Gewalt und Elend des Patriarchats

dab. Die bürgerliche Gesellschaft ist trotz Gendermode und Übersexualisierung feindlich gegenüber einer freien Sexualität, einer freien Wahl der sexuellen Neigung sowie der Geschlechteridentität und klammert sich an Diskriminierungen und starre Geschlechterrollen. Befreiung kann nur durch die Beseitigung von Patriarchat und Kapitalismus gelingen.

Eine Gruppe Jugendlicher neben mir im Bus. Die Mädchen sexy modisch angezogen, frisiert und geschminkt, die Knaben rustikal modisch. Ein Mädchen zeigt auf dem Handy ein Logo mit dem Kürzel LGBTIQ (Lesbian, Gay, Bi-, Trans-, Intersexual, Queer) auf Regenbogenhintergrund herum. Niemand weiss, wofür die Buchstaben stehen. Bisher habe ich mich aus dem Gespräch herausgehalten, verzichte aber nicht darauf, das Rätsel zu lösen. Darauf bricht die Verachtung der Jugendlichen hervor: «Ich hasse solche Leute», ruft eine Jugendliche empört. «Gott erlaubt das nicht», sagt einer und schlägt sich dabei wuchtig die Faust aufs Herz, «sie werden alle in der Hölle brennen!». Kritische Nachfragen und Bemerkungen zeigen keinen Effekt; ich denke, sind wir eigentlich im 21. Jahrhundert oder im finstersten Mittelalter, und bin froh, dass ich bei meiner Haltestelle angekommen bin und aussteigen kann.
Im Frühjahr protestierten 185 Schauspieler*in-nen mit einem viel beachteten Manifest im Magazin der «Süddeutschen Zeitung» gegen anhaltende Diskriminierung von LGBTIQ-Künstler*innen. Darin belegen sie mit ihren Erfahrungen, dass Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle in ihrem Beruf benachteiligt werden. Auch in Theater- und Filmproduktionen grassieren Unverständnis und Diskriminierung. Es beginnt bereits bei den Figuren in den Drehbüchern, bei denen meist mit Stereotypen und Klischees gearbeitet wird. Dazu kommt, dass ein als Schwuler bekannter Schauspieler darf oft keinen Ehemann und Vater darstellen, um ja nicht das Publikum zu beunruhigen oder zu schockieren. Eine lesbische Schauspielerin bekommt eher eine Rolle als harte Frau als als liebevolle Mutter.

Gedankenlosigkeit, Konformismus
Dieses durch die Aktion der 185 deutlich gemachte, vertuschte Problem kommt aus dem Patriarchat.Das heisst den ökonomischen, politischen und sozialen Machtstrukturen. Diskriminierungen wegen Herkunft, Sprache, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Religion, Behinderung und sexueller Orientierung sind partriarchale Machtstrategien und Instrumente, um Konkurrent*innen im Wettbewerb zu deklassieren und auszuschalten – und um die Klassengesellschaft zu festigen.
Diskriminierungen sind Verletzungen der Grundrechte von Personen und Gruppen. Sie äussern sich in Ironie, Spott, Beleidigungen, institutionalisierter und manifester Gewalt. Diskriminierung ist tief verwurzelt und geschieht deshalb trotz ersten in Gesetzen festgehaltenen Diskriminierungsverboten und der medialen Beliebtheit des Themas. Diskriminierung wird im Alltag von vielen verdrängt und geschieht aus Gedankenlosigkeit und Konformismus. Je reicher und mächtiger man ist, desto besser kann man sich Diskriminierungen entziehen. Mit dem verbreiteten diskriminierenden Verhalten wird die Zahl der Nicht-Heteronormativen mit der Angst vor Blossstellung sowie vor sozialer und wirtschaftlicher Isolation tief gehalten. Bei der Diskriminierung der Frauen*, der Hälfte der Bevölkerung, kann die diskriminierte Bevölkerungsgruppe nicht kleiner, aber gefügiger gehalten werden. Die Gemeinsamkeit beider Bevölkerungsgruppen ist, dass Emanzipation und Gleichstellung mit enormem Aufwand verbunden sind, um die Diskriminierung und die eigene Verletzlichkeit in Schulen, bei der Arbeit und im Mietshaus, im Umgang mit Behörden und Medien einigermassen wett zu machen.
Sexarbeiter*innen leben heute oft möglichst diskret und in gesellschaftlicher Isolation, um sich vor Diskriminierung und Vertreibung zu schützen. Sexarbeit ist ein Massenphänomen, von Männern heimlich frequentiert. Es gibt Feministinnen, die Sexarbeiter*innen unterstützen, beraten und sie über ihre Rechte aufklären. Andere Feministinnen brauchen nicht den Begriff «Sexarbeit» und finden vehement, «Prostitution» müsse verboten und die Freiersbrut gebüsst werden, da «Prostituierte» ausgebeutet würden. Mit derselben Begründung müsste alle Arbeit im Kapitalismus verboten werden. In allen Berufen stürzt man sich auf die positiven Seiten der Arbeit und behauptet glücklich zu sein. Und blendet Wettbewerb, Entmündigung, Prostitution und Ausbeutung aus, arrangiert sich irgendwie damit und bezahlt einen hohen Preis für ein «ehrlich» erarbeitetes Erwerbseinkommen und soziale Akzeptanz.

Wichtiges Ventil verstopft
Die sich fortschrittlich und feministisch vorkommenden Moralist*innen müssen die Sexarbeit vielleicht bald nicht mehr verbieten lassen. Sie ist eingeschränkt und zeitweise verboten mit den strengen Hygienemassnahmen. Ein wichtiges Ventil für das Funktionieren der sexualrepressiven, patriarchalen kapitalistischen Gesellschaft wird damit immer wieder verstopft. Ein wichtiger Ausgleich für die neurotischen Beziehungen in den künstlichen, entfremdeten bürgerlichen Kleinfamilien-, Zweierkisten- und Arbeitsstrukturen fehlt. Die bereits vorhandene repressive Sexualmoral entfaltet sich unter diesen verschärften Bedingungen noch besser.
Die Menschen sind isoliert, Ausgang, Flirten, Liebesabenteuer, Parties, Open-airs und Sportveranstaltungen sind Schnee von gestern. Die Angst vor Ansteckung mit dem Killervirus dürfte sogar in Ehebetten grassieren. Also wird Sexualität noch stärker in die Virtualität des Web abgedrängt, Pornokonsum und Sexchats boomen – Business, Überwachung und Registrierung auch.

Klassenkampf und Umverteilung
Dringend nötige Zusatzeinkommen durch Sexarbeit im reichen Norden brechen in den stark ausgebeuteten Dritte-Welt-Ländern zeitweise weg. Diese Länder haben in der globalen Pandemie noch stärker als die reicheren Länder mit intensiviertem Klassenkampf von oben und beschleunigter Umverteilung nach oben zu kämpfen.
Erst wenn Kapitalismus und Patriarchat beseitigt und überwunden sind, wird Sexarbeit überflüssig und die von der Heteronorm abweichenden sexuellen Neigungen und Geschlechteridentitäten können offen, angstfrei und gleichberechtigt gelebt werden.

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