Sevin Satan. Seit über 40 Jahren organisiert das 1.-Mai-Komitee in Zürich das dreitägige internationalistische Fest rund um den Tag der Arbeit. Doch, wie kam es überhaupt dazu und warum? Der vorwärts sprach mit Anjuska Weil, Theresa Jäggin und Raffaele Spilimbergo, drei Politaktivist:innen, die von Beginn an dabei waren.
Der 1.-Mai-Umzug mit dem dreitägigen Festbetrieb auf dem Zeughaus-Areal war für die Schreibende dieser Zeilen schon als achtjähriges Mädchen, damals frisch in die Schweiz gekommen, absolut das Beste. Es herrschte immer eine Vorfreude. Die Transparente des Demonstrationsumzugs zu tragen, bis die Arme keine Kraft mehr hatten, war super. Womöglich ohne zu wissen, was draufstand. Aber egal, es war cool.
Danach auf dem Zeughaus-Areal, das war wirklich paradiesisch. Wir Kinder sprangen auf den Blasios (grosse Gummimatten), sammelten Flaschen ein, um Pfandgeld zu kriegen und uns leckere Sachen damit zu kaufen. Dann das Kinderschminken, das sonstige Kinderprogramm und natürlich bis in die späten Abendstunden aufbleiben zu dürfen. Was will man als Kind noch mehr? Und das an drei Tagen hintereinander.
Für kulturellen Austausch und bessere Arbeitsbedingungen
Auch dieses Jahr wird wieder an über drei Tagen gefeiert. Das 1.-Mai-Fest mit seinen zahlreichen Veranstaltungen im bunten Rahmenprogramm ist das grösste linke Polit- und Kulturfest der Schweiz. Organisiert wird das Fest vom 1.-Mai-Komitee Zürich, das seit 1982 als Verein konstituiert ist. Er besteht aus mehr als 50 politischen Organisationen, die in der Mitbestimmung gleichberechtigt sind. Auf seiner Website ist zu lesen: «Der Verein bezweckt den kulturellen Austausch und die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Schweizer:innen und Migrant:innen, die Verbesserung der Situation der in- und ausländischen Arbeitnehmer:innen sowie international die Befreiung und Selbstbestimmung der Völker.»
Doch, was sind die Ursprünge des 1.-Mai-Komitees? Was waren die Gründe, es ins Leben zu rufen? Wir sprachen mit drei Politaktivist:innen, die es wissen müssen: Anjuska Weil, Theresa Jäggin und Raffaele Spilimbergo (Raffy). Anjuska ist seit 1971 Mitglied der Partei der Arbeit (PdA) und war von 1980 bis 1993 deren politische Sekretärin. Von 1991 bis 1999 sass sie als Vertreterin der FraP! (Frauen macht Politik!) im Zürcher Kantonsrat. Sie ist Gründungsmitglied des 1.-Mai-Komitees und war dann die folgenden 20 Jahre aktiv dabei. Kurz nach der Gründung stiessen die Aktivistin Theresa und von der damaligen Gewerkschaft Druck & Papier (heute Syndicom) Raffy zum Komitee. Beide sind heute noch aktiv. Drehen wir also das Rad der Geschichte um über vier Jahrzehnte zurück …
Beginnen wir bei den Ursprüngen: Wie ist das 1.-Mai-Komitee entstanden?
Anjuska: 1980 entschied der Vorstand des Gewerkschaftsbundes Stadt Zürich, keinen Demonstrationsumzug mit anschliessender Kundgebung mehr zu organisieren. Es hiess, es kämen zu wenig Leute. Eine Zeit lang war die Teilnahme eine Flaute, Organisationen der Migration nahmen kaum teil.
Theresa: Dies hatte sicher auch damit zu tun, dass der 1.Mai nach der Volksabstimmung in Kanton Zürich ein offizieller Feiertag wurde.
Anjuska: Die SP hatte beschlossen, nur noch eine Saalveranstaltung im Volkshaus zu organisieren. Etliche linke Aktivist:innen fanden aber, das gehe gar nicht. So haben sich SP-Mitglied Peter Münger, Roger Roth von der Gewerkschaft Druck & Papier (heute Syndicom) und Fritz Amsler von der Progressiven Organisation Schweiz (POCH) zusammengetan. Diese drei zentralen Figuren, eine Person von der Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und ich von der PdA waren die erste Kerngruppe. Danach kamen schnell andere Personen dazu, wie Theresa und Raffy.
Raffy: Mehmet Akyol der damaligen Gewerkschaft Textil Chemie und Papier (GTCP), die dann in die Unia integriert wurde, war auch ziemlich von Beginn an dabei.
Theresa: Bald schlossen sich auch Leute von der damaligen Gewerkschaft Bau und Holz, der heutigen Unia, der Gewerkschaft VPOD und der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), wie Angelo Tinari, an.
Wie ist das frisch entstandene Komitee vorgegangen?
Anjuska: Wir organisierten im Kollektiv den Demons-trationsumzug. Kurzfristig entschieden wir, dass wir anschliessend ein Fest machen wollten. So wurde das erste 1.-Mai-Fest in der Roten Fabrik durchgeführt, damals noch nur an einem Tag. Wir haben im ersten Jahr möglichst viele linke Organisationen der Migration eingeladen. Die ersten Treffen fanden im PdA-Sekretariat statt. Damals waren vor allem die italienischen und die spanischen Kommunist:innen aktiv. Als die Organisation breiter geworden war, wurde entschieden, das Fest nach dem Demoumzug in der Bäckeranlage durchzuführen. Bald kamen chilenische, palästinensische, sprich die Palestine Liberation Organization (PLO), sowie türkische und kurdische Organisationen dazu, auch solche aus der Kulturszene. Es war von Anfang an klar, dass nur linke Organisationen eingeladen werden. Die migrantischen Organisationen waren bald in der Mehrzahl, einige Schweizer:innen ertrugen es schlecht, in der Minderheit zu sein. Es war vor allem beim Beschluss der Hauptparole oder des/der Hauptredner:in des Komitees am Fest schwierig, wenn diese sich beispielsweise auf die Türkei bezogen.
Theresa: Es gab sehr lange Sitzungen, ohne Abstimmungen. Es wurde stets nach einem Konsens gesucht, oftmals bis um Mitternacht. Viele Jahre fanden die Vollversammlungen im ehemaligen Cooperativo statt.
Wie haben sich dann das Komitee und das Fest weiterentwickelt?
Anjuska: Nach dem zweiten oder dritten Jahr haben wir gemerkt, dass wir das 1.-Mai-Komitee als Verein konstituieren mussten. Die Reservationen von Lokalitäten, Bands, die ganze Infrastruktur, die wir aufstellten, Tontechnik, Stände usw., damit gingen wir grosse finanzielle Verpflichtungen ein, die wir als Einzelne nicht mehr tragen konnten.
Theresa: In der Bäckeranlage haben wir das Fest auf zwei Tage ausgeweitet. Wir haben über das WC-Reinigen, Aufstellen, Abräumen, Aufräumen bis hin zur Nachtwache, alles selbst gestemmt. Danach gingen wir gemeinsam ins Volkshaus und zählten das Geld. Es war sehr solidarisch.
Anjuska: Wenn es am 1. Mai schlechtes Wetter war, entstand finanziell schnell ein Risiko, um die Kosten zu decken. Die Überlegung war dann, die 1.-Mai-Feier auf drei Tage zu verteilen, um das Wetterrisiko zu reduzieren. Gleichzeitig kamen immer mehr Organisationen dazu, das Programm wurde erweitert und dann wurde das kulturpolitische Fest ins Zeughaus-Areal verlegt.
Was waren die grössten Herausforderungen? Und gab es auch heikle Momente?
Anjuska: Die schlimmsten Auseinandersetzungen waren damals unter türkischen und kurdischen Organisationen, wahrscheinlich um 1982 herum. Da fielen einmal Schüsse und wir mussten vor Ort entscheiden, ob wir jetzt das Fest abbrechen sollten. Wir konnten das nicht, da wir es sonst finanziell nicht hätten stemmen können. So lief das Fest weiter. Das war sehr abstrus. Diese Organisationen wurden vom Platz verwiesen. Das war schon eine ganz krasse Ausnahme.
Theresa: Einmal hat die Polizei Tränengaspetarden, gefüllt mit verbotenem Giftgas, über die Zeughausdächer ins Areal geschossen. Panik und Chaos brach aus.
Raffy: Ich rannte raus zu dieser Polizistin, die da hereingeschossen hatte und rief aus: «Gahts no! Da sind tausende Menschen auf dem Areal, viele Kinder und ältere Personen. Hören Sie sofort auf!» Sie erwiderte, dass alle Chaot:innen im Areal seien. Ich flippte aus und sagte: «Schauen sie mal durch das Gitter hinein, dann sehen sie es selber.» Über Funk wurde sie dann mit den anderen Polizist:innen zurück beordert. Ein älterer Mann hatte einen Herzinfarkt wegen des Tränengases und die Polizei versperrte dem Krankenwagen den Weg. Das war sehr chaotisch.
Anjuska: Eine Tränengasgranate ist direkt vor mir auf den Tisch geprallt. Zunächst habe ich nichts mehr gesehen, so haben meine Augen gebrannt.
Theresa: Am nächsten Tag gab es eine Demo gegen den Polizeieinsatz.
Raffy: Ab Mitte der 1990er-Jahre gab es immer wieder ein Theater mit den Nachdemos. Es nahmen damals auch sehr viele Teenager daran teil. Auch wir wurden wegen den Nachdemos mal eingekesselt. Das 1.-Mai-Komitee ist seitdem immer bei den Eingängen und sagt den Menschen klar, dass sie im Areal bleiben sollen, damit solche Fälle nicht mehr vorkommen. Wegen der Standkosten und -Einnahmen gab es immer wieder Reklamationen innerhalb des Komitees. Dieses Misstrauen machte mich wütend. So haben wir angefangen, alle Kosten offenzulegen. Doch keine dieser Organisationen, die zuvor laut reklamiert hatten, kam dann, um sie zu prüfen. Wir haben fixe Kosten für das Areal, aber es kommt jeweils noch eine hohe Stromrechnung dazu, da der Strom von der Grossverteiler- Anlage bezogen werden muss.
Theresa: Generell ist das Plenum sehr geschrumpft. Viele Organisationen kommen und gehen. Vor allem kommen viele Organisationen erst später in die Vorbereitungen hinein, was die Arbeit erschwert und ein bisschen unsolidarisch ist. In den letzten paar Jahren traten viele vom Vorstand zurück. Dies war eine schwierige Zeit, mit der Frage verbunden, wie es denn weitergehen sollte. Jetzt ist es wieder besser. Es gibt wieder eine engagierte Generation.
Zum Schluss: Welche positiven Ereignisse oder Erlebnisse kommen euch in den Sinn, wenn ihr an das 1.-Mai-Komitee denkt?
Anjuska: Die Stadt Zürich hat damals Integrationsprojekte gemacht, doch ich denke, das 1.-Mai-Komitee war zu jener Zeit das grösste Integrationsprogramm, vielleicht ist es das sogar jetzt noch. Doch wohlgemerkt, wir haben keine städtischen Subventionen erhalten und man hat wirklich auf Augenhöhe zusammengearbeitet. Das finde ich etwas Aussergewöhnliches. Ja, ich denke, es war wirklich das grösste Integrationsprogramm, das die Stadt Zürich hatte. Was ich sehr schön und gut finde, ist, dass der Generationenwechsel schon mehrmals geklappt hat. Und natürlich auch, dass es die 1. Mai-Demonstration und den festlichen Teil auf dem Zeughaus Areal immer noch gibt.
Raffy: Anjuska war und ist immer noch sehr für Vietnam engagiert. Einmal kam der Botschafter Vietnams ans 1.-Mai-Fest und überreichte Anjuska eine goldene Nadel für ihr Engagement. Dies fand ich sehr speziell und schön.
Theresa: Super ist, dass es das 1.-Mai-Komitee nach so vielen Jahren immer noch gibt und sich immer wieder engagierte Leute finden, die dieses grosse Fest organisieren.
Herzlichen Dank für das Gespräch und für eurer Jahrzehnte langes Engagement für den internationalen Tag der Arbeit.