Er sei kein Marxist, liess der aus Argentinien stammende Papst Franziskus am 15. Dezember in einem Interview in der Sonntagsausgabe der italienischen Tageszeitung «La Stampa» wissen. Er reagierte damit auf Vorwürfe aus rechtskonservativen Kreisen in den USA. Ein US?amerikanischer Radiomoderator hatte nach der Veröffentlichung des jüngsten Apostolischen Sendschreibens «Evangelii gaudium» («Freude des Evangeliums») verbreitet, dass das, was da vom Papst zu hören war, «purer Marxismus» gewesen sei.
In dem Stampa-Interview erklärte Franziskus nun dazu, dass seine Botschaft mit den scharfen kapitalismuskritischen Äusserungen, die nicht nur von konservativen Kirchenkreisen, sondern auch von Vertretern der «Wirtschaft» heftig kritisiert worden waren, in der Soziallehre der katholischen Kirche ihre Grundlage habe. Dass er sich so geäussert habe, mache ihn noch nicht zum Marxisten. Die «Ideologie des Marxismus» sei seiner Ansicht nach «irrig». Doch er fügte auch hinzu: «Ich habe in meinem Leben viele Marxisten getroffen, die gute Menschen waren». Darum fühle er sich durch die gegen ihn geäusserte Kritik «nicht angegriffen». Das Versprechen des Kapitalismus, dass der Reichtum irgendwann auch bei den Armen ankomme, habe sich nicht erfüllt.
Wie aus Kreisen seiner Umgebung aus diesem Anlass mitgeteilt wurde, sei Franziskus zwar nie ein Ultrakonservativer gewesen, aber den Jesuitenpatern in Lateinamerika, die sich von der «Theologie der Befreiung» her marxistischen Ansichten näherten, sei er entschieden entgegengetreten. Anstelle der in den 70er Jahren in Lateinamerika verkündeten «Theologie der Befreiung» habe er eine nichtmarxistische «Theologie des Volkes» verfochten.
In dem Sendschreiben «Evangelii gaudium» hatte der Papst umfangreiche Überlegungen zu einer religiösen und moralischen «Erneuerung» der Kirche in den Mittelpunkt gestellt. Die kritischen Aussagen zu den Missständen des heutigen Wirtschaftssystems waren Teil dieser Modernisierungsbestrebungen. Unter anderem heisst es da wörtlich: «Ebenso wie das Gebot ‹Du sollst nicht töten› eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein ‹Nein zu einer Wirtschaft der Ausschliessung und der Disparität der Einkommen› sagen. Diese Wirtschaft tötet… Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann… Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen».
Vom marxistischen Standpunkt aus ist es eine Frage von nachgeordneter Bedeutung, ob die Kapitalismuskritik ihre Quelle in der katholischen Soziallehre oder in der marxistischen Gesellschaftsanalyse hat. Entscheidend ist, welche Schlussfolgerungen daraus für das heutige Handeln der Menschen zur Überwindung dieser menschenunwürdigen Zustände gezogen werden und ob sich daraus Möglichkeiten eines stärkeren gemeinsamen Vorgehens von Katholiken mit Kommunisten, Sozialisten und anderen Linken ergeben können