. Es ist auf jeden Fall ein mutiger Entscheid.