Geneva Moser, Matthias Hui, Kurt Seifert. Macht es noch Sinn, im 21.Jahrhundert von Sozialismus zu sprechen? Woher kommt Hoffnung auf eine solidarische Gesellschaft? Ein Gespräch mit Maja Hess, Hauptrednerin am diesjährigen 1.Mai in Zürich, Feline Tecklenburg, geschäftsführende Co-Vorständin von «Wirtschaft ist Care» und dem kommunistischen Philosophen Michael Brie. Teil 2.
Feline Tecklenburg, wie kommen wir zu einer solchen Gesellschaftsform, in der die individuelle und die kollektive gesellschaftliche Ebene so verbunden sind, dass sich die Menschen nicht mehr zwischen der einen und der anderen entscheiden müssen?
Feline Tecklenburg: Eine spannende Frage. Ich habe den Schilderungen von Michael Brie über die Erfahrungen in sozialistischen Gesellschaften aufmerksam zugehört. Wenn sich Menschen hinter ein Ziel stellen, müssen sie meiner Meinung nach wissen: Ich tue es in Freiheit, ich habe eine Wahl. Deshalb frage ich mich, ob die Suche nach einer anschlussfähigen politischen Perspektive leichter fällt, wenn man den Fokus verschiebt, weg von einem Begriff wie «Sozialismus» zu einer funktionalen Fragestellung. Wirtschaft ist eine Verteilungsaufgabe, es geht um die Versorgung von Menschen und die Erhaltung des Planeten. Also ist die Wirtschaft erst mal Sorgearbeit. So können wir sehr pragmatisch fragen, was Menschen je nach ihren Bedürfnissen brauchen, um ein gutes Leben führen zu können. Im Frühjahr fand in der Umgebung von Berlin die Vergesellschaftungskonferenz statt. Die Organisator:innen benannten die Konferenz sehr clever: «Let’s socialize – Vergesellschaftung als Strategie für Klimagerechtigkeit». Damit haben sie das Gemeinwirtschaftliche, das Sozialisierende benannt, ohne sich direkt auf Sozialismus zu beziehen.
Michael Brie: Ich teile das. Man könnte das auch Sozialismus der Freiheitsgüter nennen. Unter dem Gesichtspunkt von globaler Ökologie und Gerechtigkeit müssen dabei Wahlmöglichkeiten drastisch verändert werden, es müssen neue geschaffen und andere abgeschafft werden. Wovor man sich nicht drücken darf, angesichts des zeitlichen und existenziellen Drucks aktueller Krisen: Es muss auch Zwang organisiert werden. Dieses Moment können wir gerade in langwierigen Transformationsprozessen nicht einfach verdrängen. Mit solchen Fragen hatten es auch die Sandinist:innen, die russischen Bolschewiki oder die Kommunisten in China zu tun. Wir können nicht nur von der individuellen Wahlfreiheit her denken, das ist es ja auch, was Sie zum Thema «Sorge» beschreiben. Wir müssen von einem Gesamten ausgehen, das noch gar nicht da ist. Können wir diesen Widerspruch auflösen?
Feline Tecklenburg: Sorge ist etwas, was alle angeht. Jede:r ist zur Welt gekommen, alle sind grossgezogen worden, alle müssen sich ums Überleben kümmern. Natürlich hat, plakativ gesagt, der Millionär damit weniger zu kämpfen als Personen, die kein Geld zur Verfügung haben. Aber frei sind wir nur in Abhängigkeit von anderen, wir werden in Bezogenheit aufeinander geboren und können nur frei agieren, wenn wir uns der Abhängigkeit bewusst sind. Das Verständnis von Freiheit als absoluter Unabhängigkeit ist eine Illusion. Zum Zwang: Wenn das eine reiche Prozent seine Bedürfnisse gegen die 99 Prozent durchsetzt, wird auch Zwang ausgeübt. Bei gerechter Verteilung geht es darum zu verstehen, was wir gewinnen, und nicht, was wir verlieren.
Michael Brie: Das ist mir zu harmlos. Die christliche, die jüdische Tradition spricht vom Gott der Gerechtigkeit, und das war ein ziemlich harter, auch strafender Gott. Ich sage das deshalb, weil ich oft das Gefühl habe, dass, wenn wir über Utopien nachdenken, wir uns vor diesen Widersprüchen zwischen Individuum und Gemeinschaft und durchaus auch vor der Härte, die mit der Realisierung der Utopie verbunden sein kann, drücken. Wie zwingen wir uns selbst, wie zwingen wir uns miteinander? Ich habe das Gefühl, wir machen es uns zu einfach. Maja Hess, Sie werden das in Nicaragua erlebt haben.
Maja Hess: Ich diskutiere Begriffe wie Freiheit, freie Wahl, Individualität aus dem Kontext meines Aufwachsens in einem kapitalistischen System heraus. Meine subjektive Wahrnehmung, auch meine Psyche, meine Verfassung, meine Emotionalität, meine Beziehungen sind durchtränkt vom kapitalistischen System. Wenn alle um mich herum in einer bestimmten Weise funktionieren, ist es für mich sehr schwierig, anders zu funktionieren. Kürzlich hat mir Lolita, eine Quiché-Frau aus Guatemala, eine eindrückliche Geschichte erzählt. Indigene Feministinnen waren gemeinsam mit ihr, einer Leaderin unter den indigenen Frauen, in einem Bus unterwegs. Lolita hatte bereits mehrere Todesdrohungen von Paramilitärs erhalten. Der Bus wurde von Bewaffneten angehalten. Sie schrien in den Bus: «Wer ist Lolita?» Lolita wollte sich erheben. Da flüsterte die Frau neben ihr, indem sie sie zurück in den Sitz drückte: «Du stehst nicht auf, du wirst umgebracht, wenn du aufstehst.» Dann sagte eine andere Frau: «Ich bin Lolita.» Sie wurde aus dem Bus gezerrt und draussen verprügelt, sie verlor drei Zähne. Darauf die nächste Frau: «Ich bin Lolita.» Auch sie wurde verprügelt. Am Schluss waren alle Lolita. Um die eine Frau zu schützen, setzten sich alle Frauen der Gefahr aus, umgebracht zu werden, und erfuhren massive Gewalt. Gleichzeitig konnte eine der Frauen die Gemeinden vor Ort alarmieren. Die Leute eilten aus den Dörfern herbei, mit Hacken, Spaten, Steinen – Kinder und Erwachsene. Daraufhin zogen die Bewaffneten ab. Eine solche Geschichte kann ich mir hier nicht vorstellen. Das ist vielleicht diese Härte, die politische Konsequenz, von der Sie, Micha Brie, vorher gesprochen haben. Das kollektive Moment des Widerstands dieser Frauen ist aus einer anderen individuellen und kollektiven Wahrnehmung als unserer hier im Westen heraus entstanden.
Maja Hess, in Rojava, versucht die vor allem kurdische Bewegung, mit einem konföderalen, basisdemokratischen System die Bevölkerung in wichtige Entscheidungen einzubeziehen und ein multiethnisches und -religiöses Zusammenleben zu ermöglichen. Ist das ein Ort, an dem der Sozialismus erprobt wird? Wie viel Zwang steckt in diesem Versuch?
Maja Hess: In der kurdischen Bewegung habe ich viele kollektive Strukturen kennengelernt, die mich beeindruckt haben. Etwa im Frauendorf Jinwar. In diesem Dorf werden alle Einkünfte, egal, woher sie kommen, in einen Topf geworfen, und das Geld wird entsprechend den Bedürfnissen der Frauen und ihrer Kinder verteilt. Die Frauen versuchen, eine kleine landwirtschaftliche Produktion aufzubauen. Beziehungen werden aktiv, kollektiv gestaltet: Wie gehen wir miteinander um? Wie gestalten wir unser Leben? Faszinierend ist für mich der Versuch, in der ganzen Gesellschaft in den kurdischen Gebieten die Frauenbefreiung umzusetzen. Politische Partizipation von Frauen wird vorangetrieben, unter anderem durch eine Regelung, dass überall eine Frau und ein Mann an der Spitze einer Organisation, Partei und so weiter stehen. Kollektive Strukturen werden aufgebaut, indem Frauen zum Beispiel beginnen, in Wohngemeinschaften zusammenzuleben, nicht mehr im Clan und im patriarchalen System. Das schafft für viele, gerade junge Frauen einen Raum der Freiheit als Alternative zu den vorgezeichneten Wegen: heiraten, Kinder haben, sich unterwerfen. Natürlich gibt es Widersprüche und Widerstand. Nicht alle in Rojava lebenden Menschen sind mit diesem Weg, diesem sozial-politischen Modell einverstanden.
Das Stichwort «Kritik und Selbstkritik» dürfte Sie, Micha Brie, an China und an den Maoismus erinnern. Sie haben als Kind eines DDR-Diplomaten ein paar Jahre in China gelebt und setzen sich noch heute intensiv mit China auseinander. Wir haben von kleinräumigen Versuchen gesprochen, China ist das Gegenteil. Was an China ist aus Ihrer Sicht sozialistisch?
Michael Brie: Ich will dazu nur eine Geschichte erzählen. Ein Professor, mit dessen Sohn ich einst in Schanghai zu tun hatte, wurde von der Partei beauftragt – ob mit Zwang oder nicht, weiss ich nicht –, aufs Dorf zu gehen. Er sollte mit seinen Kompetenzen und Verbindungen dafür sorgen, dass dieses Dorf innerhalb von drei Jahren durch einen Selbstorganisationsprozess in die Lage kommt, die Lebensbedingungen deutlich zu verbessern, die Einkommen der Landbevölkerung zu verdoppeln und eine zukunftsfähige Wirtschaft aufzubauen. Wenn wir über China reden, sollten wir zumindest neugierig sein auf die vielen Experimente, die in dieser Richtung gemacht werden. Mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Und in grossen Widersprüchen zwischen einer kommunistischen Staatspartei mit maoistischen Traditionen einerseits und einer sozialistischen Marktwirtschaft mit starken kapitalistischen Zügen andererseits. Wir sollten Entwicklungen und Widersprüche in China studieren. Wir können dabei viel lernen, auch darüber, was wir garantiert nicht machen sollten.
Feline Tecklenburg: Beides sind sehr unterschiedliche Erzählungen aus Rojava und aus China, die unter dem Stichwort «Sozialismus» fungieren. Das verdeutlicht für mich nochmals die Untauglichkeit dieses Worts. Gibt es dabei überhaupt noch etwas Vereinendes auf übergeordneter Ebene? Maja Hess hat das, was mir wichtig ist, schön verdeutlicht: Kraft entsteht in den kleinen lokalen Projekten, die in Nischen und Lücken wachsen können. Dort sehe ich momentan die grösste Hoffnung, weil es so konkret ist.
Michael Brie: Es wird Momente geben, in denen es um ganz grosse Veränderungen geht. Oft waren es die rechten oder sogar faschistischen Kräfte oder die neoliberalen Kräfte, die auf grosse Krisensituationen gut vorbereitet waren. Wenn sich die Linke nicht darauf vorbereitet, wird sie den wirklichen Ausbruch aus dem Kapitalismus nicht erreichen.
Maja Hess. Ich möchte noch auf die Frage des Scheiterns eingehen. Gerade die Entwicklung in Nicaragua war und ist für mich persönlich sehr schwierig. Ich habe gelernt: Es gibt historische Momente: Die Revolution in Nicaragua war ein solcher, und ich hatte das Glück, dabei zu sein. Und irgendwann ist es nicht mehr das, was es war. Aber es ist gewesen. Dem, was real möglich war, seinen historischen Wert zu geben, ist unglaublich wichtig. Revolutionäre Erfahrungen haben ihren Wert nicht verloren, weil sich die Geschichte verändert hat. Die revolutionäre Erfahrung bleibt im Gedächtnis der Menschen, im Herzen der Menschen. Das hilft mir, mit Niederlagen oder mit Scheitern besser umzugehen. Für mich sind Risse in der verhärteten kapitalistischen Gesellschaftsordnung Hoffnung und Realität zugleich. Der Globale Süden hat eine stärkere Stimme als früher, er kann sich mehr Raum verschaffen. Die Stimmen von indigenen Menschen, People of Color, Feministinnen sind in unserer Gesellschaft stärker geworden. Neue Ideen und Projekte entstehen im Globalen Süden und haben Verbindung zum Norden. Soziale Bewegungen wie die weltweit aktiven Klimabewegungen und feministischen Bewegungen finde ich unglaublich wichtig, das sind Hoffnungsschimmer.
Erstveröffentlichung: Neue Wege 5.24, September 2024. Teil 1 des Interviews ist in der Ausgabe 31/32 zu lesen.