Kämpfe in der Krise

Mit dem Schwerpunkt «Gewerkschaften – Arbeitskämpfe – Widerstand» versucht der vorwärts, die aktuellen Klassenauseinandersetzungen in der Schweiz und anderswo zu beleuchten. Man muss die stattfindenden Kämpfe in ihrem globalen Rahmen betrachten und die Entwicklung der Krise mitdenken. Nur so kann man verstehen, was ihre Perspektive aber auch ihre Beschränkungen sind.

«Auf lange Sicht sind wir alle tot», kommentierte John Maynard Keynes die Erkenntnis, dass sich der Markt höchstens auf lange Sicht selber regulieren würde. Wie recht er mit diesem lakonischen Kommentar haben sollte, erschliesst sich einem erst, wenn man die Konsequenzen der Krisen zu Ende denkt und eben nicht wie Keynes von einer staatlichen Regulierung tagträumt. Die tiefgreifende Krise, mit der wir seit einigen Jahren konfrontiert sind, kann nur dann zeitweilig überwunden werden, wenn riesige aufgeblähte Kapitalwerte vernichtet werden, grosse Unternehmen bankrott gehen und das allgemeine Lohnniveau abgesenkt wird. Einen Vorgeschmack darauf, was das für die ArbeiterInnen bedeuten würde, gibt etwa die Verdoppelung der Selbstmordrate in Griechenland oder die Explosion der Zahl der von Lebensmittelmarken Abhängigen in den USA. In Angst vor den sozialen Konsequenzen eines solchen Kapital-Vernichtungs-Prozesses versuchen die metropolitanen Staaten mit immensen Rettungsschirmen der Krise Herr zu werden. Allerdings mit dem ernüchternden Resultat, dass die Wirtschaft sich nicht nachhaltig erholt, aber die Staatschulden ins Astronomische anwachsen.

Je nach Tageslage beschwören KommentatorInnen das Ende der Krise oder warnen aber vor falschen politischen Schritten. Täglich muss mit neuen Einbrüchen gerechnet werden. Der Schuldenschnitt Griechenlands etwa lässt Gläubiger zurück, die bloss noch die Hälfte des Werts ihrer Staatspapiere in Händen halten. PolitikerInnen sind bemüht, diesen Schritt als absoluten Ausnahmefall zu verkaufen, weil sonst die ohnehin wackeligen Staatspapiere der PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) ins Bodenlose stürzen würden.

Schwäche des Kapitals?

In der Schweiz verdrängt man erfolgreich, wie kurz man während der milliardenschweren UBS-Rettung vor einer Katastrophe stand. Und man beschönigt etwa einen kurzfristigen Rückgang der Arbeitslosenzahlen um 0,2 Prozent, ohne dem die zunehmende Kurzarbeit gegenüberzustellen. Zudem spricht das Rekordniveau von 1739 Firmenkonkursen im ersten Quartal 2012 eine deutliche Sprache. Die Schweiz steht mit einer Staatsschuld von etwa 33 Prozent des Bruttoinlandproduktes zwar noch verhältnismässig gut da und hat entsprechend noch einiges an Pulver zu verschiessen. Doch vor den genannten Fakten und der Tatsache, dass die Schweiz eben keine autarke Insel ist, erscheint das mediale Hochjubeln der wachsenden Schweizer Wirtschaft vor allem als Selbstvergewisserung, dass man schon irgendwie heil durch die Krise komme.

Man darf nun nicht den Fehler machen, die Verwertungsprobleme des Kapitals für seine Schwäche im Kampf mit den ArbeiterInnen zu halten. Genau in dem Moment, in dem die Nachfrage nach Arbeitskräften fällt, wird ihr Angebot durch Entlassungen vergrössert. Darum schwächen Krisen die Kampfkraft der ArbeiterInnen, die sich zudem häufig mit den Grenzen der Möglichkeiten des Kapitals für Zugeständnisse konfrontiert sehen.

Kämpfe am Abgrund

Vor diesem Hintergrund muss man die vergangenen Kämpfe in der Schweiz einschätzen. Aus Platzgründen kann hier nur ein Aspekt der Kämpfe der letzten Jahre beleuchtet werden: Der Kampf gegen Massenentlassungen und Betriebsschliessungen, wie wir sie in Zukunft wohl vermehrt beobachten werden. Als wegweisendes Beispiel steht der erfolgreiche Kampf der ArbeiterInnen des Cargo-Werkes in Bellinzona. Auch hier wusste man nicht im vornherein, ob die SBB es sich überhaupt leisten konnte, die defizitäre Werkstätte aufrechtzuerhalten. Doch mit einem entschlossenen und von der Belegschaft selber geleiteten Kampf konnten die ArbeiterInnen ihre Forderungen durchsetzen. Allerdings muss mitbedacht werden, dass die SBB als Staatsunternehmen grössere Spielräume hatte, als sie in der Privatwirtschaft üblich sind. Auch der Erfolg der Proteste bei Novartis in Nyon dürfte sich nicht unwesentlich daraus ergeben haben, dass der Staat Novartis massive Steuererleichterungen versprach.

Weit weniger rosig waren die Resultate der Proteste, die sich gegen Massenentlassungen und Betriebsschliessungen etwa bei der Kartonfabrik in Deisswil, der Papierfabrik in Biberist oder bei der Swissmetal in Dornach richteten. Hier legten die ArbeiterInnen – von wenigen selbstermächtigten Momenten abgesehen – ihre Geschicke in die Hände der Gewerkschaften und standen am Ende mit einem halbgaren Sozialplan da. Es ist eine wichtige Frage, ob diese Kämpfe eine reelle Erfolgsperspektive gehabt hätten, wenn sie selbständig und radikal geführt worden wären. Es lässt sich schlicht nicht sagen, welchen ökonomischen Horizont das Unternehmen oder auf einer höheren Ebene – aktuell etwa in Griechenland – der Staat noch hat. Häufig dürften die Spielräume tatsächlich verschwindend gering sein. Doch wenn man, wie das in der Vergangenheit leider häufig der Fall war, alleine auf die Gewerkschaften baut und diese bloss einen handzahmen Protest organisieren, dann gibt man auf, bevor man richtig zu kämpfen begonnen hat.

Man muss heute wohl einer unangenehmen Realität ins Auge blicken: In Zeiten der Krise gibt es innerhalb der Logik des Kapitals für viele Menschen keinen gangbaren Weg, der nicht massive Einschnitte in ihr Lebensniveau bedeuten würde. Und so hängen heute die Frage um das kärgliche Leben im Kapitalismus und die Frage nach einer ganz anderen Weise sich zu reproduzieren, eng zusammen. Häufig steht man faktisch wohl vor der Alternative, alles zu schlucken oder aber alles zu ändern.

Deutsche «Privatmiliz» gegen streikende Arbeiter in Belgien

Deutsches Unternehmen schickt Schläger über die Grenze nach Belgien. So geschehen Ende Februar im belgischen Sprimont beim deutschen Autozulieferer MEISTER-Benelux. Die belgische Arbeitsministerin De Coninck verurteilt das Vorgehen der deutschen Firma aufs Schärftste.

Im Auftrag der deutschen Firmenleitung des Autoteilherstellers Meister haben am Sonntag, 26. Februar zwei Dutzend vermummte Schläger die streikenden ArbeiterInnen eines Zweigwerks in Belgien überfallen. Die schwarz gekleideten und mit Gummiknüppeln, Baseballschlägern und Tränengasspray bewaffneten Mitarbeiter einer deutschen «Sicherheitsfirma» waren über die Grenze geschickt worden, um drei bereits mit Maschinen und Teilen beladene Lastwagen «in Sicherheit zu bringen». Die ArbeiterInnen halten das Werk in Sprimont bei Liege seit mehr als einer Woche besetzt, um gegen die Pläne des zur Poppe+Poothoff-Gruppe gehörenden Unternehmens zu protestieren, einen Teil der Produktion nach Tschechien zu verlegen und dafür zahlreiche Arbeitsplätze im belgischen Werk zu streichen.

Ermittlungen gegen «Privatmiliz»
Den am Sonntag überfallenen ArbeiterInnen gelang es, in kürzester Zeit nahezu hundert KollegInnen und FreundInnen zu mobilisieren und mit ihnen das Überfallkommando auf dem Firmengelände zu blockieren, bis die Polizei kam und die Identität der Täter feststellte. Sie wurden dann von den BeamtInnen bis zur deutschen Grenze eskortiert und abgeschoben. Die Staatsanwaltschaft von Liege hat am Montag ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Drei der überfallenen ArbeiterInnen haben ihrerseits Anzeige wegen Körperverletzung erstattet. Wie die belgische Innenministerin Joelle Milquet erklärte, haben die Mitarbeiter der deutschen Sicherheitsfirma gegen geltende belgische Gesetze über die amtliche Zulassung solcher Unternehmer verstossen und sie würden daher juristisch behandelt wie eine «Privatmiliz». Arbeitsministerin Monica De Coninck schätzt ein, dass «diese Methoden nicht hinnehmbar sind und aus einer längst vergangenen Zeit stammen».

Grosse Empörung in Belgien
Die Gewerkschaft, die energisch gegen den Überfall protestiert, kritisiert zugleich das laxe Verhalten der belgischen Polizei, die die Täter «nur zur Grenze begleitet und nicht vorläufig festgenommen und verhört» habe. Die belgischen Medien berichten seit Tagen ausführlich über diesen Überfall und geben die empörten Reaktionen vieler BelgierInnen wieder.
Durch ihre belgischen KollegInnen wurden auch deutsche GewerkschafterInnen auf den ungeheuerlichen Vorfall aufmerksam. So protestierte der erste Bevollmächtigte der IG Metall Bielefeld Harry Domnick in einem offenen Brief «aufs schärfste gegen das brutale Vorgehen von Schlägertrupps gegen streikende Gewerkschafter». Von der deutschen Firmenleitung fordert er, «sich bei den belgischen Gewerkschaftern in aller Form zu entschuldigen». Dagegen erklärte der Geschäftsführer der Gruppe Poppe+Poothoff, Rüdiger Faustmann, in einer Pressemitteilung lediglich, dass er «sehr bedauert, dass es zu diesem Konflikt gekommen ist».

SchweizerInnen – selbstlose Arbeitsbienen?

Die Abstimmung über die Volksinitiative «6 Wochen Freien für alle» hätte für alle Lohnabhängigen, die die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung stellen, Erleichterungen gebracht. Dennoch wurde die Initiative von den StimmbürgerInnen klar abgelehnt. Ein Kommentar zum Abstimmungskampf und seinem leider wenig überraschenden Ausgang.

«Die Schweizer, ein Volk von Vernünftigen», titelte der «Blick am Abend» zur Ablehnung der Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» triumphierend und bewies damit einmal mehr, dass die so hoch gepriesene Objektivität der bürgerlichen Medien eben meist bloss die Objektivität der Herrschenden ist. Doch man kann sich nicht ganz der Einsicht verwehren, dass die StimmbürgerInnen vom Standpunkt der Nationalökonomie in aller Regel tatsächlich vernünftig handeln. Schon in der Vergangenheit zeigten die Stimmberechtigten der Schweiz, was sie von Erleichterungen im Arbeitsalltag halten: 2002 lehnten sie die Initiative für eine 36-Stunden-Woche mit wuchtigen 74 Prozent ab. 2008 schickten sie einen Vorstoss für die Frühpensionierung mit über 58 Prozent bachab. Und nun stimmten 66,5 Prozent dafür, dass die ArbeiterInnen nicht sechs Wochen Ferien zu gute haben sollen. Vor diesem Hintergrund ist das Abstimmungsresultat – auch in dieser Höhe – nicht wirklich erstaunlich.

Der nationale Standort

Die Analyse des Abstimmungsresultats durch PolitologInnen ist relativ einfach zusammenzufassen: Eine millionenschwere Kampagne der Wirtschaftsverbände, wirtschaftliche Unsicherheit und ein geschlossener bürgerlicher Block standen gegen die InitiantInnen. Das lässt man sich in den Medien nun von ExpertInnen lang und breit erklären. Natürlich lässt es sich nicht ganz von der Hand weisen, dass diese Faktoren eine gewichtige Rolle gespielt haben. Doch mit dieser Analyse kratzt man bloss an der Oberfläche der Erscheinungen. Auch der Verweis von GenossInnen, dass bloss ein kleiner Teil der arbeitenden Bevölkerung abgestimmt habe und alle ArbeitsmigrantInnen ohnehin von der Abstimmung ausgeschlossen seien, stimmt zwar, aber sie vermag das Wahlresultat in seiner tieferen Dimension nicht zu erklären.

Warum kann eine so banale Kampagne, wie sie von den VorlagengegnerInnen initiiert worden war, überhaupt derart verfangen? Warum stimmen ArbeiterInnen anscheinend gegen ihre unmittelbaren Interessen? Die Kampagne der Wirtschaftsverbände mit dem so einfachen wie manipulativen Inhalt «Mehr Ferien gleich weniger Arbeitsplätze» setzte auf Denkkategorien, die sich ein guter Teil der abstimmenden Schweizer Bevölkerung längst zu eigen gemacht hat. Vielfach fragt man nicht mehr nach dem eigenen unmittelbaren Interesse, sondern betrachtet die Welt bereits durch den Filter des nationalen Standorts. Was ist gut für die Schweiz? Was bringt «uns» einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den nationalen Konkurrenten? Auch die BefürworterInnen der Initiative liessen sich auf dieses altbekannte Spiel ein: Sechs Wochen Ferien seien für den Wirtschaftsstandort gut und mit ausgeruhten und erholten Arbeitskräften könne man besser wirtschaften.

Es ist für die Initiative und für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die sich objektiv an der Klassengrenze abspielt bereits fatal, wenn man die nationale Kategorie über die der Klasse stellt. Dies spielte im Abstimmungskampfgetöse keine Rolle. Und es war für die Kampagne der InitiantInnen auch nicht relevant, dass es um die Verteilung des Reichtums ging. Darum nämlich, ob die ArbeiterInnen für weniger Arbeit gleichviel des von ihnen produzierten Mehrwerts erhalten sollten. Das ist in der aktuellen Abstimmung wie meist schlicht nicht thematisiert worden. Stattdessen stritt man sich darum, wer denn nun über alle Klassengräben hinweg die Interessen des nationalen Standortes am besten vertreten würde. Auf der einen Seite die InitiantInnen, die mit ausgeruhten ArbeiterInnen argumentierten, auf der anderen Seite die GegnerInnen, die die Wirtschaft durch die zusätzlichen Ferien in Gefahr sah.

Probleme des Klassenkampfs

Was in dieser Abstimmung auf der formell-demokratischen Ebene seinen Ausdruck fand, trifft man auch in der Welt der alltäglichen Arbeitskämpfe an. Streikende und protestierende ArbeiterInnen können «ihr» Unternehmen nicht kaputtstreiken, weil sie damit ihre eigene Lebensgrundlage mitzerstören. Die Reproduktion der Proletarisierten ist in dieser Welt an die Reproduktion des Kapitals gekettet. Dies ist uns an dieser Abstimmung auf der nationalen Ebene begegnet: Die Reproduktionsbedingungen der ArbeiterInnen hängt vom Wohlergehen des nationalen Wirtschaftsstandorts ab. Man darf das nicht falsch verstehen: Deutschland hat als momentaner Krisengewinner gerade vorexerziert, wie ein prima funktionierender Wirtschaftsstandort dennoch Verarmungsprogramme gegen seine ArbeiterInnen durchsetzt. Aber umgekehrt ist es eben so, dass eine kriselnde Wirtschaft ihre Probleme an die Proletarisierten weiter gibt. Und so hat die eigentlich verkehrte Identifikation mit dem nationalen Wirtschaftsstandort tatsächlich sowas wie einen rationalen Kern.

Diesen Kern kann man nicht vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft – und darauf stellen sich im Wahl- und Abstimmungskampf praktisch alle – nicht in Frage stellen. Bloss eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist, kann solche Basiskategorien in Frage stellen. Allerdings bleibt die Problematik, dass die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen an das Kapital gebunden sind, noch bei aller Kritik bestehen. Abhilfe würde hier lediglich eine reelle praktische Perspektive der Überwindung bieten, wenn die Proletarisierten in Kämpfen die Reproduktion selber und gegen das Kapital zu regeln beginnen.

Wie weiter?

Für eine nächste Abstimmung, die die gesamte Klasse der ArbeiterInnen betrifft, müsste man anerkennen, dass die Mobilisierung gegen objektive Widerstände in Kopf und Herz der grossen Masse der Bevölkerung betrieben werden müsste. Es ist für eine Linke, die grundsätzlich mit dem Kapitalismus brechen will von elementarer Bedeutung, dass die Idee der Nation und des Wirtschaftsstandortes angegriffen und durch die Klassenfrage ersetzt wird. Und so müsste man, wenn man denn auf der Ebene von Abstimmungen intervenieren will, in eine andere Richtung argumentieren: Die Initiative war eine Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen jenen, die den Mehrwert produzieren und jenen die ihn sich aneignen. Die Initiative war direkt an die Klassenfrage geknüpft und diese Frage lässt sich konsequent vertreten und zumindest in der Krise mit nationalen Kategorien nicht vereinbaren. über die Volksinitiative «6 Wochen Freien für alle» hätte für alle Lohnabhängigen, die die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung stellen, Erleichterungen gebracht. Dennoch wurde die Initiative von den StimmbürgerInnen klar abgelehnt. Ein Kommentar zum Abstimmungskampf und seinem leider wenig überraschenden Ausgang.

«Die Schweizer, ein Volk von Vernünftigen», titelte der «Blick am Abend» zur Ablehnung der Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» triumphierend und bewies damit einmal mehr, dass die so hoch gepriesene Objektivität der bürgerlichen Medien eben meist bloss die Objektivität der Herrschenden ist. Doch man kann sich nicht ganz der Einsicht verwehren, dass die StimmbürgerInnen vom Standpunkt der Nationalökonomie in aller Regel tatsächlich vernünftig handeln. Schon in der Vergangenheit zeigten die Stimmberechtigten der Schweiz, was sie von Erleichterungen im Arbeitsalltag halten: 2002 lehnten sie die Initiative für eine 36-Stunden-Woche mit wuchtigen 74 Prozent ab. 2008 schickten sie einen Vorstoss für die Frühpensionierung mit über 58 Prozent bachab. Und nun stimmten 66,5 Prozent dafür, dass die ArbeiterInnen nicht sechs Wochen Ferien zu gute haben sollen. Vor diesem Hintergrund ist das Abstimmungsresultat – auch in dieser Höhe – nicht wirklich erstaunlich. Der nationale Standort Die Analyse des Abstimmungsresultats durch PolitologInnen ist relativ einfach zusammenzufassen: Eine millionenschwere Kampagne der Wirtschaftsverbände, wirtschaftliche Unsicherheit und ein geschlossener bürgerlicher Block standen gegen die InitiantInnen. Das lässt man sich in den Medien nun von ExpertInnen lang und breit erklären. Natürlich lässt es sich nicht ganz von der Hand weisen, dass diese Faktoren eine gewichtige Rolle gespielt haben. Doch mit dieser Analyse kratzt man bloss an der Oberfläche der Erscheinungen. Auch der Verweis von GenossInnen, dass bloss ein kleiner Teil der arbeitenden Bevölkerung abgestimmt habe und alle ArbeitsmigrantInnen ohnehin von der Abstimmung ausgeschlossen seien, stimmt zwar, aber sie vermag das Wahlresultat in seiner tieferen Dimension nicht zu erklären. Warum kann eine so banale Kampagne, wie sie von den VorlagengegnerInnen initiiert worden war, überhaupt derart verfangen? Warum stimmen ArbeiterInnen anscheinend gegen ihre unmittelbaren Interessen? Die Kampagne der Wirtschaftsverbände mit dem so einfachen wie manipulativen Inhalt «Mehr Ferien gleich weniger Arbeitsplätze» setzte auf Denkkategorien, die sich ein guter Teil der abstimmenden Schweizer Bevölkerung längst zu eigen gemacht hat. Vielfach fragt man nicht mehr nach dem eigenen unmittelbaren Interesse, sondern betrachtet die Welt bereits durch den Filter des nationalen Standorts. Was ist gut für die Schweiz? Was bringt «uns» einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den nationalen Konkurrenten? Auch die BefürworterInnen der Initiative liessen sich auf dieses altbekannte Spiel ein: Sechs Wochen Ferien seien für den Wirtschaftsstandort gut und mit ausgeruhten und erholten Arbeitskräften könne man besser wirtschaften. Es ist für die Initiative und für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die sich objektiv an der Klassengrenze abspielt bereits fatal, wenn man die nationale Kategorie über die der Klasse stellt. Dies spielte im Abstimmungskampfgetöse keine Rolle. Und es war für die Kampagne der InitiantInnen auch nicht relevant, dass es um die Verteilung des Reichtums ging. Darum nämlich, ob die ArbeiterInnen für weniger Arbeit gleichviel des von ihnen produzierten Mehrwerts erhalten sollten. Das ist in der aktuellen Abstimmung wie meist schlicht nicht thematisiert worden. Stattdessen stritt man sich darum, wer denn nun über alle Klassengräben hinweg die Interessen des nationalen Standortes am besten vertreten würde. Auf der einen Seite die InitiantInnen, die mit ausgeruhten ArbeiterInnen argumentierten, auf der anderen Seite die GegnerInnen, die die Wirtschaft durch die zusätzlichen Ferien in Gefahr sah. Probleme des Klassenkampfs Was in dieser Abstimmung auf der formell-demokratischen Ebene seinen Ausdruck fand, trifft man auch in der Welt der alltäglichen Arbeitskämpfe an. Streikende und protestierende ArbeiterInnen können «ihr» Unternehmen nicht kaputtstreiken, weil sie damit ihre eigene Lebensgrundlage mitzerstören. Die Reproduktion der Proletarisierten ist in dieser Welt an die Reproduktion des Kapitals gekettet. Dies ist uns an dieser Abstimmung auf der nationalen Ebene begegnet: Die Reproduktionsbedingungen der ArbeiterInnen hängt vom Wohlergehen des nationalen Wirtschaftsstandorts ab. Man darf das nicht falsch verstehen: Deutschland hat als momentaner Krisengewinner gerade vorexerziert, wie ein prima funktionierender Wirtschaftsstandort dennoch Verarmungsprogramme gegen seine ArbeiterInnen durchsetzt. Aber umgekehrt ist es eben so, dass eine kriselnde Wirtschaft ihre Probleme an die Proletarisierten weiter gibt. Und so hat die eigentlich verkehrte Identifikation mit dem nationalen Wirtschaftsstandort tatsächlich sowas wie einen rationalen Kern. Diesen Kern kann man nicht vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft – und darauf stellen sich im Wahl- und Abstimmungskampf praktisch alle – nicht in Frage stellen. Bloss eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist, kann solche Basiskategorien in Frage stellen. Allerdings bleibt die Problematik, dass die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen an das Kapital gebunden sind, noch bei aller Kritik bestehen. Abhilfe würde hier lediglich eine reelle praktische Perspektive der Überwindung bieten, wenn die Proletarisierten in Kämpfen die Reproduktion selber und gegen das Kapital zu regeln beginnen. Wie weiter? Für eine nächste Abstimmung, die die gesamte Klasse der ArbeiterInnen betrifft, müsste man anerkennen, dass die Mobilisierung gegen objektive Widerstände in Kopf und Herz der grossen Masse der Bevölkerung betrieben werden müsste. Es ist für eine Linke, die grundsätzlich mit dem Kapitalismus brechen will von elementarer Bedeutung, dass die Idee der Nation und des Wirtschaftsstandortes angegriffen und durch die Klassenfrage ersetzt wird. Und so müsste man, wenn man denn auf der Ebene von Abstimmungen intervenieren will, in eine andere Richtung argumentieren: Die Initiative war eine Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen jenen, die den Mehrwert produzieren und jenen die ihn sich aneignen. Die Initiative war direkt an die Klassenfrage geknüpft und diese Frage lässt sich konsequent vertreten und zumindest in der Krise mit nationalen Kategorien nicht vereinbaren.>Die über die Volksinitiative «6 Wochen Freien für alle» hätte für alle Lohnabhängigen, die die Mehrheitder Schweizer Bevölkerung stellen, Erleichterungen gebracht. Dennoch wurde die Initiative von den StimmbürgerInnen klar abgelehnt. Ein Kommentar zum Abstimmungskampf und seinem leider wenig überraschenden Ausgang.

«Die Schweizer, ein Volk von Vernünftigen», titelte der «Blick am Abend» zur Ablehnung der Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» triumphierend und bewies damit einmal mehr, dass die so hoch gepriesene Objektivität der bürgerlichen Medien eben meist bloss die Objektivität der Herrschenden ist. Doch man kann sich nicht ganz der Einsicht verwehren, dass die StimmbürgerInnen vom Standpunkt der Nationalökonomie in aller Regel tatsächlich vernünftig handeln. Schon in der Vergangenheit zeigten die Stimmberechtigten der Schweiz, was sie von Erleichterungen im Arbeitsalltag halten: 2002 lehnten sie die Initiative für eine 36-Stunden-Woche mit wuchtigen 74 Prozent ab. 2008 schickten sie einen Vorstoss für die Frühpensionierung mit über 58 Prozent bachab. Und nun stimmten 66,5 Prozent dafür, dass die ArbeiterInnen nicht sechs Wochen Ferien zu gute haben sollen. Vor diesem Hintergrund ist das Abstimmungsresultat – auch in dieser Höhe – nicht wirklich erstaunlich.

Der nationale Standort

Die Analyse des Abstimmungsresultats durch PolitologInnen ist relativ einfach zusammenzufassen: Eine millionenschwere Kampagne der Wirtschaftsverbände, wirtschaftliche Unsicherheit und ein geschlossener bürgerlicher Block standen gegen die InitiantInnen. Das lässt man sich in den Medien nun von ExpertInnen lang und breit erklären. Natürlich lässt es sich nicht ganz von der Hand weisen, dass diese Faktoren eine gewichtige Rolle gespielt haben. Doch mit dieser Analyse kratzt man bloss an der Oberfläche der Erscheinungen. Auch der Verweis von GenossInnen, dass bloss ein kleiner Teil der arbeitenden Bevölkerung abgestimmt habe und alle ArbeitsmigrantInnen ohnehin von der Abstimmung ausgeschlossen seien, stimmt zwar, aber sie vermag das Wahlresultat in seiner tieferen Dimension nicht zu erklären.

Warum kann eine so banale Kampagne, wie sie von den VorlagengegnerInnen initiiert worden war, überhaupt derart verfangen? Warum stimmen ArbeiterInnen anscheinend gegen ihre unmittelbaren Interessen? Die Kampagne der Wirtschaftsverbände mit dem so einfachen wie manipulativen Inhalt «Mehr Ferien gleich weniger Arbeitsplätze» setzte auf Denkkategorien, die sich ein guter Teil der abstimmenden Schweizer Bevölkerung längst zu eigen gemacht hat. Vielfach fragt man nicht mehr nach dem eigenen unmittelbaren Interesse, sondern betrachtet die Welt bereits durch den Filter des nationalen Standorts. Was ist gut für die Schweiz? Was bringt «uns» einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den nationalen Konkurrenten? Auch die BefürworterInnen der Initiative liessen sich auf dieses altbekannte Spiel ein: Sechs Wochen Ferien seien für den Wirtschaftsstandort gut und mit ausgeruhten und erholten Arbeitskräften könne man besser wirtschaften.

Es ist für die Initiative und für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die sich objektiv an der Klassengrenze abspielt bereits fatal, wenn man die nationale Kategorie über die der Klasse stellt. Dies spielte im Abstimmungskampfgetöse keine Rolle. Und es war für die Kampagne der InitiantInnen auch nicht relevant, dass es um die Verteilung des Reichtums ging. Darum nämlich, ob die ArbeiterInnen für weniger Arbeit gleichviel des von ihnen produzierten Mehrwerts erhalten sollten. Das ist in der aktuellen Abstimmung wie meist schlicht nicht thematisiert worden. Stattdessen stritt man sich darum, wer denn nun über alle Klassengräben hinweg die Interessen des nationalen Standortes am besten vertreten würde. Auf der einen Seite die InitiantInnen, die mit ausgeruhten ArbeiterInnen argumentierten, auf der anderen Seite die GegnerInnen, die die Wirtschaft durch die zusätzlichen Ferien in Gefahr sah.

Probleme des Klassenkampfs

Was in dieser Abstimmung auf der formell-demokratischen Ebene seinen Ausdruck fand, trifft man auch in der Welt der alltäglichen Arbeitskämpfe an. Streikende und protestierende ArbeiterInnen können «ihr» Unternehmen nicht kaputtstreiken, weil sie damit ihre eigene Lebensgrundlage mitzerstören. Die Reproduktion der Proletarisierten ist in dieser Welt an die Reproduktion des Kapitals gekettet. Dies ist uns an dieser Abstimmung auf der nationalen Ebene begegnet: Die Reproduktionsbedingungen der ArbeiterInnen hängt vom Wohlergehen des nationalen Wirtschaftsstandorts ab. Man darf das nicht falsch verstehen: Deutschland hat als momentaner Krisengewinner gerade vorexerziert, wie ein prima funktionierender Wirtschaftsstandort dennoch Verarmungsprogramme gegen seine ArbeiterInnen durchsetzt. Aber umgekehrt ist es eben so, dass eine kriselnde Wirtschaft ihre Probleme an die Proletarisierten weiter gibt. Und so hat die eigentlich verkehrte Identifikation mit dem nationalen Wirtschaftsstandort tatsächlich sowas wie einen rationalen Kern.

Diesen Kern kann man nicht vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft – und darauf stellen sich im Wahl- und Abstimmungskampf praktisch alle – nicht in Frage stellen. Bloss eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist, kann solche Basiskategorien in Frage stellen. Allerdings bleibt die Problematik, dass die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen an das Kapital gebunden sind, noch bei aller Kritik bestehen. Abhilfe würde hier lediglich eine reelle praktische Perspektive der Überwindung bieten, wenn die Proletarisierten in Kämpfen die Reproduktion selber und gegen das Kapital zu regeln beginnen.

Wie weiter?

Für eine nächste Abstimmung, die die gesamte Klasse der ArbeiterInnen betrifft, müsste man anerkennen, dass die Mobilisierung gegen objektive Widerstände in Kopf und Herz der grossen Masse der Bevölkerung betrieben werden müsste. Es ist für eine Linke, die grundsätzlich mit dem Kapitalismus brechen will von elementarer Bedeutung, dass die Idee der Nation und des Wirtschaftsstandortes angegriffen und durch die Klassenfrage ersetzt wird. Und so müsste man, wenn man denn auf der Ebene von Abstimmungen intervenieren will, in eine andere Richtung argumentieren: Die Initiative war eine Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen jenen, die den Mehrwert produzieren und jenen die ihn sich aneignen. Die Initiative war direkt an die Klassenfrage geknüpft und diese Frage lässt sich konsequent vertreten und zumindest in der Krise mit nationalen Kategorien nicht vereinbaren.

Roter Abend

Täglich füttern uns die Medienkonzerne mit Banalitäten, Events, Idolen und Skandalgeschichten. Doch nicht genug, dass sie damit von den wirklichen Problemen und den Ursachen des offensichtlichen Niedergangs der kapitalistischen Gesellschaft ablenken: Klaus von Raussendorf Publizist und Landesvorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes (NRW) zeigt auf, dass sie Begriffe der Aufklärung, der ArbeiterInnen- und Friedensbewegung aufnehmen, ihres Sinnes berauben und mit verdrehter Bedeutung als Waffe zur Unterwerfung der Ausgebeuteten und Unterdrückten verwenden. So können dann im Namen der Menschenrechte, des Internationalismus und des Völkerrechtes ganze Länder zerbombt und Tausende von Menschen vernichtet werden. Der Inhalt dieser Namen,d ieser Begriffe muss wieder zurückerobert werden. Es ist bewusst zu machen, dass die Kultur der Herrschenden nicht die Kultur der Beherrschten ist und sein kann.
Donnerstag, 15. März, 19:30 uhr
Wallstrasse 10, Basel

Nichts ändert sich

Kürzlich habe ich in der Migros zwei Bananen erworben. Marke Chiquita. Ein solcher Kauf löste bei mir früher nie ein Frösteln aus. Diesmal ist es anders. Während ich darauf wartete, bis die Preisetikette ausgedruckt wurde – man muss heute ja alles selbst machen, erinnerte ich mich, was ich über die Bananenmultis gelesen habe. Dass Chiquita, Dole und Del Monte in England vor wenigen Jahren auf Verkäufe von 775 Millionen Franken nur 225 000 Franken Steuern bezahlt haben. Notabene alle drei zusammen. Abzüglich der Kosten für die Bananenproduktion und dem Transport bleiben den Unternehmen geschätzte 50 Prozent Gewinn auf die knappe Milliarde Umsatz. Für die Eigentümerfamilien und die AktionärInnen ein stattlicher Gewinn. Der Steuerbetrag von 225 000 Franken macht nicht einmal 1 Prozent aus. Er ist exakt 0.033 Prozent. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Ein Batzen in der Portokasse irgendeiner Steueroase, wo die Firmen ihre Steuerdomizile haben. Ein lächerlicher Steuerbetrag für jeden Normalbürger, der mit einem Lohnausweis versteuern muss. Bei Chiquita, Dole und Del Monte wären dies in der Schweiz, bei einem Steuerfuss von 22 Prozent, 160 Millionen. In Zahlen ausgeschrieben 160 000 000. Ohne Steueroasen, im Steuerjargon Off-Shore, müssten die Bananenmultis obigen Betrag an die Gemeinschaft abliefern. Das tun sie nicht, weil ihnen die Gesetze das erlauben. Und die anderen Multis auf dieser Welt tun es auch nicht. So gehen die Produktionsländer ebenso leer aus, wie die Länder, wo man mit hohen Gewinnen verkauft. Abgeliefert wird der Steuerobolus dort (mehr ist es nicht), wo es am günstigsten ist. Auf Jersey, Zypern, Gibraltar, Liechtenstein, in England, in einem steuergünstigen Bundesstaat der USA, in Panama, auf den Bahamas oder in Zug. Ich starre auf die Bananen, als wären sie das Übel dieser Welt persönlich. Ich seufze, denn ich kann es ja nicht ändern. Zudem profitieren wir hier in der Schweiz nicht unwesentlich. Wir haben sichere und gut bezahlte Jobs bei hunderten von Banken, AnwältInnen und Treuhandbüros. Selbst die kantonale Verwaltungen können sich ein Stück davon abschneiden. Über Bewilligungen, Firmeneinträge, Nachprüfungen und Gerichtsstreitigkeiten. Alle profitieren von dem weltweit herumwandernden Geld. Als die Bananen über den Scanner gezogen werden, reche ich aus, dass von den Franken 1.10 mindestens 20 Rappen nach Costa Rica wandern müssten. Ich höre schon die Entrüstung. Immerhin würden sie Arbeitsplätze bereitstellen! Sichere und gute Arbeitsplätze, sonst würden die Menschen verhungern. Dass diese Jobs nicht weit davon entfernt sind, sagen sie nicht. Die gern zitierte Rechtfertigung der Multis dient nur dazu, das tief im Unterbewusstsein schlummernde, schlechte Gewissen zu kaschieren. Am Abend bei einem Glas Wein meint Andrea philosophisch, ich müsste die Ungerechtigkeit auf dieser Welt nicht zu nahe an mich heranlassen. Wer das tut, würde nur krank. Sie hat Recht und rasch vergesse ich, dass nahezu alle Weltfirmen ihre Milliardengewinne an der Allgemeinschaft vorbeizirkeln. Vorbei an der Dritten Welt und auch vorbei an der ersten Welt, die wegen dieser Praktiken mit mehr und mehr sozialen Konflikten konfrontiert ist. Das alles ist das Resultat der freien Marktwirtschaft. Das Wort frei ist so täuschend wie nichts anderes. Frei bedeutet, dass derjenige, der das Geld hat, frei und ungestört einen anderen ausrauben kann. Daran ändert auch das ganze Gezeter gegen Steueroasen nichts. Dass dem Herumschieben von Geld nichts in den Weg gelegt wird, dafür sorgt die OECD. Sie hat kürzlich den Willen zur freien Marktwirtschaft bekräftigt. Somit können Multis und reiche Privatpersonen ihre astronomischen Reichtümer auch weiterhin deponieren, wo es nahezu gänzlich unangetastet bleibt. Gewisse Länder tragen an der Steuerflucht sicher auch eine Mitschuld. Unverhältnismässige Belastungen werden nirgendwo goutiert. Die obige beschriebene Stuervermeidung gleicht einem vollständigen Steuerfreipass, und je länger so etwas dauert auf dieser Welt, desto tiefer wird der Keil zwischen die Gesellschaft getrieben, der zwischen reich und arm entscheidet. Auf Zeit zerstört es jede demokratische Form.

alberT Schaffner

 

Kunstprovokationen in Vergangenheit und Gegenwart

hans peter gansner. Kunst soll seit der Antike gefallen und bilden – so dachte man zumindest bis ins 19. Jahrhundert. Seither ist ein Wandel eingetreten: Kunst provoziert, wenn neue Stile entstehen. Heiner Müller sagte über die Politik: «Das erste Gefühl beim Auftritt des Neuen ist der Schrecken». Dies gilt heute auch bei einem grossen Teil der innovativen Kunstproduktion.

Was wirklich Kunst sei, war schon seit eh und je ein Zankapfel – der KritikerInnen. Die KünstlerInnen selber wussten es aber immer schon: Van Gogh, der von der Kunstakademie abgelehnt wurde mit der Begründung, er könne ja nicht einmal einen Stuhl in der richtigen Perspektive malen (heute ist das berühmte Gemälde seines Zimmerchens in Arles mit dem Strohstuhl in der Ecke Millionen wert), über Marcel Duchamps Flaschentrockner und Andy Warhols Suppendosenetiketten bestand bis heute ein wesentliches Merkmal der Avantgarde im gesellschaftlichen Skandal. In Basel war das Brancusi-Fudi in den Siebzigerjahren das Fasnachtsthema, und der Tinguely-Brunnen, das Prunkstück neben dem Restaurant Kunsthaus, heute der beliebteste Aufenthaltsort der Basler an besonders heissen Tagen, wurde damals von der NA (Nationale Aktion) als ein Haufen Schrott bezeichnet und in einer Nacht- und Nebel-Aktion verunstaltet.

Vaclav Pozarek oder die Liebe zur Geometrie

Das Bündner Kunstmuseum in Chur avancierte in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem Tempel der Gegenwartskunst. Jetzt kann das Publikum sich von dem in der Nähe von Bern lebenden tschechischen Künstler Vaclav Pozarek durch das Labyrinth seiner «Library of Sculptures» führen lassen. Graubünden war immer schon ein Nährboden für moderne und avantgardistische KünstlerInnen. Das Klima und das antifaschistische Exil spielten dabei eine wichtige Rolle. Ernst Ludwig Kirchner musste sich von seinem Lungenleiden erholen, war aber arm wie eine Kirchenmaus. Als er einmal dem Pöstler von Davos ein Bild schenken wollte, weil er nicht genug Geld für einen ungenügend frankierten Brief hatte, soll dieser dankend abgelehnt haben: Er glaube nicht, dass seine Frau Freude hätte, wenn er mit einem solchen Schwarten nach Hause komme. Das Bühnenbild, das Kirchner gratis für eine Dorftheatertruppe malte, wurde nach dem Krieg in Stücke geschnitten und in die USA verschifft, wo New Yorker Kunsthändler damit Millionen verdienten. Unsere «Eigenen» dagegen waren oft zur Emigration gezwungen, wie Alberto Giacometti (Paris) oder heute Not Vital aus dem idyllischen Engadiner Dörfchen Sent (USA), ein Vorkämpfer der «Land Art», oder Gaspare O. Melcher, der als Bürger von Tschlin in Chur geboren wurde und auch hier aufgewachsen ist, jedoch schon lange in Italien lebt und arbeitet. Ich kann mich erinnern, wie ich Caspare Melcher damals, anfangs Siebzigerjahre, in seinem Atelier in der Herengracht im Zentrum von Amsterdam besuchte, wo er seine Endlosvarianten auf wandgrosse Leinwände malte: ein unvergessliches Erlebnis (Walter Lietha hat die Dokumentation im Calven Verlag, Chur, herausgegeben). Auch der aus Chur stammende international bekannte Foto- und Installationskünstler Hans Danuser ist inzwischen in New York ebenso heimisch geworden wie in Zürich und im Bergell. Er geniesst im Bündner Kunstmuseum Chur grosszügiges Gastrecht. Was Not Vital betrifft: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mich die damalige Bündner Zeitung anfragte, ob ich Vitals «Not Vital Action» besprechen könne: die Kulturredaktion wisse nicht, ob das armdicke Hanfseil, das sich da aus der Galerie in der Kirchgasse um die Martinskirche schlängle, um sich dann in der Altstadt zu verlieren, Kunst, harmloser Unfug oder Scharlatanerie sei.

Labyrinth der Gegenwartskunst…

Im gleichen Spannungsfeld spielen sich die «Werke» Vaclav Pozareks ab, bestehen sie doch «eigentlich» nur aus einem riesigen Sammelsurium von jahrelang geduldig gesammelten fotografischen Reprografien, collagiert, montiert oder einfach «à l’état brut», die dem Betrachter Rätsel über Rätsel aufgeben, aber in einen lustvollen Rausch von Impressionen, Reminiszenzen und Reflexionen versetzen. Nur dass man heutzutage nicht mehr, wie zu Zeiten des radikal engagierten Zeichners und Karikaturisten Martin Disteli, sagen kann: «Und fluchend steht das Volk vor seinen Bildern», sondern «das Volk», wenn es überhaupt seine Schritte in eine Ausstellung lenkt, steht meistens ratlos und kopfschüttelnd da. Ausser wenn ein Künstler wie Thomas Hirschhorn im «Centre Culturel Suisse» in Paris den Darsteller einer seiner Kunst-Inszenierungen in der Pose eines Hundes gegen ein Portrait urinieren lässt, das einem bekannten SVP-Politiker sehr ähnlich sieht. Item, wegen solchen Interpretationsproblemen ist es auch sehr wichtig, einen guten Katalog als Faden der Ariadne durch das faszinierende Labyrinth der Gegenwartskunst zu legen. Und dies haben Stephan Kunz und Max Wechsler mit ihren erklärenden Beiträgen zu Pozareks «Library of Sculptures» glänzend hingekriegt. Ein phantastischer Fotoband mit Abbildungen von Büsten bekannter und unbekannter Persönlichkeiten und Personen aus den verschiedensten Epochen und Kulturen ergänzt die Ausstellung «Library of Sculptures» (Verlag Scheidegger & Spiess), die man nicht verpassen sollte, wenn man im Frühling in die Ferien nach Graubünden fährt. Schon der idyllische Ort, eine Jugendstilvilla in einem sagenumwobenen Park mitten im ringsum brandenden Verkehrschaos der Bündner Metropole, ist es wert, bei der Durchreise einen Zug auszulassen und erst den übernächsten zu nehmen. (Bündner Kunstmuseum Chur, Postplatz Chur, bis zum 6. Mai 2012)

Kienholz: Installationen des Schreckens

Ich kann mich an den Schrecken erinnern, den ich anfangs Siebzigerjahre empfand, als ich im Kunst-haus Zürich zum ersten Mal zwischen den Grauen erregenden Installationen des amerikanischen Künstler-Ehepaars Kienholz wandelte. Der ganze Horror der Epoche mit Antikommunismus, Vietnamkrieg, Sexismus und Polizeibrutalität gegen Minderheiten war da in einer Art politisch-sozialer Geisterbahn mit lebensgrossen Statuen in Intérieurs zu sehen, die an Realismus nicht zu überbieten waren. Diese Ausstellung hat mich damals stärker politisiert als alle linken Reden und Bücher zusammen, die ich gehört und gelesen hatte… Nun kommt das Werk des Francisco Goyas des 20. Jahrhunderts nach Basel: Harte Bandagen empfehlen sich! («Kienholz: Die Zeichen der Zeit» ist eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle in Frankfurt, wo sie bis Ende Januar zu sehen war, in Kooperation mit dem Museum Tinguely. In Basel dauert sie bis zum 13. Mai.)

Der Genfer Provokateur

Wolfgang-Adam Töpffer (1766-1847) war der Vater des viel bekannteren Rodolphe Töpffer, Verfasser so bekannter Bücher wie den «Voyages en zigzag» und der «Nouvelles Genevoises» (alle kürzlich im Slatkine Verlag, Genf, neu publiziert), die er auch selbst mit Zeichnungen illustrierte, die in vielem an Wilhelm Busch erinnern. Rodolphe Töpffer, der auch ein Pensionat gründete, das aber nichts mit der heutigen «Ecole Töpffer» im Quartier de Champel in Genf zu tun hat, endete als fremdenfeindlicher, reaktionärer Eiferer. Auf ihn berief sich in den Dreissigerjahren eine rechtsradikale, Mussolini zu dienende Künstlergruppe unter Führung des antisemitischen Karikaturisten Noël Fontanet, die sich als «Les petits-fils de Töpffer» bezeichnete. Sie fiel auf durch spektakuläre kunstpolitische Happeninigs, die durchaus im heutigen Hirschhorn-Stil, aber politisch diametral gegenteilig verortet, abliefen und in der Genfer Arbeiterklasse für Empörung und Verwirrung sorgten, da die «Actions» den populären Linkspolitiker Léon Nicole zum Ziel hatten. Nun ist zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst eine Gesamtdarstellung des malerischen Werkes von Rodolphe Töpffers Vater, Wolfgang-Adam Töpffer, erschienen. Als 1789 in Genf die Revolution ausbricht, verliert er schlagartig sein Einkommen – unter den Waffen schweigen die Musen –, und er muss als Zeichenlehrer im Pensionat seines Sohnes Rodolphe Unterschlupf suchen. Zum Glück hat er hochrangige Mäzene, zu welchen sogar die Kaiserin Joséphine gehört. Doch in dem soeben bei Benteli publizierten Gesamtwerk entdecken wir überrascht, dass sich hinter dem als genialer Landschaftsmaler einer ganz eigenständigen deutsch-französischen Romantik, beliebt bei der ganzen europäischen Aristokratie und dem entstehenden Geldadel in der Schweiz, auch ein äusserst provokativer Karikaturist versteckte, was ihm in der intoleranten und engherzigen Stadt Genf selber keine Freunde machte. Man verwechselt ja immer wieder den so hoch gelobten «Esprit de Genève», den es eigentlich erst seit der Gründung des Roten Kreuzes, des Völkerbundes und der Uno gibt, und den «esprit genevois», der kleinlich, nachtragend, geldgierig und im Grunde bis heute zutiefst kunst- und geistfeindlich ist. Vater Töpffers beinah surrealistisch anmutenden Grotesken über die Genfer «Momiers», wie die calvinistischen Eiferer damals genannt wurden, machten im keine Freunde bei der Genfer Bourgeoisie, die fest an die Lehren des Kirchenreformators glaubte, der die Rhonestadt zu Glanz und Reichtum geführt hatte. Der Künstler schreibt denn auch etwas verbittert am Ende seines Lebens: «In Genf findet man die wenigsten meiner Werke», um mit übertriebener Bescheidenheit fortzufahren: «Ich fertigte viele Karikaturen verschiedenster Art an und war wohl in dieser Beziehung einigen Erfindungen der Zeit ein paar Schritte voraus». Das kann man wohl sagen, parbleu! Der Kunstwissenschaftler Lucien Boissonas hat dem prachtvollen Band eine kenntnisreiche Einleitung und einen Strauss Zitate über Vater Töpffer vorausgeschickt. (W.-A. Töpffer, 1766-1847, Peintures, Benteli Verlag, 2012).

Der lange Kampf für die Fristenlösung

 

Klara Zetkin. Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs war seit jeher eine Forderung der Internationalen Frauenbewegung. Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper war und ist ein Gradmesser für die Entwicklung der Gesellschaft – hier und international.

Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist weltweit zwischen 1995 und 2003 von knapp 46 Millionen auf rund 42 Millionen gesunken. In den Industrieländern, wo Abtreibungen meist sicher und legal durchgeführt werden können und die Aufklärung über Verhütungsmethoden breiter verankert ist, nahmen die Zahlen stärker ab. Im Trikont, wo mehr als die Hälfte der Abtreibungen illegal durchgeführt werden, stagnierten die Zahlen. Auch im 21. Jahrhundert wird circa knapp die Hälfte aller Schwangerschaftsabbrüche weltweit illegal und meist nicht fachgerecht usgeführt. Dies nicht zuletzt auch als Folge der reaktionären verhütungsfeindlichen Vatikan-Politik und seinen «Lebensschützer»-Truppen. Die damit verbundenen Risiken sind gemäss Weltgesundheitsorganisation WHO vielfältig:

– weltweit müssen jedes Jahr circa fünf Millionen Frauen wegen Blutungen und Sepsis stationär behandelt werden;

– durch die jährlich auf 40 Millionen geschätzten Abbrüche sterben etwa 13 Prozent der Frauen;

– Todesfälle ereignen sich mehrheitlich im Trikont, vor allem in Afrika;

– weitere Folgen illegaler Abtreibung sind die Stigmatisierung der Frauen und langfristige gesundheitlichen Probleme, wie zum Beispiel Unfruchtbarkeit.

Doch auch in jenen Ländern, in denen eine Abtreibung rechtlich erlaubt ist, stehen Frauen oft unter einem grossen moralischen und sozialen Druck. Es bestand immer ein Zusammenhang des Verbots der Verhütung und des Schwangerschaftsabbruchs. Die schärfsten Restriktionen gab es historisch in Monarchien, Diktaturen und kriegführenden Staaten. So war zum Beispiel die letzte Frau, die 1945 in Wien hingerichtet wurde, eine Frau, die Abtreibungen durchgeführt hatte.

Harmlose Christen? Gewalttätige Fundamentalisten!

Weltweit sterben nach wie vor Millionen von Frauen unter den unzureichenden medizinischen Bedingungen illegaler Abtreibungen. Bewegungen wie «ein Recht auf Leben» haben in den letzten Jahren in der Schweiz, in Europa und in den USA starken Aufschwung erhalten. Diese radikalen AbtreibungsgegnerInnen propagieren ein ultrarechtes, konservatives und zutiefst patriarchales, homophobes und fremdenfeindliches Weltbild und wollen den Schwangerschaftsabbruch wieder verbieten oder zumindest aus den Krankenkassenleistungen herausstreichen. Ihre Aktionen in der Öffentlichkeit können sie allerdings nicht immer unbehelligt durchführen und müssen durch eigene Sicherheitsdienste und oftmals auch durch massiven Polizeischutz gesichert werden. Dies ist kein Zufall, sondern steht im Zusammenhang mit der ökonomischen und politischen Situation. Der Kampf gegen die radikalen AbtreibungsgegnerInnen ist daher Teil der Klassen- und Frauenkämpfe.

Was hat unser Bauch mit der Krise zu tun?

In den kapitalistischen Staaten gab und gibt es keine einheitliche Meinung zur Abtreibung. Sie ist einerseits von den Bedürfnissen des Kapitals und andererseits vom Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Kapital abhängig. So kann ein längst erkämpftes Recht, wie das Recht auf Abtreibung, auch wieder in Frage gestellt und abgeschafft werden. Gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten wird das traditionelle Bild der Frau als Hausfrau und Mutter aufgewertet. Ziel ist es, Frauen in Zeiten von Sparmassnahmen und Kürzungen im Pflege- und Kinderbetreuungsbereich die entstandene unbezahlte Mehrarbeit aufzubürden.

Das Erstarken eines reaktionären Frauenbildes und eine Rückbesinnung auf konservative Geschlechterverhältnisse basiert somit auch auf ökonomischen Interessen. Durch Privatisierung, Flexibilisierung und Sozialabbau werden Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung kontinuierlich beseitigt. Der Vorstoß der radikalen AbtreibungsgegnerInnen ist Teil dieses gesamtgesellschaftlichen Rollbacks. Sie versuchen Frauen raus aus der Erwerbsarbeit und hinein in «ihre» Rolle als Mutter und Hausfrau zu drängen, für die bestenfalls ein prekärer Job zu haben ist. Denn ökonomische Unabhängigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und dieses steht im Widerspruch zur kapitalistischen Produktionsweise, die mit der sozialen Reproduktion verknüpft ist. Dazu gehört auch die Produktion und Erhaltung von Menschen, das heisst Schwangerschaft und Geburt, Betreuung der Kinder, der kranken und älteren Menschen. Den Grossteil der unbezahlten Betreuungs- und Versorgungsarbeit leisten Frauen. Das spart den Unternehmern Geld (das sie sonst in Form höherer Löhne zahlen müssten) und erhöht ihre Profite.

Eine alte Forderung

In der ArbeiterInnenbewegung gewann die Forderung für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts an Bedeutung, war jedoch in den eigenen Reihen nicht immer unumstritten. Der Umgang mit dem Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper war und ist ein Gradmesser für die Fortschrittlichkeit einer revolutionären Organisation. Gehören doch Familienplanung, Verhütung und die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs zu den Kernfragen der Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen. Bereits in den 20er Jahren setzte sich die Kommunistische Partei der Schweiz (KPS) auf der Strasse, auf Versammlungen und mit parlamentarischen Vorstössen vehement für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch ein. So äusserte sich Lisel Bruggmann* in einem Aufruf am internationalen Frauentag von 1925 wie folgt: «Die Arbeitszeit wird verlängert. Der Lohn wird abgebaut.
Der Brotpreis und alle Lebensmittel steigen… Die Arbeiterin wird zur Austragung ihrer Schwangerschaft gezwungen durch das Gesetz. Das muss nicht sein und darf nicht ewig so bleiben!»**

Nach der Revolution 1917 war Russland das erste Land der Welt, in dem der Schwangerschaftsabbruch legalisiert wurde. Alexandra Kollontai übernahm als erste Ministerin der Welt 1920 den Vorsitz der Frauenabteilung beim Zentralkomitee der KPdSU. Als Volkskommissarin für soziale Fürsorge setzte sie die Lockerung des Eherechts und die Verbesserung des Mutterschutzes durch. Sie erkämpfte das Recht auf Abtreibung und schlug Volksküchen und kollektive Kindererziehung vor. Mit der Etablierung der stalinistischen Bürokratie, wurde diese Errungenschaft 1936 wieder abgeschafft.

Der Kampf in der Schweiz

Noch 1971 wurden in der Schweiz 107 Frauen und 37 Drittpersonen wegen illegaler Abtreibung verurteilt. Zudem kam es in Folge illegaler Eingriffe zu Todesfällen. Die am 19. Juni 1971 lancierte und am 1. Dezember 1971 eingereichte Volksinitiative für straflosen Schwangerschaftsabbruch wurde abgelehnt, löste jedoch breite Debatten aus.

1988 wurde die letzte Frau verurteilt. Abtreibungen sollten nun mit Prävention bekämpft werden, nicht mit Bestrafung. Familienplanungsstellen wurden geschaffen und die Sexualerziehung an den Schulen eingeführt. Illegale Abtreibungen verschwanden und die Zahl der legalen Eingriffe sank um circa 15 Prozent. Das jahrzehntelange Gezänk zwischen Bund und Kantonen und den verschiedenen Parteiinteressen zeigt die Brisanz eines straffreien Schwangerschaftsabbruchs, dem Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die Familienplanung. Erst am 2. Juni 2002 wurde in der Schweiz die Fristenlösung vom Volk angenommen und muss bereits wieder verteidigt werden. Am 26. Januar 2010 lancierte der Anti-Abtreibungsverein «Mamma» (früher «Für Mutter und Kind») die Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache». Mit der Initiative, die am 4. Juli 2011 mit 109597 gültigen Unterschriften eingereicht wurde, wollen christlich-konservative Kreise dafür sorgen, dass Abtreibungen nicht mehr von der obligatorischen Krankenversicherung bezahlt werden. Mit der zynischen Parole «Abtreibungen sind keine Krankheit!» und irreführenden Argumenten zur Selbstverantwortlichkeit und Kostensenkung soll ein weiterer Leistungsabbau auf dem Rücken von Betroffenen durchgedrückt werden.
Der Kampf geht weiter

Gesundheit ist ein Menschenrecht, das der Kapitalismus nicht garantieren kann. International schreiten Restrukturierungen, Leistungsabbau und Privatisierungen im Gesundheitswesen voran. Nur eine Vergesellschaftung des Gesundheitswesens kann diese Entwicklung aufhalten. Die Bedürfnisse der Beschäftigten und PatientInnen müssen im Mittelpunkt stehen und das Gesundheitswesen muss der Profitlogik entzogen werden. Schwangerschaftsabbruch ist ein Recht von Frauen, die sich in einer bestimmten Lebenssituation gegen ein Kind entscheiden. In dieser Situation sollen sie die bestmögliche Versorgung erhalten.

Die Geschichte der Fristenlösung zeigt, dass Verbesserungen erst unter dem Druck der ArbeiterInnen- und Frauenbewegung erreicht werden konnten. Wichtige Forderungen wurden noch nicht umgesetzt, gleichzeitig starten konservative und kirchliche VertreterInnen immer wieder Angriffe auf die Straffreiheit der Abtreibung. Auch wenn sich in der aktuellen Situation kaum eine Abschaffung der Fristenlösung durchsetzen kann, bleibt der Kampf für die «Abtreibung auf Krankenkasse» auf der Tagesordnung.

Texthinweise

* Lisel Bruggmann arbeitete nach der Sekundarschule ab 1916 als Hilfsarbeiterin in einer Winterthurer Textilfabrik und trat in die sozialistische Freie Jugend ein. Sie war gewerkschaftlich engagiert und 1918 Gründungsmitglied der Schweiz sowie 1927 Mitglied der ersten schweizerischen Arbeiterdelegation in die Sowjetunion. Sie engagierte sich in der kommunistischen Frauenbewegung, für die Einführung der AHV, den 8 Stundentag und publizierte viele revolutionäre Gedichte und Aufrufe zum Klassenkampf in der Schweiz.

** Aus: Mattli, Angela (2005): «Gleichberechtigt aber anders». Grenzen weiblicher Integration und Partizipation in der Kommunistischen Partei der Schweiz 1921-1927. Grin Verlag, Norderstedt, Seite 20

 

 

Angriffe auf den Pflege und Betreuungsbereich als «neue Landnahmen»

 

 

Tulipana Maccaron. Fast täglich können wir mitverfolgen, wie im Bereich der Pflege und Betreuung Massnahmen ergriffen werden, um die «ungeheuren Kosten» einzudämmen, die der Gesundheits- und Betreuungssektor zu verschlingen scheint. Eigene Überlegungen und geklaute Theorien als Denkanstösse zu einer Diskussion über die Abbaupläne im Carebereich.

Die Massnahmen haben mehrheitlich zwei Ziele: Erstens die Kosteneinsparung durch Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (im Namen der «Gleichheit» sollen zum Beispiel die Ferien der Hortnerinnen angepasst das heisst um zwei-drei Wochen gekürzt werden, bei gleichem Lohn), Reduzierung der Qualität und Einschränkung von Leistungen. Und zweitens die Überwälzung von Kosten auf die Menschen, die diese Leistungen in Anspruch nehmen müssen.

Was haben diese Angriffe auf Arbeitsbereiche, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, mit der Theorie der Landnahme von Rosa Luxemburg zu tun? Der Begriff der Landnahme wurde von Karl Marx verwendet, um die Raubzüge zu beschreiben, die es für die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals braucht. Er meinte aber, dies sei nur eine «Geburtswehe» des Kapitalismus. Sobald dieser am Funktionieren sei, brauche es diese gewaltsamen Enteignungen nicht mehr.

In ihrem Hauptwerk «Die Akkumulation des Kapitals» beschreibt Rosa Luxemburg 1912, dass das Kapital zum Überleben immer auf die gewaltsame Aneignung von Menschen, ihrer Arbeit, aber auch Rohstoffen angewiesen ist. (minimalistische Zusammenfassung, wer sich mehr für dieses Thema interessiert lese ersten «Das Kapital» von Karl Marx und zweitens «Die Akkumulation des Kapitals» von Rosa Luxemburg 1912.)

Landnahme bezeichnet nichts anderes als Akkumulation (gleich Anhäufung von Reichtum) durch Enteignung, also Raub. Nebst den offenen Landnahmen durch Kriege, Plünderungen, Krisen weltweit, laufen auch hier räuberische Angriffe auf so genannt marktbegrenzende, das heisst auf noch nicht privatisierte Institutionen wie Schulen, Krippen, Horte, Spitäler, also alles Institutionen des Pflege- und Betreuungsbereiches, in dem vorwiegend Frauen arbeiten. Das ist nicht zufällig. Frauenarbeit soll wieder in den Bereich der Gratisarbeit und, wo das nicht gelingt, zu Billigstarbeit degradiert werden.

Entsolidarisierung als Vorbereitung zum Qualitätsabbau

An aktuellen Beispielen können wir mitverfolgen, wie solche «Landnahmen» geplant, Akzeptanz dafür geschaffen und schliesslich realisiert werden. Eine Massnahme, die als eigentlicher Landraub im Sinne des Wortes bezeichnet werden kann, ist die Reduzierung der Quadratmeter von vier auf zwei Quadratmeter (vor wenigen Jahren waren es noch sechs Quadratmeter)
pro Kind in den Zürcher Horten, schönfärberisch Verdichtung genannt. Den Kindern wird also die Hälfte ihrer Lebensfläche gestohlen (sinnbildlich zu verstehen, da es sich ja nicht um Eigentum handelt). Geraubt wird auch die Hälfte der Aufmerksamkeit der Betreuungspersonen, die Hälfte der pädagogischen Begleitung und Förderung. Stattdessen werden die Kinder, sicher-sauber- satt, verwaltet.

Für die Betreuenden ist es die Verdoppelung ihrer Arbeit zu gleichem Lohn. In einer Produktionssituation würde das heissen, die Maschine plötzlich auf doppelter Geschwindigkeit laufen zu lassen – Charlie Chaplin zwischen den Rädern hängend lässt grüssen.

Schauen wir nun ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen an. Durch Stellenabbau und der Reduktion von gut ausgebildetem Personal, kürzeren Aufenthaltsdauer der PatientInnen, komplexere Pflegesituationen für Spitex und Altersheime usw. wird das Personal an den Rand seines Leistungsvermögens gebracht. Kontinuierlich bleibt frau/man hinter dem Anspruch einer guten Pflege/Betreuung, wie es vermutlich einst gelernt wurde, zurück. Das ist frustrierend und kein Mensch kann auf Dauer in dieser Situation bleiben, ohne krank zu werden oder Methoden zu entwickeln, sich dem Druck zu entziehen oder ihn eben weiterzugeben. Als Problemlösung angeboten wird Abgrenzung und Entsolidarisierung. Abgrenzung wird durch die Aufspaltung der Tätigkeiten eingeführt. Für bestimmte Pflegeverrichtungen ist nur noch Person A zuständig, für andere Person B, fürs Essen die Gastronomie, fürs Putzen die Hauswirtschaft ecetera. Die
Aufsplitterung der Tätigkeiten wird so ad absurdum geführt, dass es in einem Spitalzimmer zugeht wie auf dem Bahnhof. Wenn aber jede Person in diesem «Team» nur noch für ihren eigenen Bereich zuständig ist, interessiert es nicht, wenn die Anderen ihren Teil der Arbeit nicht erfüllen und so einE PatientIn buchstäblich in der Scheisse liegen bleibt. Der auf Unterstützung angewiesene Mensch dahinter verschwindet durch das geistige Sich-Abwenden des Personals.

Auf diese Form der Entsolidarisierung werden wir seit Längerem mit Schlagwörtern wie KostenverursacherInnen, Bedarf/Bedürfnis, Eigenverantwortung und so weier vorbereitet. Man/frau ist also nicht mehr krank, er/sie ist einE KostenverursacherIn. Schon in diesem Begriff steckt die Unterstellung der Selbstverschuldung, ja gar eine gewisse Bösartigkeit. In diesem Klima ist es nicht verwunderlich, dass Pflegende ihre Unzufriedenheit damit ausdrücken, dass sie Bedürfnisse von Patient-Innen als übertriebene Forderungen empfinden.

Das Gesundheitswesen als Institution gehört allen. Jede und jeder hat per Gesetz Anrecht auf eine gute Gesundheitsversorgung. Der Angriff auf das Gesundheitswesen ist der Versuch einer «Landnahme», also einer räuberischen Enteignung von Eigentum der Bevölkerung, die Spitäler durch ihre Steuern mitfinanzieren.

Dass Frauen alles möglich machen, wird gegen sie verwendet

Rosa Luxemburg erkannte, dass Landnahmen nur durch die Anwendung von massiver Gewalt durchgesetzt werden können. Das hat sich bis heute nicht verändert. Der Raub von Arbeit, Fähigkeiten, Wissen von Frauen wird mittels struktureller und offener Gewalt täglich immer wieder neu durchgesetzt, geschützt von frauenfeindlichen Lebensbedingungen, Ideologien und Gesetzen.

Jede bisherige Gesellschaftsform beruhte nebst der Ausbeutung der unteren Klassen auf der Ausbeutung von Frauen nicht nur als Arbeiterinnen, sondern als männlicher Besitz und somit verhandelbare Masse. Der Kompromiss zwischen weissen männlichen Arbeitern und Kapitalisten anfangs des 20. Jahrhundert und die Verbreitung der Ideologie der Kleinfamilie mit Ernährerlohn plus Hausfrau hat die Stellung aller Frauen auf dem Arbeitsmarkt als billige Arbeitskräfte und gleichzeitig die Reproduktionsarbeit als minderwertige Arbeit zementiert. Durch ihre Zuständigkeit für die Reproduktion wurden Frauen als Zusatzverdienerinnen in ungesicherte Teilzeitarbeitsverhältnisse gedrängt. Den Hausfrauen wurde kein Recht auf ein Normalarbeitsverhältnis mit existenzsicherndem Lohn und somit der Möglichkeit zu einem unabhängigen Leben zugestanden. Das Stigma der Zweitverdienerin prägte und prägt die Stellung aller Frauen auf dem Arbeitsmarkt bis heute und prägt auch alle Bereiche, in denen vorwiegend Frauen arbeiten. Das Bild der Frau, die gleichzeitig Haushalt, Kinder, Arbeit managt, hat das Bild der «Nur-Hausfrau» abgelöst. (Als «moderne» Alleskönnerin hat sie heute auch noch «sexy», cool, attraktiv und immer jung zu sein.) Aber dieses «alles möglich machen» wird im Betreuungssektor nun gegen sie verwendet. Mit dem Argument: «Es geht ja noch» wird immer mehr Leistung zu gleichem Lohn verlangt. Multitasking wird heute bei jeder Anstellung verlangt, Belastungsfähigkeit ist Pflicht und Qualitätsabbau muss mit Sprüchen wie „Altes loslassen können und offen sein für Neues!“ hingenommen werden. Gleichzeitig wird durch den Qualitätsabbau die Arbeit entwertet, Kinder hüten und ein bisschen pflegen kann ja jede. Dem Pflege und Betreuungssektor wird die Nähe zur Gratis-Reproduktionsarbeit zum Verhängnis. Bei der Verteilung des Geldes für Lohnerhöhungen im Zürcher Service public bekommt vor allem die Polizei ihre Zulagen, Betreuung und Pflege gehen leer aus – auch mit zwei sozialdemokratischen Frauen an der Spitze der Regierung.

Die Argumente der Banken, gute ArbeiterInnen brauchen gute Bedingungen (inklusive Bonis und so weiter.) gilt nicht für den Carebereich. Dem Arbeitskräftemangel wird nicht durch attraktivere Arbeitsbedingungen, höhere Löhnen, kürzere Arbeitszeiten oder sonstige Vergünstigungen entgegengewirkt, sondern mit dem Einführen von neuen Ausbildungen, die eine neue Gruppe von Billigstlohnarbeiterinnen schafft. Nach einer dreijährigen Ausbildung zur «Fachangestellten Betreuung respektive Gesundheit» verdient eine Angestellte bei Vollzeitbeschäftigung einen Lohn, der nur knapp existenzsichernd ist. Da winkt wieder das heteronorme Bild des Ernährers und «seine» Frau darf ein bisschen dazuverdienen.

Wir meinen: Wir sind uns mehr Wert!

Statt unten sparen, oben enteignen

Dass es an Geld nicht mangelt, auch das wird uns täglich um die Ohren gehauen. Bei den inzwischen alltäglichen Börsenberichten müssen wir uns Gewinnsummen anhören, die nur mit den dagobertschen Fantastilionen zu vergleichen sind. Ein Prozent der MilliardärInnen weltweit leben in der Schweiz. Ohne Hemmungen wird öffentlich gemacht, wie viel die Besitzenden im letzten Jahr verdient haben, die 300 Reichsten 11 Milliarden. Dies natürlich nicht durch Handarbeit zum Beispiel im Pflege- oder Betreuungsbereich. Für den Betreuungsbereich werden in der Schweiz lächerliche 0,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgegeben! Und da soll noch gespart werden!

Unser Vorschlag: Das Geld da holen, wo es ist, einsetzen, wo es gebraucht wird. Milliardäre enteignen statt bei Besitzlosen sparen.

Studierendendemo der Uni Zürich und der Fachhochschulen – Montag, 4. März. 16:00

Offensichtlich beginnen sich die Studierenden der Universität Zürich und der Fachhochschulen gegen die geplanten Studiengebührenerhöhungen sowie weitere Verschlechterungen zu wehren. In undemokratischer Manier versucht die SP-Regierungsrätin Aeppli einmal mehr die bürgerlichen Interessen eines neoliberalen Hochschulumbaus durchzusetzen.

Folgend zwei unterschiedliche Demo- bzw. Kundgebungsaufrufe der Studierenden.

Aufruf1:

Aufruf2:

Montagskundgebung gegen die geplante Studiengebührenerhöhung!
Unsereuni – We Are Back!

Die SP-Regierungsrätin Regina Aeppli hat den VertreterInnen der Studierendenorganisationen des Kantons ZH am Montag mitgeteilt, dass für die Studierenden der Universität Zürich die Gebühren um mindestens 160 CHFr steigen sollen. Zudem habe der Regierungsrat eine Erhöhung der Gebühren an den Fachhochschulen auf 720 CHFr. pro Semester entschieden. Medizinstudierende müssen in ihrem Praxisjahr neu die vollen Studiengebühren bezahlen. Parallel dazu werden die Masterstudiengänge umgebaut: Immer weniger sind sie Teil des Regelabschlusses, sondern zugängliche Abschlüsse für die, die sich so was leisten können.
Unsereuni hatte 09/10 auf der ganzen Linie Recht!

Für besonders stossend erachten wir die Frechheit, mit welcher die Regierungsrätin Aeppli die Studierenden der Uni und Fachhochschulen versucht für dumm zu verkaufen, um so einen erfolgreichen Studierenden-Protest wie 2009 zu verhindern. Dem Studierendenrat der Uni Zürich versucht sie glaubhaft zu machen, die Erhöhung der Studiengebühren an der Uni sei zum Einen ein kleineres Übel, sie wolle damit der Forderung nach grösseren Erhöhungen der anderen Parteien entgegenwirken. Zum anderen begründet sie diese Erhöhung dennoch als simplen Teuerungsausgleich. Den VertreterInnen der Fachhochschulen hingegen kommuniziert sie, die Anhebung erfolge aus Gerechtigkeitsüberlegungen.

Offensichtlich fehlen dem Regierungsrat eigentliche Argumente. Und das überrascht auch nicht. Schon 2009 konnten die Studierenden der Uni Zürich die Gebührenerhöhungen durch eine Besetzung verhindern. Dies zeigt, dass Sparmassnahmen und Gebührenerhöhungen politische Entscheidungen sind, die schlicht davon abhängen, ob die Studierenden sich organisieren und zur Wehr setzen können. Wir setzen uns zur Wehr und werden Hand in Hand, Seite an Seite mit den Studierenden der Fachhochschulen für unsere Rechte kämpfen!

Kundgebung: Mo. 16:00, Haupteingang.
Vollversammlung: Do. 18:00, OASE (KO2-G-289).

Quellen:

Entlassungen sind nicht nötig

Am Nachmittag des 16. Dezember  haben Experten und die Gewerkschaft Unia der Novartis-Direktion einen fundierten Bericht mit Vorschlägen präsentiert, wie der Standort Nyon aufrecht erhalten werden kann. Auch in Basel können Entlassungen verhindert werden, wie die von den Basler Personalvertretungen heute ebenfalls eingereichten Vorschläge zeigen.
Ende Oktober hat Novartis die Streichung von rund 1’100 Arbeitsplätzen in der Schweiz angekündigt, 320 in Nyon und 760 in Basel. In Nyon haben heute Nachmittag die 30-köpfige Expertengruppe (Kadermitarbeitende des Betriebes), die Delegation des Personals sowie die Gewerkschaft Unia der Novartis-Direktion ihren fundierten, rund 100-seitigen Bericht präsentiert. Darin werden detaillierte Vorschläge gemacht, wie der Standort Nyon aufrecht erhalten und auf Entlassungen verzichtet werden kann. Die Vorschläge führen zu Einsparungen, die in etwa so hoch sind wie die von Novartis angestrebten Einsparungen. Die Vorschläge sehen vor:

  • Wiedereingliederung von ausgelagerten Produktionsschritten
  • Diversifikation der Produktion
  • Optimierung der Produktionslinien, begleitet von der Umschulung von Arbeitnehmenden (allenfalls durch eine gezielte Unterstützung durch die Regierung)
  • Reorganisation beim Immobilienmanagment
  • Zurückführung des administrativen Personals von Genf nach Nyon (Einsparungen Miete)
  • Verminderung des Energieverbrauch und Einsparungen beim Kehrricht-Management und beim Transport
Die vorgeschlagenen Massnahmen verhindern zudem, dass verschiedene Novartis-Standorte gegeneinander ausgespielt werden können. Bereits letzten Freitag hat die Belegschaft von Novartis in Nyon die Vorschläge einstimmig genehmigt und die Novartis-Direktion aufgefordert, die Vorschläge des Personals ernsthaft zu prüfen.

Joe Jimenez muss sein Versprechen halten
Auch in Basel haben heute die Personalvertretungen von Novartis Basel konkrete Vorschläge eingereicht, mit denen in der Region Basel Entlassungen bei Novartis vermieden werden können. In intensiver Arbeit haben die Internen Personalvertretungen IPV bei Novartis Basel zusammen mit der Belegschaft eine umfassende Analyse vorgenommen und Vorschläge erarbeitet. In einem überzeugenden Dokument, das sie der Novartis-Direktion heute fristgerecht übergeben haben, zeigen sie auf, welche Massnahmen dafür ergriffen werden müssen. Die Gewerkschaft Unia fordert, dass Novartis die Vorschläge der Personalvertretungen seriös prüft und alles unternimmt, um Entlassungen in Basel zu verhindern.

Die Gewerkschaft Unia und das Novartis-Personal erwarten, dass die Vorschläge des Personals und der Experten seriös geprüft werden und dass Novartis alles unternimmt, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Novartis-CEO Joe Jimenez muss nun Wort halten und sich persönlich den Vorschlägen des Personal annehmen.

Quelle: www.unia.ch

Revolution gegen die Sprache

Das 11. Internationale Poesiefestival «Al-Mutanabbi Zürich» vom 4. bis 6. November stand in Anspielung auf die Aufstände in der arabischen
Welt unter dem Motto «Poesie und Veränderung». Dabei ging es in den Diskussionen um die Rolle der Poesie und der Lyrik in den gegenwärtigen Zeiten des Umbruchs.

LyrikerInnen aus Europa, wie etwa Walle Sayer aus Deutschland, sprachen vom Blick auf die kleinen, unscheinbaren Veränderungen im Alltag, die beim Schreiben interessieren. Ein Blick, der sich schärfer und zugleich milder auf das richtet, das ihn umgibt. Ein Gedicht soll die einzelne Person ansprechen, sie stärken oder auch verunsichern; nie aber gibt es eine einfache Antwort. Von Seiten der anwesenden LyrikerInnen wie auch des Publikums, wurden die unterschiedlichen Hintergründe und Voraussetzungen der Aufstände in den einzelnen arabischen Ländern betont, und dass dies auch den Umgang mit Kultur und deren Rolle innerhalb der Gesellschaft prägt. Kritisiert wurde die mangelnde Auseinandersetzung mit Religion und deren Verhältnis zum Staat. Dies bewirkt eine Stagnation der vorgegebenen Gesellschaftsstrukturen, was es denn auch erschwert, überhaupt von Revolution oder einem Umbruch in der Gesellschaft zu sprechen. Vor allem hätten die Leute einfach nur die Schnauze voll von ihren Regierungen, ohne dass schon klar wäre, wie die neuen Strukturen gestaltet werden sollten, geschweige denn die Praxis und Erfahrungen dafür vorhanden wären.

Machtverschiebung

Es wurde bedauert, dass die intellektuellen Kreise sich während den ganzen Umbrüchen zurückgehalten hätten, dabei wäre es aber wichtig, diese Stimmen ebenfalls hören zu können. Viele DiskussionsteilnehmerInnen verstanden unter den jüngsten Ereignissen in der arabischen Welt keine Revolution an sich, als tief greifende Veränderung, sondern der Beginn einer Machtverschiebung und der Beginn eines Umbruchs, dessen Dynamik unklar ist. Wie auch immer sich dies entwickelt, scheint es so zu sein, dass man die Umbrüche in der arabischen Welt in einem grösseren Zeitrahmen sehen muss. In sämtlichen Ländern stellt sich das Problem, dass es völlig offen ist, wer die Führung übernehmen könnte. Hier wie in vielen arabischen Staaten ist deshalb die Angst gross, organisierte Vereinigungen und islamistische Parteien würden die Führung für sich beanspruchen.

Autonomie der Poesie

Wie sieht das nun genau mit den LyrikerInnen und deren Schaffen inmitten dieser Umwälzungen aus? Obwohl aus einigen Statements klar wurde, dass sich die Intellektuellen in diesen Umbrüchen zu wenig zu Wort gemeldet hätten, gab es andere Stimmen, die für die Autonomie der Poesie (und so auch der Lyrik) plädierten. Während die politischen Diskurse sich immer wieder andersartig ausnehmen, zeichnet sich die Poesie dadurch aus, dass sie sich dieser Machtspiele entzieht und so längerfristig grössere Chancen hat, gehört und ernst genommen zu werden. Sie braucht keine Parolen, um die vermeintliche Wahrheit zu verkünden – sie kommt ohne grosse Botschaften aus und kommt gerade so näher an die Menschen heran. Die Poesie wehrt sich gegen die politische Vereinnahmung, indem sie die Ideologien ironisiert. Was das Gedicht erst aussagekräftig macht, ist der Raum, der sich mit dessen Sprache öffnet; es ist in sich eine Revolution gegen die Sprache und die Interpretation, wie es Fatima Naoot aus Ägypten ausdrückte. Damit liegen diese Sichtweisen gar nicht so weit entfernt von derjenigen eines Walle Sayers.

Streumunition und die Schweiz

Streumunition macht ganze Gebiete unbewohn- und -passierbar, tötet Tausende Zivilisten. Die barbarische Waffe soll nun endlich verboten werden, doch gegen die Ratifizierung des Verbots stellt sich die Schweizer Militär- und Bankenlobby. Um den Druck zu erhöhen, lanciert die GSoA eine Petition.

Obwohl bald internationaler Konsens besteht, dass die Produktion und Anwendung von Streumunition, sowie finanzielle Investitionen in ihre Herstellung verboten werden sollen, klammern sich die bürgerlichen Militärköpfe der Schweiz weiterhin daran, ihre Lager an Streumunition aufrechterhalten zu können. Grund für die jetzige Diskussion ist die bevorstehende Ratifizierung des Übereinkommens über Streumunition, die in der Schweiz auf der Kippe steht – obwohl die Schweiz einer der ersten Staaten war, welcher das Abkommen 2008 unterzeichnete. Der Bundesrat empfiehlt dem Parlament, das Übereinkommen zu ratifizieren. Doch die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates stellt sich quer. Dies hat in der Schweiz zu Recht einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.

Eine Ratifizierung des Abkommens hätte für die Schweiz zwei Folgen. Einerseits müssten die jetzigen Bestände an Streumunition vernichtet werden. Dies ist mit Kosten von 25 bis 35 Millionen Franken verbunden, was wohl die einzig sinnvolle Investition der heutigen Armee wäre. Andererseits dürften die hiesigen Banken weder direkt noch indirekt in Firmen investieren, welche das verbotene Kriegsmaterial produzieren. Dementsprechend regt sich bei den Bankinstituten Widerstand. Die Gelder, welche Schweizer Banken in Kriegsmaterialfirmen investieren, unterstützen direkt die Produktion von Kriegsmaterial und nehmen zerstörte Landschaften und eine immense Anzahl an zivilen Opfern in Kauf. «Handicap International» hat diesen Frühling einen Bericht veröffentlicht, welcher aufgezeigt hat, dass in der Schweiz vor allem die Credit Suisse und die UBS in Streubomben produzierende Firmen investieren. Während sich die beiden Banken dazu relativ zurückhaltend äussern, findet die «Schweizerische Bankiersvereinigung« klarere Worte: Zwar sagt man, dass ein Verbot von Streumunition begrüsst wird, im selben Satz wird jedoch auch erwähnt, dass man sich davor fürchtet, sich einen Wettbewerbsnachteil durch das Verbot einzuhandeln. Diese Aussage zeigt, wie wenig die Banken sich um das eigentliche Anliegen scheren. Man versucht nach aussen den «guten Ruf» zu wahren, aber sobald man nur geringeste Verluste erwartet, wird damit argumentiert, dass dem «Finanzplatz Schweiz» geschadet wird.

In der Zeit stehen geblieben

Einzige Hoffnung sind nun die Wahlen vom 23. Oktober 2011. Diese haben viele neue PolitikerInnen ins Parlament gebracht, welche hoffentlich noch nicht unter einem solch grossen Einfluss der Banken- und Rüstungslobby stehen. Einige der bisher wortführenden bürgerlichen Sicherheitspolitiker wurden abgewählt. So zum Beispiel Pius Segmüller (CVP), Sylvie Perrinjaquet (FDP), Christian Miesch (SVP) und Ulrich Schlüer (SVP). Diese Abwahl ist eine besondere Freude, weil die vier ehemaligen Parlamentarier besonders eng mit «Farner», der PR-Agentur der Rüstungslobby, zusammengearbeitet haben.

«Farner» lobbyiert indirekt durch die Front-Organisation AWM (Arbeitsgemeinschaft für einen wirksame und friedenssichernde Milizarmee) für Streumunition. AWM verbreitet die absurdesten Argumente gegen eine Ratifizierung des Streumunitionsabkommens. So wird argumentiert, dass Streumunition unverzichtbar für eine effiziente Schweizer Verteidigungsstrategie sei. Diese Begründung ist schlicht lächerlich, denn der Einsatz von Streumunition in der Schweiz zur Verteidigung hätte verheerende Folgen. Ganze Regionen würden unbewohnbar werden. Dies zeigt wiederum deutlich, dass die Schweizer Armee und ihre LobbyistInnen nicht daran interessiert sind, ein realistische Bedrohungsszenario und eine daran angepasste Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Es scheint, als wäre man in der Entwicklung vor einigen Jahrzehnten stehengeblieben, während sich die Welt rundherum im ständigen Wandel befindet.

Um den Druck der Öffentlichkeit auf das Parlament zu erhöhen, hat die GSoA eine Petition lanciert, welche auf www.stopstreubomben.ch zu finden ist. Unterschreibe noch heute!

Avalongemeinschaft

Nach unseren Erkenntnissen organisierte die Avalongemeinschaft am 12. November 2011 im Grossraum Luzern einen Vortrag. Als Redner waren bedeutende Vertreter der rechtsextremen Szene Deutschlands zu Gast. Ziel der Gemeinschaft ist es, die nationalsozialistische Ideologie wieder salonfähig zu machen.

Die Avalongemeinschaft ist eine seit 1990 bestehende rechtsextreme Organisation, die quasi als geheimer Bildungszirkel funktioniert. Ihre Tätigkeiten «beschränken» sich weitgehend auf das Durchführen ideologischer Bildungsveranstaltungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn Zutritt erhalten nur geladene Gäste. In seinem Buch «Rechtsextremismus in der Schweiz» aus dem Jahr 1996 beschreibt Jürg Frischknecht die Aktivitäten der Avalongemeinschaft treffend wie folgt: «Sie fördern die geistige Schulung und führen einen Kampf um (vereinzelte) Köpfe. […] Diese Kräfte versuchen die Grenze dessen, was man öffentlich sagen kann, stetig nach rechts zu verschieben, weil sie nationalsozialistische Ideologie wieder salonfähig machen wollen».

Inhaltlich knüpft die Gemeinschaft mit ihrem völkisch-nationalen Weltbild und dem Glauben an eine germanische Herrenrasse direkt am Nationalsozialismus Hitlers an. Neben den symbolträchtigen nordisch-germanischen Feiertagen werden vor allem Vorträge mit Rednern der internationalen Elite rechtsextremer und nationalsozialistischer Strömungen durchgeführt. Dazu gehören unter anderem Holocaust-LeugnerInnen, rechtsextreme PublizistInnen und GeschichtsrevisionistInnen aus aller Welt.

Nazideutschland als Vorbild

Am 12. November 2011 waren die deutschen Referenten Bernd Rabehl und Hans Schmidt Gäste der Avalongemeinschaft. Hans Schmidt zählt zu den Führungspersönlichkeiten der «Artgemeinschaft – germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemässer  Lebensgestaltung». Auch diese Organisation knüpft in ihrer Ideologie direkt an die Rassenlehre Nazideutschlands an. Bereits als Student war Schmidt politisch im extremen rechten Lager aktiv. Seine Frau, Edda Schmidt, ist eine der einflussreichsten weiblichen Figuren in der deutschen rechtsextremen Szene. Gemeinsam betreiben sie einen Versand für Schriften aus dem Dritten Reich. Deshalb wurde das Ehepaar bereits wegen «Anstachelung zum Rassenhass»  verurteilt. Weiter gilt Schmidt als Mitautor für das Publikationsorgan der mittlerweile verbotenen «Hilfsgemeinschaft Nationaler Gefangener» sowie der Zeitschrift «Nation und Europa».

Bernd Rabehl war ursprünglich Träger der 68er Revolte in Deutschland und wechselte in den 90er Jahren ins rechtsextreme Lager. Er wandelte sich zum Vertreter eines völkischen Nationalismus und empörte sich immer stärker über die «Überfremdung» und das «Antisemitismus-Tabu». Er engagierte sich für die «Deutsche Volksunion» (DVU) sowie für die «Nationale Partei Deutschland»  (NPD) und wurde 2009 gar als gemeinsamer Kandidat für das Amt des deutschen Bundespräsidenten gehandelt.

Verbindungen zur SD und zur PNOS

Nicht weniger beunruhigend sind die Mitglieder und ihre ZuhörerInnen: Gegründet wurde die Avalongemeinschaft durch Roger Wüthrich, einem seit den 80ern bekannten rechtsextremen Aktivisten. Ursprünglich Vorsitzender der «Wiking Jugend Schweiz» wandte er sich 1991 nach deren Auflösung  voll und ganz der Avalongemeinschaft und damit der Bildung einer «geistigen Elite» zu. Neben diesen Aktivitäten war Wüthrich Mitglied der «Schweizer Demokraten» (SD) und wechselte später zur «Freiheitspartei Schweiz».

Verbindungen zwischen Avalon und politischen Parteien sind keine Seltenheit. So schreibt der ehemalige Neonazi und SD-Parteisekretär Alexander Nyffenegger in einem Manuskript, dass auch Bernhard Hess, ehemaliger SD-Nationalrat sowie weitere ExponentInnen der Partei an Veranstaltungen von Avalon anzutreffen gewesen seien. Nyffenegger bestätigt dies auch in einem Interview mit der «Linkezeitung» im Jahr  2010. An den gleichen Vorträgen nahmen auch gestandene Altnazis und Holocaustleugner wie Bernhard Schaub, Jürgen Graf und der Lausanner Gaston-Armand Amaudruz teil.

Die Brückenfunktion

Nach über zehn Jahren gibt Wüthrich im 2003 die Führung des Zirkels an den bekannten Neonazi Adrian Segessenmann ab. Als ehemaliges Führungsmitglied der «Nationalen Offensive», aktiver Hammerskin und mittlerweile stellvertretender Vorsitzender der «Partei National Orientierten Schweizer» (PNOS) im Emmental mischt Segessenmann seit Jahrzehnten aktiv in der braunen Szene mit. Auch war er als 16jähriger 1995 beim gewalttätigen Überfall auf das Festival der Völker in Hochdorf (LU) beteiligt und pflegt gute Kontakte zu rechtsextremen Gewalttätern. Offiziell hat sich Segessenmann nun der Literatur und Bildung verschrieben. Er betreibt einen nationalen Buchversand und organisiert interne Bildungsveranstaltungen – auch für so genannte «Freie Kameradschaften». An diesen werden nebst dem korrekten Verhalten eines nationalen Aktivisten auch die «Prinzipien des nationalen Kampfes» vermittelt, wie auf der Homepage der PNOS-Berner Oberland zu lesen ist.  An den Aufmärschen in Sempach oder auf dem Rütli gehört Segessenmann zum Inventar und war 2009 in Sempach als Teil des Sicherheitsdienstes vor Ort.

Als Vorsitzender der Avalongemeinschaft und aktives Mitglied rechtsextremer Subkulturen nimmt Segessenmann eine Brückenfunktion wahr. Die Organisation verbindet gestandene Altnazis, Intellektuelle der «Neuen Rechten» und Mitglieder rechter Parteien mit den prügelnden und saufenden Aktivisten der «Freien Kameradschaften». Die Bildungsveranstaltungen bilden einen politischen und kulturellen Überbau für das Selbstverständnis der heutigen Neonazis und vermitteln die Legitimation, ihre kruden Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Diese gefährliche Mischung aus ideologischer Verblendung, politischem Rückhalt, jugendlichem Übermut und allgemeiner Affinität zur Gewalt, sollte uns – nicht erst jetzt, aber jetzt erst recht – zu denken geben.

Baumeister drohen, Arbeiter streiken


Der Kampf der Bauarbeiter um einen besseren Landesmantelvertrag (LMV) spitzt sich zu. Nach dem Protesttag der Arbeiter am 25. November, organisiert von Unia und Syna, schloss der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) gestern, am 1. Dezember die Unia von allen weiteren Verhandlungen aus. Die Antwort erhielten die Baumeister heute im Tessin: 2 000 Arbeiter streikten und gingen auf die Strasse.

Sie handeln nach einem altbekannten Motto: Teile und herrsche. Gestern, am 1. Dezember verkündete der SBV, man werde in Zukunft nicht mehr mit der Unia verhandeln. Der SBV begründet diesen Schritt mit den «rechtswidrigen Handlungen von Unia-Leuten» und der Verletzung der Friedenspflicht durch die Protestaktionen am 25. November. Es ist die alte Litanei der Baumeister im Besonderen und Arbeitgeber im Allgemeinen: Agiert die Gewerkschaft militant und organisiert sie einen Streik, so überhäuft man sie mit Klagen und ruft die Friedenspflicht – die immer nur der einen Seite nutzt –in Erinnerung. In diesem speziellen Fall verfolgt der SBV allerdings ein konkretes Ziel: Die Gewerkschaften Unia und Syna gegeneinander auszuspielen.

Bislang organisierten Unia und Syna den Kampf der Arbeiterschaft gegen den SBV und für einen besseren LMV gemeinsam. In dem Ausschluss der Unia von den Verhandlungen sehen die Baumeister nun die Möglichkeit, die Bewegung zu spalten und zu schwächen. Man bietet der Syna die verführerische Chance, die Arbeiterschaft allein zu vertreten – im Wissen darum, dass sie die schwächere (sowohl zahlenmässig wie auch vom Gesichtspunkt ihres Kampfeswillen her) der beiden Gewerkschaften ist. Offenbar erhoffen sich die Baumeister so, einen für sie günstigeren Ausgang in den Verhandlungen um den LMV zu erreichen.

Der Kampf um den LMV im Detail

Und die Baumeister haben viel zu verlieren, nämlich Teile ihrer Profite. Der LMV, der nun neu ausgehandelt werden muss, betrifft bekanntlich das gesamte Bauhauptgewerbe – er regelt die Arbeitsbedingungen von etwa 100 000 Arbeitern. Entsprechend ist das Interesse der Baumeister gross, die festgelegten Bedingungen im LMV möglichst zu drücken. So wollen die Baumeister unter anderem die Möglichkeit, die vereinbarten Mindestlöhne unterschreiten zu können und den Kündigungsschutz zu lockern. Und nach zwei Jahren ohne Lohnerhöhung bieten die Baumeister nur magere 1,5 Prozent mehr Lohn für 2012 an. Zu wenig für die Gewerkschaften, die mindestens 1,8 Prozent mehr Lohn gefordert hatten.

Auch die anderen Forderungen von Unia und Syna, die nach einer Umfrage unter den Arbeitern aufgestellt  wurden, missachteten die Baumeister einfach. So wollen die Gewerkschaften vor allem mehr Schutz für die Arbeiter bei Schlechtwetterbedingungen. Der SBV will das nicht – und sagt damit deutlicher als mit Tausend Worten, wie viel ihm die Gesundheit «seiner» Arbeiterschaft wert ist. Auch die andere grosse Forderung, die Solidarhaft, wird abgelehnt. Die Solidarhaft würde die Baumeister für alles verantwortlich machen, was auf ihrer Baustelle geschieht – also auch für die Unterscheitungen der Mindestlöhne durch Subfirmen, an die man den Bauauftrag ausgelagert hat. Verständlich, dass die Baumeister hier dicht machen: Die Solidarhaft würde dem Lohndumping auf dem Bau einen Riegel vorschieben.

Und so ist es von einer bezeichnenden Offenherzigkeit, wenn der SBV nun im gleichen Atemzug, in dem er die Unia von allen Verhandlungen ausschliesst, die Fortführung des alten LMV «ohne Vorbedingungen» bis zum Abschluss eines neuen Vertrags fordert. Das wäre allerdings ganz im Sinne der Baumeister. Im Angesicht der Tatsachen (volle Auftragsbücher, im letzten Jahr mehr als 3 Prozent erhöhter Umsatz und stetiges Branchenwachstum) ist es für den SBV schwierig, seine Kürzungsforderungen durchzubringen. Da wäre er mit dem Beibehalten des alten Vertrages – es stünde zu befürchten, dass die Verhandlungen um einen neuen Vertrag fast beliebig gestreckt würden – gut bedient. Es gibt also viel Taktik und wenig «Solidarpartnerschaft» auf Seiten der Baumeister.

Streik im Tessin 

Aufforderungen zu neuen Verhandlungen haben die Baumeister bereits zurückgewiesen. Zwei Gesprächsangebote von Unia und Syna wurden abgelehnt. Da der LMV im Januar abläuft und die Bedingungen des SBV erpresserisch sind, droht also der vertragslose Zustand – und damit der offene Arbeitskampf der Bauarbeiter. Im Tessin konnte man von der Arbeiterschaft, die den Kampf ausfechten müsste, bereits einen Eindruck erhalten. Am heutigen Tag, entsprechend dem Protesttag am Freitag vor einer Woche, legten mehr als 2 000 Bauarbeiter im Tessin ihre Arbeit nieder und demonstrierten lautstark und kämpferisch für ihre Rechte. Und gegen die Baumeister. Der vorwärts war anwesend und begleitete solidarisch das Heer der Arbeiter.

In Bellinzona sammelte sich so die Wut der Arbeiter. Für etwa zwei Stunden gehörten die Strassen denen, die sie tatsächlich auch bauen. Ein rot-orangenes Fahnenmeer aus Unia- und Syna-Flaggen (im Tessin: «Organizzazione Cristiano-Sociale Ticinese») tauchten Bellinzona auch bei grau-trübem Wetter in Farbe. Die Stimmen von Tausenden Arbeitern waren weithin unüberhörbar.

Allerdings wurden die bedeutendsten Worte des heutigen Tages nicht direkt von Arbeitern, sondern von einem Syna-Funktionär gesprochen. Dieser wies den Angriff der Baumeister zurück und betonte die Einheit der beiden Gewerkschaften im Kampf um den LMV. Man werde nur gemeinsam verhandeln und werde gemeinsam kämpfen. Das ist eine Absage an den Spaltungsversuch des SBV und als solche sehr zu begrüssen. In diesem Fall ist die Haltung der Syna im Arbeitskampf also eine solidarische – noch kann man sagen: Sie hat der Verführung widerstanden.

Was darüber hinaus überraschte, war eine Aussage, die man von der Syna so nicht gewohnt ist. Würden die Baumeister nicht endlich die Forderungen der Arbeiter erfüllen und liessen sie es auf den vertragslosen Zustand ankommen, so werde man zum Generalstreik aufrufen. Das sind sehr neue Töne, die man ausserhalb des Tessins kaum gewohnt ist. Sie deuten darauf hin, dass sich der Arbeitskampf zuspitzt und dass die Gewerkschaften, eben auch die Syna, gewillt sind, ihn endlich kämpferisch zu führen. Es bleibt abzuwarten, ob die Syna Wort hält. Daran ist ihr Wert als Gewerkschaft zu messen.

 

Das Ziel ist klar!

Auf der Traktandenliste standen die Punkte «Bilanz der Nationalratswahlen» und «Organisation und Zukunft der Partei». Die beiden Themen wurden an der ZK-Sitzung gemeinsam diskutiert, da sie durchaus einen Zusammenhang haben. Der Präsident Norberto Crivelli eröffnete die Diskussion mit der Feststellung: «Wir sind eigentlich schon daran gewöhnt, dass wir keinen Nationalrat und keinen Kontakt dorthin mehr haben, da Joseph Zisyadis schon einen Monat nach seiner letzten Wahl  vor vier Jahren die Partei faktisch verlassen hat.» Wie wahr, doch in seinen Worten steckt auch die bittere Tatsache, dass die Partei keine Antworten fand, um den Weggang von Zisyadis schadlos zu überstehen, sprich mindestens einen Sitz im Nationalrat zu halten. Es entwickelte sich eine lange Diskussion über das Funktionieren, die Strukturen und die Identität der Partei. So kontrovers und teilweise auch hitzig die Diskussion war, kann sie mit dem Votum der Genossin Delya aus Neuenburg zusammengefasst werden: «Wir haben wirklich ein Problem mit der Disziplin. Die Zukunft unserer Partei hängt davon ab, dass wir über das neue Programm diskutieren. Das sollte bewirken, dass auch nicht mehr von ‹Sektierern› gesprochen wird.» Sie fügte aber auch hinzu: «Unsere Ideen werden oft  von anderen Kräften der Linken geklaut. Das zeigt doch, dass wir gar nicht so schlecht sind.» Der Weg der PdAS ist für die nächsten Monaten vorgegeben: Es braucht eine gut organisierte Diskussion über ein neues Parteiprogramm, das die Identität klar definiert. Ein schwieriger Prozess, der im Spätherbst 2012 mit dem Parteitag abgeschlossen werden soll, so die einstimmige Meinung im ZK.

Le Locle als Vorbild

Die Diskussion im ZK zeigte aber eine weitere Tatsache auf, die widersprüchlich und gleichzeitig positiv ist: Während die PdAS nur mit Mühe gemeinsame, landesweite Aktionen organisieren und durchführen kann, gibt es aus den einzelnen Sektionen sehr positive Zeichen. So zogen vier der sechs Sektionen, die an den Wahlen teilnahmen, eine durchaus positive Bilanz der Wahlkampagne. Im Tessin hat die Partei im Vergleich zu den Nationalratswahlen 2007 gut 300 NeuwählerInnen gewonnen. «Keine grosse Zahl», sagte Leo aus dem Tessin, «aber doch ein klares Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.» Er erinnerte auch daran,  dass die Partei im Tessin vor allem von jungen GenossInnen getragen wird, die um «eine weitere, wichtige Erfahrung» reicher geworden sind.

Ähnliches gilt für Zürich: «Wir haben an den Wahlen teilgenommen, um die Entwicklung innerhalb der Sektion zu verstehen. Konkret: Wie gut können wir eine Kampagne organisieren und umsetzen?» Die Frage stellte sich, weil die Sektion Zürich in den letzen Monaten einige neue, junge und aktive GenossInnen gewonnen hat. Siro: «Wir ziehen eine gute Bilanz. Einige Sachen müssen wir korrigieren, aber wir sind für den nächsten Schritt bereit.»

In Bern hat sich «die Sektion durch den Wahlkampf bekannter gemacht», erklärte Rolf. Nicht zuletzt durch die Tatsache, dass in über 700?000 Haushalte die PdA-Informationen geliefert wurden. Spannend auch die Tatsache, dass in den Medien der Stadt Bern die Partei totgeschwiegen, sie jedoch «eine gewisse Präsenz im Jura und im Berner Oberland» hatte. Auch die Berner Genossen ziehen eine positive Bilanz und sprachen von «einer wichtigen und guten Erfahrung für die Zukunft», vor allem weil «die Mobilisierung sehr erfreulich war».

Mit dem Genossen Denis de la Reussille, dem Stadtpräsidenten von Le Locle, «hatten wir einen Spitzenkandidaten, der bei der Bevölkerung sehr beliebt ist», erklärte German, der kantonale Sekretär der PdA-Neuenburg. In Le Locle erreichte die Partei 27.8 Prozent der Stimmen (!) und Denis bekam mehr Stimmen als die gewählte Vertreterin der Grünen. Da aber die Grünen leicht mehr Listenstimmen als die PdA schafften, wurde der Sitz grün und nicht rot. Schade, weil die GenossInnen die gute Kampagne im ganzen Kanton unterstrichen und ihren Wähleranteil dadurch auch steigern konnten – es reicht trotzdem ganz knapp nicht. Doch: «Wir haben die Erkenntnis, eine gute Arbeit geleistet zu haben – und das ist für uns wichtig».

Den Sitz geklaut

Nur die GenossInnen aus Genf und dem Kanton Waadt hatten nichts Gutes zu berichten. Genau jene beiden Sektionen, die über Jahren die Flaggschiffe der PdA-Flotte waren, sind in einer tiefen Krise. Die Genfer GenossInnen gaben ihren Frust und ihre Enttäuschung über das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte offen zu. Nun soll die Arbeit in den verschiedenen Stadtquartieren verstärkt und mit konkreten Forderungen nahe bei der Bevölkerung politisiert werden.

Ausführlicher wurde der Genosse aus dem Kanton Waadt. Er erklärte, dass «eine Reihe von Gründen» für die Wahlschlappe verantwortlich waren, welch die Partei «in einen Teufelskreis» hineingezogen hat. Doch einer der Hauptgründe liegt bereits vier Jahren zurück, die Wirren um den Nationalratssitz im 2007: Gewählt wurde damals Marianne Huguenin, der zweite Sitz ging verloren. Auf Druck von Joseph Zysiadis verzichtete Huguenin auf den Sitz. Dies löste eine Welle der Empörung aus. Marianne bekam Hunderte von Protestbriefen, vor allem von Frauen, die sie gewählt hatten. So erklärte der Genosse: «Es haben die Wahllokomotiven gefehlt, Marianne hat nicht mehr kandidiert, weil sie sich durch ihren Sitzverzicht vor vier Jahren selbst abgesägt hat.» Hinzu kam, so der Genosse, dass «Zysiadis uns den Sitz dann geklaut hat». Da die SP im Kanton Waadt linke Positionen vertritt wie sonst kaum eine andere SP-Sektion, wurden die GenossInnen während der Wahlkampagne oft mit der Frage der «nützlichen Stimme» konfrontiert. Warum die PdA wählen, wenn die SP im Parlament viel mehr bewirken kann? Weil wir Kommunisten sind!

Diese  Frage schliesst so quasi den Kreis der Diskussion mit der Erkenntnis, dass die PdA ein neues Programm und eine klare Identität braucht. Eine schwierige Aufgabe, wie bereits erwähnt, aber ein Ding der Unmöglichkeit ist es nicht. So nannte Larry, ein junger Genosse aus dem Kanton Waadt, das Beispiel aus Portugal: «Der KP Portugal ist es gelungen, die GenossInnen hinter einem Programm zu scharen. Es ist daher kein Zufall, dass sie wieder recht erfolgreich ist.» Das Ziel ist klar!

«Die Körper unserer Kinder sind verkohlt»

Bild aus der Dokumentation der KNK

Es sind verstörende Fotos, an Grausamkeit, Brutalität und Unmenschlichkeit kaum zu übertreffen. Fotos von verkohlten Leichen, die kaum noch als solche zu erkennen sind. Der Vater der gefallenen PKK-Kämpferin Ebru Muhikanc? erklärte, nachdem ihm der Leichnam seiner Tochter in Malatya übergeben worden war, dass alles darauf hindeutet, dass Ebru mit Chemiewaffen umgebracht wurde – genauso wie die 23 weiteren PKK-KämpferInnen, die zwischen dem 22. bis 24. Oktober in der Nähe der kurdischen Kleinstadt Çelê (Çukurca) bei schweren Luft- und Bodenangriffen der türkischen Armee ihr Leben verloren. Der Vater von Ebru sagte: «Die Körper unserer Kinder sind verkohlt.»

Dem vorwärts liegt eine Dokumentation des «Congrès National du Kurdistan» (KNK) mit Sitz in Brüssel vor. Darin ist die folgende Zeugenaussage eines PKK-Kämpfers zu lesen, der den Angriff überlebt hat: «Die türkische Armee hat das internationale Abkommen und das Kriegsrecht durch den Einsatz etlicher illegaler Waffen gebrochen. Bei tagelangem, pausenlosem Beschuss durch Kampfflugzeuge, Kobra-Hubschrauber, Panzer, Artillerie und Mörser wurden auch Napalmbomben eingesetzt. Es wurden ausserdem selbst nach tagelangen Regen- und Schneefällen noch Spuren chemischer Waffen entdeckt, die mittlerweile ein Klassiker beim türkischen Militär sind.»

Als wäre es ein Scherz

Nachdem am 24. Oktober 2011 in den Medien bekannt geworden war, dass die 24 Leichname in der Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses Malatya liegen, ist eine Kommission bestehend aus Vertretern von BDP (Partei für Frieden und Demokratie), IHD (Insan Haklar? Dernegi – Menschenrechtsverein) und MEYA-DER (Verein der Angehörigen von Verschwundenen) der Sache nachgegangen und hat ihren Bericht der Öffentlichkeit vorgestellt. Laut Angaben der Kommission wurden sie trotz all ihrer Bemühungen von den zuständigen Behörden nicht aufgeklärt. Und dies deutet darauf hin, dass die Personen tatsächlich unbewaffnet gewesen waren. Die Mitglieder der Kommission und die betroffenen Familienangehörigen, die Bilder der Leichname zu Gesicht bekommen haben, waren «von diesem unmenschlichen Anblick entsetzt. Denn die Leichname waren zerfetzt und verbrannt».

Die BDP schreibt weiter in ihrer Medienmitteilung: «Diese Tatsache bekräftigt die Vermutung, dass es sich um den Einsatz chemischer Waffen handelte. Das Stillschweigen der Medien trotz dieser Vermutungen ist ein Beweis dafür, dass sie die Anweisungen Ministerpräsident Erdogans an die Medien genau befolgen.» Und die Partei fügt hinzu: «Man schweigt: Die Zuständigen schweigen, die Medien schweigen, die Justiz schweigt… Als ob die 24, die ihr Leben verloren haben, keine Menschen gewesen wären. Und alle schweigen, als ob die Annahme, dass Chemiewaffen im Einsatz gewesen waren, ein Scherz wäre. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass dieses unselige Schweigen nur denjenigen dient, die dieses Land ins Chaos stürzen wollen.»

Über 400 Tote durch Chemiewaffen

Mit dem Einsatz von Chemiewaffen bricht die Türkei das internationale Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen. Das Abkommen wurde am 13. Januar 1993 beschlossen, von der Türkei einen Tag später unterzeichnet und trat am 29. April 1997 in Kraft. Laut Artikel 1 des Chemiewaffenabkommens unterliegen die Unterzeichnerstaaten folgenden Verpflichtungen: «Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, unter keinen Umständen jemals chemische Waffen zu entwickeln, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu lagern oder zurückzubehalten oder chemische Waffen an irgend jemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben; chemische Waffen einzusetzen; militärische Vorbereitungen für den Einsatz chemischer Waffen zu treffen; irgend jemanden in irgendeiner Weise zu unterstützen, zu ermutigen oder zu veranlassen, Tätigkeiten vorzunehmen, die einem Vertragsstaat aufgrund dieses Übereinkommens verboten sind.» Als Unterzeichnerstaat der ersten Stunde ist die Türkei verpflichtet (!), sich an die Bestimmungen des Abkommens zu halten und umzusetzen. Sie tut es offensichtlich nicht. So drängt sich die Frage auf: Warum schweigt dazu Europa, warum schweigt dazu die ganze Welt?

Höchst bedenklich ist die Tatsache, dass der Einsatz von chemischen Waffen durch die türkische Armee nichts Neues ist. Der IHDin Amed/Diyarbak?r hat einen Bericht über den Einsatz chemischer Waffen durch die türkischen Streitkräfte veröffentlicht. Der Bericht enthält wichtige Informationen über Militäroperationen der türkischen Armee, bei denen sie nachweislich Chemiewaffen eingesetzt haben: «Von 1994 bis 2011 wurden bei 39 Militäroperationen Chemiewaffen eingesetzt und dabei kamen 437 PKK-KämpferInnen ums Leben.»

Immer wieder bestätigt

Am 12. August 2010 veröffentlichte «spiegel-online» einen Bericht über «Fotos von verbrannten, verstümmelten und verätzten Körperteilen, Leichen, die kaum noch als solche zu erkennen sind». Laut türkisch-kurdischen MenschenrechtlerInnen soll es sich bei den Toten um «acht Angehörige der kurdischen Untergrundbewegung PKK handeln, die im September 2009 getötet worden sind».

MenschenrechtsaktivistInnen übergaben die Bilder im März 2010 einer deutschen Delegation aus Türkei-ExpertInnen, JournalistInnen und PolitikerInnen der Linkspartei. Im Bericht ist weiter zu lesen: «Inzwischen hat Hans Baumann, ein deutscher Bildfälschungsexperte, die Authentizität der Fotos verifiziert – und ein rechtsmedizinisches Gutachten des Hamburger Universitätsklinikums bestätigt den ursprünglichen Verdacht: Die acht Kurden starben ‹mit hoher Wahrscheinlichkeit› durch den Einsatz chemischer Substanzen.» Der Artikel im «spiegel-online» schlug in Deutschland hohe Wellen. «Die neuerlichen Ereignisse sind so eklatant, dass die türkische Seite sie dringend aufklären muss», gab die «die Grünen»-Vorsitzende Claudia Roth zu Protokoll. Und sie fügte hinzu: «Es ist nicht nachvollziehbar, warum eine Obduktion der Leichen von PKK-Kämpfern angeordnet wird, aber die Ergebnisse unter Verschluss gehalten werden.» Ähnlich auch die Reaktion des CDU-Bundestagsabgeordneten Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses: «Die Türkei muss diese Vorwürfe dringend aufklären. Der beste Weg dazu ist sicherlich, dies unter internationaler Beteiligung zu tun», wird er im «spiegel-online» zitiert. Gisela Penteker, Türkei-Beauftragte der Organisation «Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs», weist darauf hin, dass der Verdacht über den Einsatz von Chemiewaffen seitens der türkischen Armee seit vielen Jahren besteht. «Die Menschen vor Ort sagen das immer wieder.» Doch ein Nachweis sei allerdings schwierig, denn die Leichen würden oft erst spät freigegeben, so sei eine gründliche Obduktion oft kaum mehr möglich.

Die Frage sei an dieser Stelle wiederholt: Warum schweigt Europa, warum schweigt die Welt? Jede ungesehene und ungeahndete Menschenrechtsverletzung ist eine Einladung zur wiederholten Menschenrechtsschuld. Brechen wir das Schweigen!

Brauner Terror

Schon seit Jahren warnen Rechtsextremismus-ExpertInnen, dass sich hinter der bieder-friedlichen Fassade einer NPD oder «freien Kameradschaft» im Untergrund rechte Terrorzellen am Formieren sind. Es bleibt befürchten, dass die Infos, welche nun tröpfchenweise zur braunen Terrorzelle preisgegeben werden, nur die Spitze des Eisbergs sind. Neonazistische Todesschwadrone, vom deutschen Geheimdienst finanziert und mit Pässen ausgestattet, morden unbemerkt über die Jahre hinweg. Wer dachte, so etwas sei in Deutschland nie mehr möglich, der ist zu Recht schockiert.

Und in der Schweiz? Offenbar leidet man auch hier unter Sehschwäche auf dem rechten Auge, wie der etwas gar wirre Verlauf der Strafuntersuchung gegen den «Rütlibomber» zeigt. Und die antikommunistische Killermaschine Breivik scheint sich schon wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verabschiedet zu haben. Wie sehr die Gesellschaft in den letzten Jahren nach rechts gerutscht ist, zeigt der Umstand, dass selbst die SP, schon mal über die Leichen der eigenen GenossInnen geht. Nur kurz nach dem Massaker in Norwegen  debattierte die SP auf dem Lenzburger Schlossberg pseudokontrovers ihr Parteiprogramm, moderiert vom geistigen Attentäter und Brandstifter Roger Köppel. Kritische Stimmen zur Einladung Köppels gab es keine. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass auf dem Cover der Weltwoche, die einen Tag vor den Anschlägen in Norwegen erschien, von der «Scharia in der Schweiz» gefaselt und gleich noch eine Liste der hässlichsten Gebäude zum-in-die-Luft-sprengen präsentiert wurde. Liebe SP: Über schlechten Geschmack lässt sich streiten, über Zivilcourage und Linkspopulismus nicht.

Die völkisch-heidnische Avalongemeinschaft

Neonazis stehen im Kontakt mit der Avalon

Die Avalongemeinschaft ist eine seit 1990 bestehende rechtsextreme Organisation, die quasi als geheimer Bildungszirkel funktioniert. Ihre Tätigkeiten «beschränken» sich weitgehend auf das Durchführen ideologischer Bildungsveranstaltungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn Zutritt erhalten nur geladene Gäste. In seinem Buch «Rechtsextremismus in der Schweiz» aus dem Jahr 1996 beschreibt Jürg Frischknecht die Aktivitäten der Avalongemeinschaft treffend wie folgt: «Sie fördern die geistige Schulung und führen einen Kampf um (vereinzelte) Köpfe. […] Diese Kräfte versuchen die Grenze dessen, was man öffentlich sagen kann, stetig nach rechts zu verschieben, weil sie nationalsozialistische Ideologie wieder salonfähig machen wollen».

Inhaltlich knüpft die Gemeinschaft mit ihrem völkisch-nationalen Weltbild und dem Glauben an eine germanische Herrenrasse direkt am Nationalsozialismus Hitlers an. Neben den symbolträchtigen nordisch-germanischen Feiertagen werden vor allem Vorträge mit Rednern der internationalen Elite rechtsextremer und nationalsozialistischer Strömungen durchgeführt. Dazu gehören unter anderem Holocaust-LeugnerInnen, rechtsextreme PublizistInnen und GeschichtsrevisionistInnen aus aller Welt.

Nazideutschland als Vorbild

Am 12. November 2011 waren die deutschen Referenten Bernd Rabehl und Hans Schmidt Gäste der Avalongemeinschaft. Hans Schmidt zählt zu den Führungspersönlichkeiten der «Artgemeinschaft – germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemässer  Lebensgestaltung». Auch diese Organisation knüpft in ihrer Ideologie direkt an die Rassenlehre Nazideutschlands an. Bereits als Student war Schmidt politisch im extremen rechten Lager aktiv. Seine Frau, Edda Schmidt, ist eine der einflussreichsten weiblichen Figuren in der deutschen rechtsextremen Szene. Gemeinsam betreiben sie einen Versand für Schriften aus dem Dritten Reich. Deshalb wurde das Ehepaar bereits wegen «Anstachelung zum Rassenhass»  verurteilt. Weiter gilt Schmidt als Mitautor für das Publikationsorgan der mittlerweile verbotenen «Hilfsgemeinschaft Nationaler Gefangener» sowie der Zeitschrift «Nation und Europa».

Bernd Rabehl war ursprünglich Träger der 68er Revolte in Deutschland und wechselte in den 90er Jahren ins rechtsextreme Lager. Er wandelte sich zum Vertreter eines völkischen Nationalismus und empörte sich immer stärker über die «Überfremdung» und das «Antisemitismus-Tabu». Er engagierte sich für die «Deutsche Volksunion» (DVU) sowie für die «Nationale Partei Deutschland»  (NPD) und wurde 2009 gar als gemeinsamer Kandidat für das Amt des deutschen Bundespräsidenten gehandelt.

Verbindungen zur SD und zur PNOS

Nicht weniger beunruhigend sind die Mitglieder und ihre ZuhörerInnen: Gegründet wurde die Avalongemeinschaft durch Roger Wüthrich, einem seit den 80ern bekannten rechtsextremen Aktivisten. Ursprünglich Vorsitzender der «Wiking Jugend Schweiz» wandte er sich 1991 nach deren Auflösung  voll und ganz der Avalongemeinschaft und damit der Bildung einer «geistigen Elite» zu. Neben diesen Aktivitäten war Wüthrich Mitglied der «Schweizer Demokraten» (SD) und wechselte später zur «Freiheitspartei Schweiz».

Verbindungen zwischen Avalon und politischen Parteien sind keine Seltenheit. So schreibt der ehemalige Neonazi und SD-Parteisekretär Alexander Nyffenegger in einem Manuskript, dass auch Bernhard Hess, ehemaliger SD-Nationalrat sowie weitere ExponentInnen der Partei an Veranstaltungen von Avalon anzutreffen gewesen seien. Nyffenegger bestätigt dies auch in einem Interview mit der «Linkezeitung» im Jahr  2010. An den gleichen Vorträgen nahmen auch gestandene Altnazis und Holocaustleugner wie Bernhard Schaub, Jürgen Graf und der Lausanner Gaston-Armand Amaudruz teil.

Die Brückenfunktion

Nach über zehn Jahren gibt Wüthrich im 2003 die Führung des Zirkels an den bekannten Neonazi Adrian Segessenmann ab. Als ehemaliges Führungsmitglied der «Nationalen Offensive», aktiver Hammerskin und mittlerweile stellvertretender Vorsitzender der «Partei National Orientierten Schweizer» (PNOS) im Emmental mischt Segessenmann seit Jahrzehnten aktiv in der braunen Szene mit. Auch war er als 16jähriger 1995 beim gewalttätigen Überfall auf das Festival der Völker in Hochdorf (LU) beteiligt und pflegt gute Kontakte zu rechtsextremen Gewalttätern. Offiziell hat sich Segessenmann nun der Literatur und Bildung verschrieben. Er betreibt einen nationalen Buchversand und organisiert interne Bildungsveranstaltungen – auch für so genannte «Freie Kameradschaften». An diesen werden nebst dem korrekten Verhalten eines nationalen Aktivisten auch die «Prinzipien des nationalen Kampfes» vermittelt, wie auf der Homepage der PNOS-Berner Oberland zu lesen ist.  An den Aufmärschen in Sempach oder auf dem Rütli gehört Segessenmann zum Inventar und war 2009 in Sempach als Teil des Sicherheitsdienstes vor Ort.

Als Vorsitzender der Avalongemeinschaft und aktives Mitglied rechtsextremer Subkulturen nimmt Segessenmann eine Brückenfunktion wahr. Die Organisation verbindet gestandene Altnazis, Intellektuelle der «Neuen Rechten» und Mitglieder rechter Parteien mit den prügelnden und saufenden Aktivisten der «Freien Kameradschaften». Die Bildungsveranstaltungen bilden einen politischen und kulturellen Überbau für das Selbstverständnis der heutigen Neonazis und vermitteln die Legitimation, ihre kruden Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Diese gefährliche Mischung aus ideologischer Verblendung, politischem Rückhalt, jugendlichem Übermut und allgemeiner Affinität zur Gewalt, sollte uns – nicht erst jetzt, aber jetzt erst recht – zu denken geben

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