Die verlorene Unschuld der Revolution

AegyptenDie ägyptische Revolution zeigt sich von ihrer hässlichen Seite. Seit der Räumung der beiden Camps vor der Kairoer Universität und der Rabaa al-Adawiya-Moschee ist ein blutiger Machtkampf um die Zukunft des Landes entbrannt. Alle vereint im Kampf gegen den islamistischen Terror heisst die Parole. 

Übergangspräsident Mahmoud Adil dankt den Sicherheitskräften für das «besonnene und zurückhaltende Vorgehen» bei der Räumung der beiden Camps. Vielleicht meint er es wirklich so, wenn man bedenkt, dass für die Räumung 3000 bis 5000 Tote «einkalkuliert» waren, wie das Innenministerium Tage zuvor stoisch verkündete. Gemäss offiziellen Angaben des ägyptischen Gesundheitsministeriums sind alleine am «Blutigen Mittwoch» bei der Erstürmung der beiden Protestcamps 630 Menschen gestorben, die Muslimbrüder sprechen gar von über 2000 Toten. Die Wahrheit wird, wie so oft dieser Tage, irgendwo in der Mitte liegen. Es ist ein düsteres Kapitel der ägyptischen Revolution. Auch Tage nach dem Massaker ruft die Tamarod-Bewegung (Rebellion) die Sicherheitskräfte dazu auf, jeden Widerstand der IslamistInnen im Keim zu ersticken und fordert das ägyptische Volk dazu auf, «das heroische Militär in ihrem Kampf gegen den Terrorismus» tatkräftig zu unterstützen.

Die Büchse der Pandora

Es regiert der Hass. Ein Land in der nationalistischen Ektase. Der politische Islam und der Terrorismus soll nun für immer «ausgemerzt» und «ausgelöscht» werden. Mahnende Stimmen gibt es dieser Tage wenige. Es ist vom «Sieg über den Faschismus» die Rede, die AnhängerInnen von Mursi werden unisono als TerroristInnen gebrandmarkt und zum Abschuss freigegeben. Hartnäckig berichten die ägyptischen Medien von eingesickerten Kräften der Al Kaida, von verhafteten Pakistanern, Afghanen und tausenden Hamas-Kämpfern, welche schon vor Monaten zur Unterstützung der Muslimbrüder nach Ägypten eingeschleust worden seien. Die Lage für palästinensische und syrische Flüchtlinge ist entsprechend unangenehm. Selbst die vielen unabhängigen Menschenrechtsgruppen berichtet lieber über brennende Kirchen und geköpfte Polizisten, selbst von dort schlägt den Muslimbrüdern nur noch Hass entgegen. Es sind nicht die dunklen Wolken eines kommenden Bürgerkrieges. Die Wolken sind schwärzer. Es sind die Wolken des Pogroms. Und es ist nicht nur der Hass gegen den politischen Islam, dahinter verbirgt sich auch eine gute Portion Verachtung der gebildeten, urbanen Schichten gegen die Armen.

Kühle Köpfe sind in Ägypten dieser Tage rar. Und doch gibt es sie. Es sind einmal mehr die revolutionären Kräfte der ersten Stunde. So gründeten anfangs August anlässlich eines Treffens in der ArbeiterInnen-Hochburg Malhalla die Jugendbewegung des 6. April, die Revolutionären SozialistInnen, die Gruppe «Ägpyten ohne Folter» sowie die islamische Partei «Starkes Ägypten» von Futuh – vor drei Jahren noch wichtige Figur bei den Muslimbrüdern – die Plattform «Revolutionäre Alternative». Mit dem Ziel, zu verhindern, dass Elemente des alten Regimes nach der Übergangsperiode wieder die Macht übernehmen. Und das ist bitter nötig, denn losgelassenen Kettenhunde kehren nicht freiwillig in ihre Zwinger zurück.

Neue Töne aus Kairo

Die Opposition und das ägyptische Volk haben sich vom unsanften Sturz Präsident Mursis Ruhe und Ordnung, Stabilität sowie wirtschaftlichen Aufschwung erhofft. Nun tritt das pure Gegenteil ein. Das erste Mal seit dem Beginn der Revolution wird für ganz Ägypten eine Reisewarnung ausgegeben, der Tourismus kommt praktisch vollständig zum Erliegen, internationale Firmen schliessen ihre Fabriken, Entwicklungsgelder werden eingefroren und Ägypten geht seinen eigenen Weg. Obama schlägt von allen Seiten blanker Hass entgegen, Premier Netanjahu erteilt dem israelischen Parlament zu Ägypten ein generelles Sprechverbot, der saudische König Abdullah hat einer seiner äusserst seltenen TV-Auftritt, um zu verkünden, dass das ägyptische Volk seine volle Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus habe.

Bei den mit dem Golfstaat verbündeten SalafistInnen wird er sich damit keine Freunde machen. Die Maske ist gefallen, die Golfstaaten spielen ein gefährliches Spiel und erhöhen ihren Einsatz. Und dem Westen bleibt nur die Rolle des ohnmächtigen Statisten. Die Tamarod-Bewegung lanciert derweil die Kampagne «Für die Wiederherstellung der Souveränität». Diese zweite Petition hat das Ziel, keine US-Entwicklungshilfe mehr anzunehmen und das Camp-David Friedensabkommen mit Israel zu annullieren. Es sind martialische Töne, welcher derzeit in die Welt hinausposaunt werden. Und vielleicht sind solche dramatische Momente, wie wir sie derzeit in Ägypten erleben, unweigerlicher Teil eines schmerzlichen Prozesses. Die ägyptische Revolution hat sich mit Blut befleckt. Ihre eigenen Kinder gefressen. Nur dieses Mal hat es die Bärtigen erwischt. Ein neues Kapitel öffnet sich. Es wird nicht das letzte sein.

 

«Erkenne deinen Feind»

Die Revolutionären SozialistInnen vor dem Obersten GerichtDie Lage in Ägypten hat sich nach der Massenmobilisierung vom 30. Juni und der darauffolgenden Verhaftung des Präsidenten Mursi dramatisch zugespitzt. Eine Analyse dieser instabilen Phase der ägyptischen Revolution gibt Sameh Naguib, führendes Mitglied der «Revolutionären Sozialisten». Das Interview wurde von Rosemary Bechler geführt.

Gerade wurde eine neue Regierungsmannschaft in Ägypten ernannt. Kannst du uns etwas über ihre Zusammensetzung sagen? Und auch, ob sie breite Unterstützung hat und sie auf eine Art den Aufstieg liberal-demokratischer Ideen repräsentiert?

Nein, tut sie nicht. Sie besteht vorwiegend aus liberalen Technokraten mit Verbindungen zu einigen der neu entstandenen liberalen Parteien, darunter «Ad-Dustur» – die von el-Baradei vor etwa 18 Monaten gegründete Verfassungspartei – und die so genannte «Ägyptische Sozialdemokratische Partei». Aber auch sie ist nicht sozialdemokratisch, sie ist eine liberale, eine neoliberale Partei. Diese beiden Parteien sind nach dem revolutionären Umsturz entstanden und haben kaum Massenbasis, weil sie so neu sind. Sie stellen aber vier Minister. Der Premierminister und sein Vertreter für die Wirtschaft sind beide aus der «Sozialdemokratischen Partei». Und ich glaube, sie stellen zwei weitere Minister, die direkt von der Armee in die Posten hochgedrückt wurden. Es gibt auch einige Technokraten aus der Mubarak-Ära. Sie agieren jetzt wieder ganz offen.

Wurden sie deswegen ausgesucht, weil sie eine nicht so schlimme politische Vergangenheit haben?

Überhaupt nicht. Ich gebe dir ein Beispiel: Der Verkehrsminister stand bereits in der Verantwortung, als Ägypten den schlimmsten Eisenbahnunfall seiner ganzen Geschichte erlebte. Und General as-Sisi, ist stellvertretender Premierminister, Verteidigungsminister und zugleich Armeechef. Er ist bei fast allen Ministerrunden dabei.

Aber haben wir es nicht mit einer Armee zu tun, die sich bald von der politischen Bühne verabschieden will?
Sie steht sehr im Vordergrund. Formell will sie sich zurückziehen. Es wurde ein Prozess beschlossen, es gibt einen Präsidenten, einen Verfassungsrichter und so weiter. Aber in Wirklichkeit ist sie sehr präsent. Wir haben es nur mit einer zivilen Fassade zu tun, dahinter verbirgt sich die Macht des Militärs. Nichts geschieht ohne Sisis Einverständnis. Er hält alle Zügel in der Hand, genau so wie damals Feldmarschall Tantawi, als er und der Oberste Militärrat (SCAF) das Land regierten nach dem Sturz Mubaraks bis zur Wahl Mursis im Sommer 2012.

Würdest du der Ansicht zustimmen, dass der 30. Juni im weitesten Sinne den Aufstieg liberaler Ideen steht?

Der 30. Juni war ein höchst komplexer Tag. Sein Verlauf verwirrt die Menschen überall, sowohl in Ägypten als auch ausserhalb, weil er zwei parallele Prozesse beinhaltete. Auf der einen Seite hatten wir eindeutig eine revolutionäre Welle von Abermillionen Ägyptern. Auf der anderen Seite haben die Armee und das alte Regime diese noch nie dagewesene Mobilisierung genutzt, um sich wieder in den Sattel zu hieven und sich der Muslimbruderschaft zu entledigen. Formell betrachtet haben wir es daher eindeutig mit einem Putsch zu tun. Das ist offensichtlich. Das Militär hat den Präsidenten entfernt, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Er war der gewählte, demokratisch gewählte Präsident, somit handelt es sich um einen Putsch. Aber gleichzeitig gab diese enorme Eruption, grösser noch als der Aufstand von 2011. Das hat es noch nie gegeben. Sie war dehnte sich geographisch viel weiter aus und fand auf dem Höhepunkt der bisher grössten Streikwelle überhaupt statt. In den Monaten vor dem 30. Juni – das weisst du vielleicht nicht – hatte Ägypten das höchste Niveau an Streikaktivitäten, nicht nur in der Geschichte Ägyptens, sondern der ganzen Welt, mit etwa 500 Streiks pro Woche, im Durchschnitt! Aber um nochmals auf deine Frage zurückzukommen: Um sich sowohl im Inneren als auch nach aussen – vor allem gegenüber dem Westen ist das wichtig – zu legitimieren, hat sich der Putsch ein gewisses liberales Image gegeben. Daher wurden all diese Leute mit einem gutem demokratischem Ruf wie el-Baradei an die Spitze gesetzt, ganz so, als ob wir es mit einem echten demokratischen Prozess zu tun hätten. Zudem kontrollieren diese Leute und ihre Finanziers die ägyptischen Medien. Sie haben die grössten Privatmedien zu ihren Diensten, die von den Milliardären kontrolliert werden, die diese beiden Parteien unterstützen.

Und es sind die gleichen Medien, die die Landschaft ziemlich einseitig dominiert haben und sich explizit gegen Mursi aufgestellt haben?

Extrem Anti-Mursi, es war nichts weniger als eine Art Hysterie, die sich gegen die Muslimbruderschaft richtet. Das heisst nicht, dass die Muslimbruderschaft diese Kritik nicht verdienen würde: Ihre Regierung war wirklich schlimm. Erst neulich haben sie bestehende Vorbehalte zwischen den Religionen angefacht und auch aggressive, frauenfeindliche Parolen ausgegeben. Und es blieb nicht nur bei der Verbreitung dieser schrecklichen Ideen. Insbesondere haben sie kein einziges der langen Liste an Problemen gelöst, obgleich sie genau dafür ihren Regierungsauftrag erhalten hatten. Doch das Bild, das die privaten Medien so eifrig propagieren, ist: « Wir wollen mit ihnen allen nichts zu tun haben», mit der Muslimbruderschaft überhaupt, weil sie «Faschisten und Reaktionäre» sind.

Wenn ich richtig liege, werden sie derzeit als «Terroristen» beschrieben?
Ja, jeder, der sie unterstützt oder verteidigt, wird als «Terrorist» bezeichnet. Und den Medien gelingt es, die Feindseligkeit gegen die Muslimbruderschaft bis zur Hysterie zu treiben. Das ist extrem gefährlich, weil wir in Ägypten eine grosse christliche Minderheit von mindestens zehn Prozent der Bevölkerung haben. Wenn diese Art Hass gegen die Muslimbruderschaft geschürt wird und daraus tatsächlich physische Übergriffe erwachsen, gegen Männer mit Bart oder Frauen, die den Niqab tragen – und das passiert tagtäglich, rund um die Uhr – und jemand dabei stirbt, dann wird man sagen, es war die Muslimbruderschaft, die ihn umgebracht hat. Es ist immer ihre Schuld.

Und welche Position beziehen die Tamarod-Rebellen oder andere führende Persönlichkeiten angesichts dieser Eskalation der Gewalt?

Tamarod begann als eine einfache demokratische Initiative, die sich sehr schnell verbreitete. Es sind aber die Armee, die Geheimdienste und das alte Regime, die das Geld und die Macht haben. Und nachdem die wichtigsten Anführer von Tamarod im Fernsehen neben dem General auftraten, der die Absetzung Mursis verkündete, waren die revolutionären Kräfte auf einmal isoliert. Heute ist man entweder Unterstützer der Armee oder man wird zu der Muslimbruderschaft gezählt. Es ist derzeit sehr schwierig, in Ägypten irgendeine unabhängige Position zu vertreten.

Vergleichen wir das mit der Situation in der Türkei, wo wir eine sehr interessante horizontale Bewegung erleben, die von Taksim und anderen öffentlichen Plätzen aus in die Gesellschaft greift, dabei allerdings jene 50 Prozent der Wählerschaft, auf die Erdogan so stolz ist, nicht erreicht. Es entsteht diese tragische Spaltung, die wir auch während der Ereignisse in Tunesien erlebten. Welche Kräfte sind deiner Ansicht an der Aufrechterhaltung dieser Spaltung in Ägypten beteiligt?

Die Armee, die Geheimdienste und die Medien, und sie setzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein. Sie bezahlen beispielsweise Schergen, um Frauen anzugreifen, und schieben das dann den Muslimbrüdern in die Schuhe, nur um diesen Hass zu schüren. Nicht, dass die Muslimbruderschaft solche Handlungen nicht beginge. Sie tun auch solche Dinge, weil sie in einer Spirale von Racheakten verfangen sind. Das ist nachvollziehbar. Sie wurden rausgeworfen und in eine Ecke gedrängt. Sie waren der Überzeugung, an einem demokratischen Prozess beteiligt zu sein. Sie verzichteten auf jegliche Gewalt, stellten sich zur Wahl und gewannen. Und jetzt sind sie wieder auf den Strassen, ganz so, als ob das alles nicht stattgefunden hätte. Daher kannst du dir gut vorstellen, dass die Abenteurer in ihren Reihen immer mehr zur Gewalt neigen. Es ist wie Algerien, wo in den 90er Jahren ein blutiger Bürgerkrieg tobte. Auch dort wurden die Islamisten der Islamischen Heilsfront FIS in eine Ecke gedrängt. Sie hatten sich im Dezember 1991 an den Wahlen beteiligt und sich so demokratisch wie nur möglich gegeben. Und dann wurden die Wahlergebnisse einfach nicht anerkannt.

Gibt es seitens irgendwelcher unabhängiger Medien Versuche, Gewaltakte zu untersuchen?

Nicht wirklich. Wir haben keine unabhängigen Medien. So was gibt es nicht. Alle sind gegen die Muslimbruderschaft gerichtet. Eins muss ich hier noch einmal hervorheben, denn wenn ich das nicht tue, kann das zu einem späteren Zeitpunkt gegen mich verwendet werden: Ich verteidige nicht die Muslimbruderschaft.

Das verstehe ich. Aber wenn es keine unabhängigen Medien gibt, was sagen dann die Menschen auf den Strassen über diese Gewalt? Gibt es da Versuche, die Ereignisse objektiv zu erfassen? Oder sind sie in diesen Feindbildern restlos verfangen?

Es gab ernsthafte Diskussionen über das Massaker, das vor ein paar Wochen stattgefunden hat, als siebzig Mitglieder der Muslimbruderschaft vor der Präsidentengarde, dem Offiziersklub, in dem Mursi vermutlich festgehalten wird, niedergemetzelt wurden. Die Medien behaupteten einfach, die Muslimbruderschaft habe einen gewalttätigen Angriff gestartet. Aber die Präsidentengarde ist hochgesichert. Es ist eine mit Panzern gesicherte Festung. Es ergibt doch keinen Sinn für Anhänger der Muslimbruderschaft, sie erstürmen zu wollen. Und selbst wenn, ist das noch keine Rechtfertigung, Menschen auf offener Strasse zu erschiessen. Die jüngsten unabhängigen Berichte von Ärzten, die die Leichenhäuser aufgesucht haben, bezeugen, dass diese Menschen inmitten des Gebets erschossen wurden. Es ist ein schreckliches, absolut schreckliches Massaker. Es wird aber von den ägyptischen Medien durch die Bank weg geleugnet, von der sogenannten liberalen Presse Ägyptens. Das sind Liberale einer ganz besonderen Art. Und die Ärzte, die als Zeuge aussagten, müssen nun einen hohen Preis dafür zahlen.

War das der Zeitpunkt, an dem die lokalen Medien begannen, die Muslimbruderschaft als «Terroristen» zu bezeichnen?

Ja, genau. Nachdem man ihnen in den Kopf geschossen hatte. Wir meinen, dass wir konsequent alle Formen von Diskriminierung und Unterdrückung bekämpfen müssen, denen die Islamisten ausgesetzt sind, ganz gleich ob sie umgebracht oder verhaftet oder ihre Satellitenkanäle und Zeitungen geschlossen werden. Denn was den Islamisten heute widerfährt, kann morgen ohne Weiteres den Arbeitern und den Linken widerfahren. Es kann daher nicht überraschen, wenn die Muslimbruderschaft die Beteiligung an einer Interimsregierung nach dem 30. Juni ablehnte – falls man sie überhaupt gefragt hat.

Meinst du nach dem Putsch? Wie hätten sie sich beteiligen können? Sie hätten doch unmöglich vor ihre Anhänger treten können und sagen, «wir finden uns damit ab, dass euer gewählter Präsident nicht mehr Präsident ist. Und wir sind bereit, weiter mitzumachen».

Es gab einen Punkt während der Verhandlungen nach dem 30. Juni, als es danach aussah, dass die salafistische Partei an-Nur möglicherweise als Brücke zwischen beiden Seiten dienen würde.

Kannst du uns mehr zu ihrer derzeitigen Positionierung sagen?

Die salafistischen Parteien unterhalten historisch enge Beziehungen mit Saudi-Arabien, dem saudischen König und dem saudischen Regime. Das ist bis heute der Fall. Das saudische Regime hasst die Muslimbruderschaft regelrecht. Aus einem einfachen Grund: es sieht in Mubarak einen gestürzten Monarchen, der ins Gefängnis geworfen wurde … und genau davor haben sie Angst. Sie unterstützen daher vorrangig die Salafisten, an erster Stelle die Nur-Partei. Die Salafisten konnten mit der finanziellen Unterstützung der Saudis ab 2006 mehrere Fernsehkanäle betreiben. Und Mubarak gab ihnen auch die erforderlichen Lizenzen, weil er mit ihrer Hilfe den Einfluss der Muslimbruderschaft zurückdrängen wollte. Diese Regierungskoalition war also von vornherein keine Liebesbeziehung, und das erklärt, warum die Salafisten zunächst auf die Liberalen und die Armee zugingen. Während der Zeit ihrer Regierungsbeteiligung waren sie Mursis Verbündete, aber schon damals gab es viele Spannungen. Die MB gab ihnen keine wichtigen Ministerposten. Die Salafisten wollten die Scharia in der Verfassung festschreiben, aber Mursi unternahm keinerlei Schritte in diese Richtung. Daher verbrachten sie ihre Zeit mit solchen Fragen wie: Warum wird Alkohol nicht verboten? Warum gibt es keine Kleidervorschriften für Frauen? All diese einfachen Dinge, für die sich auch die Muslimbruderschaft vor ihrem Machtantritt aussprach. Als der 30. Juni kam, da brauchten die Armee und Sisi eine Art islamisches Feigenblatt, also einen oder zwei Minister in untergeordneten Ressorts. Gerade genug, um zu zeigen, dass es sich nicht um einen Putsch gegen den Islam handele. Das Massaker an den Muslimbrudern machte eine solche Beteiligung für die Nur-Führung natürlich vollkommen unmöglich, da sie ihre jungen Anhänger nicht vor den Kopf stossen konnten. Die hätten niemals akzeptiert, dass man betende Menschen auf der Straße einfach hinmetzeln liess. Die Partei wird aber auch weiter hin und her schwanken. Sie ist sehr opportunistisch. Sie behauptet mittlerweile, Mursi hätte den Putsch abwenden können, wenn er mit der Armee und dem Geheimdienst besser zusammengearbeitet hätte. In Wirklichkeit hat Mursi alles getan, um die Armee versöhnlich zu stimmen. Die unter seiner Koalitionsregierung verabschiedete Verfassung war schlimmer noch als die Mubaraks hinsichtlich der weitgehenden Machtbefugnisse der Armee, daher auch die Ankündigung der Armee gleich nach dem 30. Juni, sie wolle gar keine neue Verfassung, lediglich einige Korrekturen der Mursi-Verfassung. Warum? Weil sie die Artikel über die Armee nicht antasten wollen. Darin steht klipp und klar, dass das Armeebudget allein von der Armee bestimmt wird ist und niemand anderes sich darin einzumischen hat. Sie sieht die Aufrechterhaltung der Militärgerichtsbarkeit gegen Zivilisten vor. Darin wird ein nationaler Sicherheitsrat aus insgesamt 14 Mitgliedern festgeschrieben, in dem das Militär die Mehrheit haben muss: 8 Militärs gegen 6 Zivilisten. All diese Grundsätze wurden zu Artikeln der Verfassung, die nicht geändert werden können. Das wollen sie so beibehalten.

Kannst du mir dann sagen, warum Mursis Präsidentschaft so katastrophal erfolglos verlief? Ich habe gehört, dass die Probleme mit den Benzinverknappungen und Unterbrechungen in der Wasser- und Stromversorgung zu Zeit Amtszeit Mursis nach seiner Absetzung geringer geworden sind. Glauben die Leute, dass womöglich Sabotage im Spiel gewesen ist?

Ja, es sah danach aus. Natürlich haben die Menschen Mursi, dem Präsidenten, die Schuld für diese Probleme gegeben. Er hatte doch die Macht, solch einfache Dinge zu regeln. Und jetzt bessert sich die Lage wieder. Das legt nahe, dass die Geschäftsleute und die Bürokratie des alten Regimes immer noch über genug Einfluss verfügten, um Sand ins Getriebe zu streuen und Mursi zu sabotieren. Die Energieversorgungskrise ist ganz real – das steht ausser Frage – aber sie hatte noch nie solche Ausmaße wie zuletzt während der extremen Hitzeperiode. So etwas haben wir noch nie erlebt. Es gab fast überhaupt kein Benzin mehr. Die Stromausfälle waren im ganzen Land allgegenwärtig, was dazu führte, dass Lebensmittel verdarben – mit schrecklichen Folgen vor allem für arme Menschen. Das Problem mit dem Benzin und dem Diesel betraf nicht nur den Verkehr. Beispielsweise hatten auch Bauern keinen Zugang zu Diesel, um ihre Wasserpumpen zu betreiben. Es war einfach zum verrückt werden -Tag für Tag diese ständigen Plagen für die Menschen im ganzen Land.

Von möglicher Sabotage abgesehen, wieso sank Mursis Stern so rapide?

Erstens versuchte die Muslimbruderschaft die Überreste des alten Regimes und die Armee zu besänftigen, so dass sie nicht einmal für jene selbstverständliche Gerechtigkeit einer Übergangszeit sorgen konnte, um all jene Offiziere und Beamten zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschen umgebracht und sich mit Blut besudelt hatten. Sie unternahm nichts gegen sie. Und das war doch eine der zentralen Forderungen des Aufstands: Wir müssen diese Leute, die so viele junge Menschen umgebracht haben, zur Verantwortung ziehen. Sie unternahm nichts in der Richtung. Sie hofften, einen Deal mit den Sicherheitskräften zu schliessen, um sie der Muslimbruderschaft gegenüber weniger feindlich einzustimmen. Genau darum ging es, und sie liessen sie ungeschoren davonkommen. Zweitens setzten sie Mubaraks Wirtschaftskurs einfach fort. In mancherlei Hinsicht befand sie sich sogar rechts von Mubarak, mit Blick auf den Wirtschaftsliberalismus. Die Privatisierungen gingen zügig voran. Sie sagten, es ginge nur darum, Auslandsinvestitionen zu sichern, und dafür müsse man die Bedingungen des IWF akzeptieren. Den versprochenen Kredit haben sie nie erhalten. Aber das war, was sie vorhatten. Nach einem solch gewaltigen revolutionären Aufschwung kann man Kürzungsmassnahmen nicht einfach verabschieden und hoffen, damit durchzukommen. Nach all dem, was die Menschen durchgemacht haben, um Änderungen zu erreichen, nach all den Opfern werden sie solche eine Austeritätspolitik nicht einfach hinnehmen. So konnte die Muslimbruderschaft während ihrer Regierungszeit keines ihrer Ziele umsetzen. Hätte die Mehrheit den Eindruck bekommen, sie würde sich in Richtung der revolutionären Forderungen bewegen, hätte sie sicher an der Macht halten können. Doch wegen des angestrebten Kompromisses konnte sie nicht einmal die prominentesten Leute des alten Regimes, jene mit Blut an den Händen, vor Gericht stellen. Die Armeegeneräle etwa, Tantawi und all die anderen – Mursi und seine Regierung empfingen sie stattdessen mit offenen Armen. Eine der zentralen Forderungen während der Herrschaft des Obersten Militärrats( SCAF) war, dass diesen Leuten wegen der vielen Hundert Toten auf den Strassen der Prozess gemacht wird.

Doch nur ein Jahr später scheinen Millionen Ägypter auf den Strassen die wiederaufgekommene alte Parole «Die Armee und das Volk sind eine Hand» zu teilen. Wie erklärst du dir das?

Viele der Menschen, die am 30. Juni auf die Strassen gingen, waren zum ersten Mal in ihrem Leben politisch aktiv. Sie haben die Erfahrung der direkten Konfrontation mit der Armee noch nicht gemacht, und die Armeeführung handelte sehr klug und griff auf alle möglichen Tricks zurück. Erstens behauptete sie von sich, sie habe mit Tantawi nichts zu tun. Bei ihr handele es sich um eine neue Armeeführung. Es sei eine jüngere Führung, die keine Korruption in den eigenen Reihen dulde und in keiner Verbindung mit dem alten Regime stünde, obwohl Sisi selbst noch von Mubarak ernannt wurde und einer seiner Generäle war. Dann führte die ägyptische Armee diese Flugschauposse über Kairo auf, die die Nationalflagge in den Himmel Kairos malte und Herzen in die Luft zeichnete! Für ihre Charmeoffensive gaben sie wirklich alles. Es wäre allerdings meiner Meinung nach falsch anzunehmen, dass die Flitterwochen von Volk und Armee von Dauer sein werden. Erstens sind nicht alle beteiligt. Es gibt etliche Schichten junger Menschen, die vom ersten Tag an der Revolution beteiligt waren und sehr wohl von der Rolle der Armee wissen. Zweitens lernen die Menschen in Ägypten aus ihren Erfahrungen. Sie sagten das erste Mal, die Armee sei grossartig, als diese Mubarak des Amtes enthob und sich weigerte, in die Menge zu schiessen. Es brauchte damals mehrere Monate, damit Leute ihre Meinung zu ändern begannen und die neue Parole «Nieder mit der Armee, nieder mit den Generäle» aufgriffen. Ich glaube, das wird wieder passieren. Der Grund dafür liegt in dem Wesen der neu eingesetzten Regierung. Auch hier keine Kursänderung, überhaupt keine Aussicht auf Verbesserung.

Du schreibst, dass die Muslimbruderschaft nicht eine einzige der Forderungen der Revolution umgesetzt hat. Aber was auch immer seine Versprechungen, kannst du ernsthaft schon nach 100 Tagen an der Regierung entscheidende Schritte in Richtung soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde erwarten? Die findest du nirgendwo auf der Welt …

Ein einfaches Beispiel. Mursi hatte es in der Hand, ein Gesetz zur progressiven Besteuerung einzuführen, aber er tat es nicht. Er hätte die Vermögen von Mubaraks Geschäftsfreunden und Handlangern verstaatlichen können. Er lieaa sie unberührt. Nimm Ahmed Ezz, ein Mubarak nahe stehender Milliardär, einer aus dem Klan, der seine Fabriken, die grössten Stahlbetriebe nicht nur Ägyptens, sondern in ganz Nahost, immer noch besitzt, obwohl er eine siebenjährige Gefängnisstrafe wegen Geldwäsche absitzt. Natürlich umfasst die Muslimbruderschaft viele Strömungen. Mit der Zeit entstand in der Jugendorganisation eine klare Spaltung zwischen zwei Flügeln – einer konservativen Strömung, die nach immer strengerer islamischer Gesetzgebung ruft, und einer anderen, die eine Interpretation der Scharia mit Betonung auf Gerechtigkeit legt, die eine Umverteilung des Reichtums verlangt. Jetzt, nach dem 30. Juni sind all diese Debatten spurlos von der Bildfläche verschwunden und die Muslimbruderschaft steht zusammen wie ein Mann. Wenn deine Führer ins Gefängnis geworfen und deine Leute auf der Strasse niedergeschossen werden, dann überwiegt das Gefühl der Loyalität und verdrängt alle anderen Gesichtspunkte.

Damit deutest du an, dass ein breiter Teil der Anhängerschaft der Muslimbruderschaft, der potenziell für viele der revolutionären Forderungen hätte gewonnen werden können, nunmehr von den Mursi-Kritikern abgeschnitten ist?

Ja. Es ist der Versuch, zu teilen um zu herrschen. Aber das wird, so denke ich, nicht lange währen. Die Menschen werden sehr schnell lernen, genauso wie sie in der Vergangenheit gelernt haben, dass diese Regierung nichts ändern wird. Und sie werden lernen, dass die Repression, die sich zunächst gegen die Muslimbruderschaft richtet, bald gegen Arbeiter, gegen die Linke, gegen jeden, der seinen Mund aufmacht, richten wird. Wenn du diese Sicherheitskräfte einmal losgelassen hast, werden sie nicht bei der Bruderschaft Halt machen – ganz bestimmt nicht. Und es tun sich innerhalb der Opposition erste Differenzen auf zwischen jenen, die sich voll auf die Seite der Armee und des alten Regimes stellen mit dem Argument, die Muslimbruderschaft sei eine faschistische, reaktionäre Kraft, gegen die wir uns mit jedem verbünden müssen, der diesen Feind niederwerfen will – und einem kleineren Gegenpol von Organisationen, Gruppierungen und Jugendbewegungen, die vom ersten Tag an eine zentrale Rolle in der Revolution gespielt haben und argumentieren, dass unser Hauptfeind der Staat ist und das Mubarak-Regime der Hauptfeind bleibt. Wir werden uns nicht auf die Seite der Überreste des Mubarak-Regimes oder der Armee schlagen, ungeachtet der Tatsache, dass wir auch zur Muslimbruderschaft in Opposition standen. Wir waren an zentraler Stelle an der Bewegung für die Absetzung Mursis beteiligt, aber wir wollten, dass die Menschen Mursi absetzen, nicht die Armee. Wir haben all das nicht durchgestanden, damit die Armee wieder an die Macht kommt und Mubaraks Schergen erneut Ministerposten bekleiden.

Aber auf der anderen Seite haben sie die Herzen und die Fahnen des ägyptischen Nationalismus, nicht wahr?

Ja, sie beziehen sich auf Nassers Erbe, das stimmt – denn auch Nasser war an einem Putsch beteiligt. Einem, aus dem allerdings schnell in eine ganze Kette von wichtigen Reformen erwuchsen, reale Reformen, die auch den Bauern enorme Erleichterungen brachten.

Das war eine nationale Befreiung … und die Armee war heldenhaft.

Im Jahr 1956 war es eine nationale Befreiung, und wenn du heute den Fernseher einschaltest, wirst du von nasseristischen Liedern über die Armee nur so überschwemmt! «Die Armee des Volkes, dies ist die Volksarmee!» Das ist zentral. Das ist die Art, wie sie reden. Der andere Teil ist das drohende terroristische Chaos. Wenn wir nicht die Lage fest in den Griff bekommen, wenn wir die Muslimbruderschaft nicht entscheidend schlagen, werden wir am Ende den gleichen Terror wie in Algerien haben, wir werden syrische Verhältnisse bekommen.

Es gab doch eine Zeit, da schien die Mehrheit der Menschen in Ägypten die ständige Unruhe einfach satt zu haben. Hat die Periode der vermehrten Streiks im Vorfeld des 30. Juni nicht dieses Gefühl von Chaos verstärkt?

Nein, nein. Der 30. Juni hat das Niveau der Mobilisierung erhöht, vor allem in Hinsicht auf soziale und wirtschaftliche Forderungen. Jetzt haben wir eine neue Regierung, und die Menschen sagen, «das ist die Regierung der Revolution, erfüllt unsere Forderungen!» Die städtischen Mittelschichten haben natürlich das Chaos satt, die Strassenblockaden und so weiter. Nun geht die Armee dazu über, dieses Chaos als Ausgangspunkt für eine verallgemeinerte Strategie zu nutzen. Es geht nicht mehr nur darum, die Besetzungen öffentlicher Plätze durch die Muslimbruderschaft aufzulösen, sondern streikende Arbeiter oder Bauern, die eine Hauptstrasse oder Eisenbahnlinie blockieren, mit Gewalt zu entfernen. Daher ist es so wichtig, konsequent all das zurückzuweisen, was der Muslimbruderschaft angetan wird. Wenn wir in dieser Frage nicht konsequent sind, dann wird es später umso schwerer sein, hinterher andere Gruppen zu verteidigen. Es ist in der gegenwärtigen Lage allerdings sehr schwierig, konsequent zu sein.

Und was ist mit dem scharfen Vorgehen auf der Sinai-Halbinsel?

Das Mubarak-Regime hatte den Sinai praktisch aufgegeben. Selbst der Erwerb der ägyptischen Staatsbürgerschaft war für junge Menschen im Sinai extrem schwierig. Es handelt sich dabei um eines der grössten Touristengebiete Ägyptens, vor allem der südliche Sinai. Die Bewohner Sinais dürfen aber dort nicht arbeiten, und sie dürfen auch kein Land besitzen. Sie wurden ernsthaft unterdrückt. Nachdem du so Jahre erlebt hast, trittst du plötzlich in eine revolutionäre Ära ein. Da denken sich die Menschen im Sinai, auch sie haben ein Anrecht, davon zu profitieren. Vielleicht erhalten sie die Staatsbürgerschaft, oder sie können Land erwerben. Aber nichts dergleichen geschah. In der Anfangszeit der Revolution begannen Waffen in den Sinai einzusickern. Die Grenzen waren nicht gut bewacht, so dass viele der Beduinenstämme schwer bewaffnet sind. Dass manche im Verlauf ihres Aufstands zu radikalisierten Islamisten wurden, überrascht nicht. Was wir jetzt erleben ist, dass die Armee mit dem Einverständnis Israels ihre Kräfte in ganz Sinai aufmarschieren liess, um diese angeblich «terroristische» Bewegung niederzuschlagen. Diese Menschen werden mittlerweile in den Medien als Teil einer terroristischen Verschwörung porträtiert, die das Ziel verfolgt, Mursi wieder an die Macht zu verhelfen.

Es scheint, als ob diese terroristische Bedrohung in ganz Nahost zugange ist, immer da, wo die Gefahr einer echten Veränderung droht?

Absolut. Und dann explodieren Bomben an irgendwelchen Orten. Erst neulich wurden Polizisten durch eine Bombe in Mansura getötet. Es wurde behauptet, die Muslimbruderschaft habe die Bombe gelegt. Wir wissen es nicht. Das algerische Szenario ist eine reale Gefahr … in Algerien wusste man nie, wer die Haupttäter waren. War es die islamistische Bewegung? Waren es die radikalisierten Elemente der Salafisten? War es die Armee? Waren es die Geheimdienste? Alle hatten ihre Finger im Spiel, aber genau wusste es niemand. Daher konnte jede Militäroperation in Algerien als Antwort auf die Islamisten dargestellt werden. Diese Gefahr droht uns auch in Ägypten. Genau so wie in Syrien kann die Lage vollkommen ausarten.

Kann sich die Revolution davor schützen?

Ja, das glaube ich schon. Erstens hat sich das Bewusstseinsniveau in Ägypten dank der enormen Beteiligung an den Massendemonstrationen und Streiks unglaublich rasch entwickelt. Wir haben ein hohes Niveau an politischem Bewusstsein. Lassen sie sich durch die von der Armee initiierte Medienpropaganda beeinflussen? Sicher. Aber nicht für lang. Das haben wir gelernt aus diesen ersten zweieinhalb Revolutionsjahren: Die Menschen lernen sehr wohl aus ihren Erfahrungen.

Genau, lass uns etwas näher eingehen auf die Art des politischen Bewusstseins, von dem du sprachst. Welche Lehren zog die Arbeiterbewegung aus den Kämpfen im Vorfeld der Revolution von 2011, und dann in der Zeit danach, in diesem ungeheuren Auf und Ab der Erhebung?

Das Erste, was man bei solchen Massenbewegung dieses Ausmasses beobachten kann, ist die Entwicklung von Ideen direkter Demokratie bei den Menschen. Sie geben sich nicht mehr damit zufrieden, alle vier Jahre zwischen verschiedenen Teilen der Elite wählen zu dürfen.

Meinst du mit direkter Demokratie einfach die schieren Zahlen, die draussen auf den Plätzen waren?

Die grossen Ansammlungen auf den öffentlichen Plätzen sind ein Teil davon. Aber viele glauben, es würde sich dabei um einen führungslosen Prozess handeln. In allen Revolutionen gibt es Führung. Entscheidungen werden nach einem abgesprochenen Prinzip gefällt. Es ist ausserordentlich demokratisch, und die beteiligten Menschen lernen, was direkte Demokratie ist, was es bedeutet, persönlich an den Entscheidungen mitzuwirken. Wohin soll die Demonstration gehen? Wollen wir Gewalt einsetzen oder nicht? Wie werden wir unsere Demonstration schützen? All diese Fragen sind Gegenstand einer demokratischen Debatte und Entscheidungsfindung. Das Gleiche gilt für die Streikbewegung. Was sollen wir tun, wenn der Besitzer den Betrieb schliesst? Sollen wir die Fabrik besetzen? Sollen wir die Fabrik selbst leiten? Es gibt allerlei Entscheidungen, die die Menschen lernen zu fällen. Dabei entwickeln sie eine Art demokratisches Engagement, das weit über den begrenzten demokratischen Rahmen hinausgeht, den wir sonst überall kennen. Noch eins: Die Menschen haben nicht vier Jahre gewartet, bis Mursi seine Amtszeit beendet hatte, um dann den nächsten zu wählen. Sie entschieden sich kollektiv dafür, ihn nach einem Jahr abzusetzen. Dieser Bruch mit demokratischen Gepflogenheiten ist ein Nährboden für Ideen von direkter Demokratie. «Wir können uns etwas anderes vorstellen – das beinhaltet Entscheidungen, die auf den Strassen, in den Betrieben, auf Massenversammlungen gefällt werden, und nicht innerhalb dieses engmaschigen Überwachungssystems.»

Von weitem hat es den Anschein, als ob diese direkte Demokratie nur ein Wort kennt: «Nein» – Nein zu zwei aufeinanderfolgenden Präsidenten beispielsweise. Aber was du beschreibst, ist doch etwas ganz anderes.

Ja, denn die Menschen sagen nicht bloss: «Okay, den sind wir nun los …» Nein, sie debattieren: «Okay, was folgt nun? Was wollen wir jetzt tun? Wie wollen wir das gestalten? Welche Haltung nehmen wir der Armee gegenüber ein? Die Armee geniesst im Augenblick hohe Popularität. Aber was hat sie wirklich vor? Welche Art Regierung wird aus dem Ganzen entstehen? Wer bestimmt überhaupt, wer Minister wird und wer nicht? Wie kommt es, dass die Leute aus der Mubarak-Zeit jetzt wieder in der Regierung sitzen? All diese Debatten finden in Kaffeehäusern, in den Betrieben, auf den Strassen statt … das ganze Volk ist daran beteiligt.

Als ich mich mit der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung näher auseinandersetzte, die diesen Entwicklungen in Ägypten vorausging, wurde mir diese nicht als eine sich allmählich entwickelnde kohärente Dachorganisation beschrieben. Sondern eher als von einer «interaktiven Dynamik» gekennzeichnete Bewegung – was mich an die Occupy-Bewegung erinnerte.

Diese Occupy-Bewegungen müssen als Lernprozess aufgefasst werden. Menschen, die an einer grossen Besetzungsbewegung teilgenommen haben, sind nicht mehr die gleichen wie vorher. Sie nehmen die ganzen Erfahrungen und die Inspiration wieder mit nach Hause. Das wird dann auf andere Formen von Aktivismus und direkter Demokratie übertragen. Es geht nicht nur um das Besetzen von Plätzen. Die Menschen werden weiterhin politisch aktiv bleiben. Und wenn sie wütend sind, werden sie wieder demonstrieren, weil sie das Gefühl für die eigene Macht gewonnen haben, das durch die Beteiligung an einer grossen Bewegung entsteht. Und wenn das für «Occupy Wall Street» gilt, überlege dir, was es für die Situation in ganz Ägypten bedeutet, hundert- und tausendfach potenziert. Jeder kennt irgendjemand, der an den Protesten teilgenommen hat. Alle, auch die Wehrpflichtigen, was in meinen Augen ein entscheidender Faktor in der zukünftigen revolutionären Entwicklung sein wird.

Ich habe viele Presseberichte über die Rolle der Arbeiterbewegung im gesamten revolutionären Prozess gelesen. Es sind akademische Studien – andererseits, wann bekommt man die Ansichten eines Gewerkschaftssekretärs in den britischen Medien serviert? Es hat mich daher überrascht zu lesen, dass die Tamarod-Organisatoren die Gewerkschaftsführer aufgefordert haben, auf den Demonstrationen am 30. Juni keine sichtbare Präsenz in Form von Gewerkschaftsfahnen zu zeigen.


Ich glaube, das hängt mit dem auf die Armee orientierten Teil der Bewegung zusammen. Die Armee wollte der Arbeiterklasse keine sichtbare Rolle einräumen. Sie wollte, dass dies ein Moment nationaler Einheit wird. Die ägyptische Fahne, das war es dann. Alle stehen zusammen – die Überbleibsel des alten Regimes, Revolutionäre, Linke, Großunternehmer – alle zusammen und sonst nichts. Es gab Einschränkungen, nicht nur für die Gewerkschaften, sondern für alle Gruppierungen. Wir hatten das gleiche Problem, so dass die «Revolutionären Sozialisten» sich für eine riesige rote Fahne wie auf türkischen Demonstrationen entschieden, mit Bildern der Märtyrer darauf gemalt, so dass niemand dagegen was sagen konnte. Und wir hatten auch unsere roten Fahnen. Aber die unabhängige Gewerkschaftsbewegung, an der wir seit Jahren engstens beteiligt sind, nahm im Jahr 2006 und 2007 ihren Anlauf. Auf unserer Website wirst du ausführliche Berichte über alles, was sie erlebt hat, finden. Wir haben mehrere Broschüren herausgebracht, mit Streikstatistiken, Auflistungen von Forderungen, welche davon politischer Natur und welche wirtschaftlicher, und in welchem Zusammenhang sie mit den revolutionären Wellen stehen. Denn wir erleben, dass jede politische Protestwelle anschliessend in einen Aufschwung von wirtschaftlichen Forderungen und Arbeiterstreiks übergeht. In der Frühphase, als nur sehr wenige daran glauben konnten, dass da etwas Konkretes herauskommen kann, müssen solche wirtschaftlichen und sozialen Forderungen als mutige Akte des Widerstands erschienen sein.

 Ich habe hier das Zitat eines der Anführer des Mahalla-Streiks, Kamal al-Fayoumi, der sagt: «Der Mahalla-Streik im Jahr 2006 war wie eine Kerze, die den Arbeiter im ganzen Land den Weg zeigte, und dass ein friedlicher Streik möglich war, dass wir der Ungerechtigkeit und der Korruption trotzen können». Für wie bedeutsam hältst du diese Funken in der Geschichte des Aufstands?

Sie waren ganz zentral. Vorranging ging es um den Aufbau von Selbstvertrauen, dass friedliche Demonstrationen möglich sind. Und kollektive Aktion: ein neues Gefühl, dass wir die Dinge durch kollektives Handeln verändern können. Die Revolution von 2011 hätte ohne den ersten Schritt der Mahalla-Arbeiterinnen im Jahr 2006 und 2007 mit ihren massiven, hundert Prozent friedlichen Betriebsbesetzungen nicht stattgefunden. Männer und Frauen gemeinsam. Christen und Muslime gemeinsam. Sie haben mit allerlei Tabus gebrochen. In der Folge liessen sich viele Frauen scheiden, weil sie sich weigerten, wieder nach Hause zu gehen! Der erste grosse Streik in Mahalla im Dezember 2006 wurde von Frauen angeführt. Die Mahalla-Textilfabrik ist die grösste in Nahost und ganz Afrika und war sogar einmal die grösste der Welt. Das war natürlich bevor die Chinesen auf die Bühne traten. Die Konzentration von Arbeitskräften erinnert an jene Englands im 19. Jahrhundert. Es waren mal 40 000 Beschäftigte, heute sind es immerhin noch 27 000. Es ist ein Riesenbetrieb, der seit den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts stets im Mittelpunkt der Arbeiterbewegung stand. Als sie dann streikten und tatsächlich gewannen und nicht nur ihre rein gewerkschaftlichen Forderungen durchsetzten, sondern auch die Entfernung des korrupten Managements, da ging eine Welle durch die gesamte ägyptische Arbeiterklasse. Mit dem Effekt, dass eine Industrie nach der anderen sich dieser Bewegung anschloss. Daraus entstand die grösste Streikwelle der ägyptischen Geschichte während der Jahre 2007 und 2008. Das Ergebnis war die Herausbildung neuer, unabhängiger Gewerkschaften. Übrigens: Kamal al-Fayoumi ist Mitglied unserer Partei, ein sehr guter Kerl. Es gibt zwei unabhängige Gewerkschaftsverbände. Der erste entstand nach dem riesigen Streik der Steuerbeamten – einem grossen, unterbezahlen Teil der Arbeiterklasse, die etwa 300 ägyptische Pfund (rund 45 Euro) im Monat verdienten. Dieser Streik wurde angeführt von, dem Mann, der jüngst zum Minister für Arbeit im neuen Kabinett ernannt wurde (Kamal Abu Eita). Die Bewegung breitete sich vor der Revolution noch langsam aus, hob aber nach der Revolution richtig ab, so dass die unabhängigen Gewerkschaften mittlerweile über zwei Millionen Mitglieder zählen.

Was hältst du von seiner Ernennung – ist doch Grund für Genugtuung?

Klar, ein Teil der Arbeiter sagt: «Okay, jetzt haben wir unseren Mann im Ministerium, also, gib uns, was wir fordern: Wir wollen einen Mindestlohn, wir wollen einen Maximallohn. Und so weiter». Aber in Wirklichkeit sind seine Hände gebunden, denn es ist eine neoliberale Regierung, der es um die Durchsetzung einer Austeritätspolitik geht und diesen Forderungen nicht nachgeben wird. Andere Minister haben ihn bereits gewarnt: «Wenn wir die Löhne zu stark anheben, bekommen wir Inflation. Und wenn die Inflation zunimmt…». Und sie sind es, die über die Wirtschaft entscheiden, nicht er. Daher glaube ich, dass er einen grossen Fehler gemacht hat, als er diesen Job annahm. Die Arbeiter sollten ihn unter Druck setzen, wo nur möglich. Und ich hoffe, er tritt bald zurück. Ich kenne ihn sehr gut, ich habe mit ihm sehr eng zusammengearbeitet.

Warum glaubst du hat er den Posten angenommen?

Er ist Nasserist, und Nasseristen haben allerlei konfuse Vorstellungen über die Armee. Sie glauben tatsächlich, dass die Armee eine Kraft für das Gute werden kann.

Welcher Unterschied besteht zwischen den beiden unabhängigen Gewerkschaftsverbänden? Ist die Arbeiterbewegung in der Frage von Mursis Präsidentschaft gespalten?

Überhaupt nicht. Es sind zwei Organisationen entstanden infolge trivialer Auseinandersetzungen um die Führung. Beide sind selbstverständlich Anti-Mursi. Mursi hat die unabhängigen Gewerkschaften stark bekämpft. Auch hier gab seine Regierung ihr Bestes, um die Gewerkschaftsbürokratie des alten Regimes zufrieden zu stellen, und wiegelte sie gegen die neuen Gewerkschaften auf. In der Verfassung von 2012 ist das Recht zur Gründung von Gewerkschaften allerdings verankert. Entscheidender waren aber die Gerichtsurteile über Fragen der Privatisierung. Es ging um Firmen, die korrupt geführt wurden und die Gerichte die Wiederverstaatlichung verfügten. Aber Mursi hat diese Urteile nie umgesetzt. Zugleich entstand eine neue Gewerkschaftsbürokratie, die sich gegen Streiks aussprach und ein einvernehmliches Verhältnis zwischen Kapitalisten auf der einen und Arbeitern auf der anderen Seiten kultivieren wollten. Diese Bürokratie entwickelte sich schnell im gleichen Dachverband der unabhängigen Gewerkschaften. Diese Bürokratie findet ihre adäquate Vertretung im neuen Minister für Arbeit. Das ist die Logik, die hinter seiner Bereitschaft stand, den Job anzunehmen.

Im März 2011 gab es die Erklärung der Gewerkschaftsrechte, in der Organisations- und Versammlungsfreiheit, sowie ein Tarifrecht gefordert wurde. Welche Forderungen wurden aufgestellt?

Es gab die Forderung, dass die von den Eigentümern geschlossenen Betriebe von den Arbeitern übernommen werden sollten. Es hat auch mehrere entsprechende Versuche in verschiedenen Industriezweigen gegeben. Es ist aber nicht leicht. Die Streiks im Gesundheitswesen sind ein gutes Beispiel dafür, worum es geht, nämlich um die Entfernung von Hierarchien, vor allem zwischen den Berufsständen. Wir reden hier nicht von Klassenspaltung, denn Ärzte verdienen nicht viel in Ägypten. Aber es gibt diese Hierarchie. Die alte Hierarchie im Gesundheitswesen wurde geschleift, so dass Ärzte, Krankenschwestern, Techniker und die Reinigungskräfte alle Teil einer Gewerkschaft sind und die klassischen Methoden der Arbeiterbewegung einsetzen: Streiks, Demonstrationen, Besetzungen. Die gleichen Ansätze sehen wir auch im Bildungswesen und bei Rechtsanwälten. Sie alle werden gewissermassen zu einem Teil der Arbeiterbewegung. Besonders interessant in dieser Hinsicht war übrigens die Forderung der Ärzte, das Gesundheitsbudget von derzeit 4 Prozent des Inlandsprodukts auf 15 Prozent zu erhöhen. Sie fordern also nicht einfach höhere Gehälter. Es ist eine Forderung, die eine Verbesserung der Lebensumstände für alle Menschen bedeutet, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen und ordentliche Leistungen wollen. Somit weitet sich der Kampf aus. Auf der einen Seite hast du eine Regierung, die den Ärzte vorwirft, mit ihren Streiks Menschen umzubringen: «So viele Menschen werden sterben …» Ich glaube, ihr kennt diese Litanei ganz gut. Und dann hast du die Antwort der Ärzte und Krankenschwestern, die sagen: «Nein, wir tun das für diese Menschen. Diese Menschen sterben jeden Tag, weil nicht genügend Geld vorhanden ist, um die nötige Medizin und das Material zu kaufen. Wir haben nicht genügend Betten , es fehlt an Personal im Gesundheitswesen». Es gab auch mehrere Versuche, Krankenhäuser ganz gebührenfrei zu managen, ausserhalb der Kontrolle durch das alte System. Das hat auch mancherorts für eine Weile funktioniert. Und jedes Mal sammeln die Menschen neue praktische Erfahrungen.

Aber Anfang 2012 wurde doch auch ein Gesetz verabschiedet, das Streiks verbietet?

Das war das Militär. Das Gesetz blieb aber vollkommen wirkungslos, weil sie es inmitten einer grossen Streikwelle verkündeten und die Streiks einfach fortgesetzt wurden. Sie konnten nicht Arbeiter verhaften oder erschiessen zu einem Zeitpunkt, als das Vertrauen in die Revolution so gross war. Das wäre zu gefährlich für sie gewesen.

Das ist eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft des revolutionären Prozesses.

Allerdings. Es ist sehr schwierig für das Militär, jetzt auf den Stand von früher zurückzukehren. Arbeiter beteiligten sich aktiv an der Tamarod-Kampagne, wobei sie nicht nur Hunderte und Tausende Unterschriften sammelten, sondern auch Kampagnenbüros eröffneten und in direkter Zusammenarbeit mit der Tamarod-Zentrale ihre Aktivitäten koordinierten. Sie bereiteten Akte des zivilen Ungehorsams vor, um notfalls Regierungseinrichtungen schliessen zu können. Wenn die Armee nicht interveniert und durch einen Putsch Mursi selbst entfernt hätte, hätte sich daraus sehr schnell ein Generalstreik entwickeln können. Das ist der Grund, warum sie jetzt diese Angst vor Terrorismus und ein falsches Nationalismusgefühl schüren müssen, um allerlei Ängste zu schaffen, die sich gegen die Arbeiter wenden lassen.

Das «ägyptische Zentrum für Wirtschaftliche und Soziale Rechte» berichtete in diesem Jahr in einem für die Vereinten Nationen verfassten Bericht, dass Arbeiterforderungen auf zunehmende Gewalt stossen würden. Inwieweit stimmt das?

Es ist in der Tat so, dass die Polizei nach dem 30. Juni wieder verstärkt in Aktion tritt. Aber auch in der langen Phase, da sie sich zurückhielten, griffen die Eigentümer von Privatbetrieben und die Regierung ebenfalls zur Gewalt gegenüber Arbeitern. Fabrikbesitzer heuerten oft Schläger an. Hass gegen andere Religionen und Konfessionen ist ebenfalls eine nützliche Waffe, um Gewalt zu erzeugen. Die Muslimbruderschaft setzte dieses Mittel ein. Auch die Armee. Historisch betrachtet benutzte das Mubarak-Regime die konfessionelle Spaltung besonders effektiv. Einer der positivsten Aspekte der jüngsten revolutionären Mobilisierung war der bewusste Bruch mit solchen Traditionen. Einer der Beweggründe für die Menschen, am 30. Juni auf die Strassen zu gehen, war Mursis idiotischer Versuch, gerade diesen Weg in seiner Rede über Syrien zu gehen. Er liess einige besonders reaktionäre Prediger zu Wort kommen, die den schlimmsten Blödsinn erzählten, wonach die Schiiten keine Muslime seien und getötet werden sollten, weil sie nicht Teil unserer Gemeinschaft sein können und so weiter. Und dann folgte daraus das Massaker einer Gruppe von Schiiten in Gizeh. Der Schuss ging allerdings nach hinten los. Die Menschen wollten damit nichts zu tun haben, sie hassten es. Ich sah Frauen am 30. Juni, die die Vollverschleierung des Niqab trugen. Als sie einen koptischen Priester erblickten, der nicht einmal an der Demonstration beteiligt war, hoben sie ihn hoch und trugen ihn auf ihren Schultern!

Zu diesem Text: Zuerst veröffentlicht auf www.opendemocracy.net erschienen am 24. Juli 2013. Übersetzung aus dem Englischen: David Paenson

Zur Person: Sameh Naguib ist führendes Mitglied der ägyptischen Organisation «Revolutionäre SozialistInnen».

Türkei: Die Revolution ist endlich da!

türkeiMaria lebt in Istanbul und hat dem vorwärts folgenden Augenzeugenbericht zugestellt.

Wir sind seit gestern Abend (2.Juni) wieder hier auf der europäischen Seite. Gestern gab es wieder eine «Schlacht» in Besiktas, neben Erdogans Amtssitz. Es war wieder eine sehr brutale Angelegenheit und die Polizei hat sogar mit Gaspistolen in Wohnungen und in die Bahcesehir Universität geschossen. Ständig gab es Nachrichten auf facebook und Twitter, dass Erste Hilfe benötigt wird.

Wir waren im Gezi Park und dort hätte die Stimmung nicht friedlicher sein können. Alle sitzen dort, lassen Ballons steigen, singen, tanzen, reden. Es gibt eigentlich nur ein Thema. Der Protest. Wer war wo an welchem Tag. Wer nimmt was wie wahr, wie fühlt man sich mit all dem?

Ein Freund meines Mannes, mit dem ich mich vor einer Woche darüber unterhalten hatte, dass Leute auf die Strasse gehen müssten, statt ihr ein Leben im Ausland zu planen, rief: «Maria, you told me last week that this is possible! I didn’t believe it and now it happened!» Er ist übrigens einer derer, die seit zwei Tagen an vorderster Front standen und von dem Wasserstrahl umgeworfen wurde, auch diverse Stiefeltritte hat er abbekommen. Aber sein ganzes Gesicht strahlte, als er mir gestern sagte, dass er glücklich ist, dass «die Revolution nun endlich da ist.»

Gegen 1.30 Uhr ging langsam das Gerücht rum, dass die Polizei auf dem Weg zum Park ist. Ein Mann ging rum, um jedem seine Blutgruppe mit Edding auf den Arm zu schreiben, damit die Ärzte schneller Bescheid wissen, falls was passiert. Es gab Aufrufe, die Barrikaden noch ein bisschen höher oder breiter zu bauen und viele Leute sammelten alles was nicht niet und nagelfest ist von der Baustelle und brachten es zu den Barrikaden. Ich stellte mich dann an den Ausgang zum Park, der in Richtung der Wohnung meiner Freundin führt, nur für den Fall, dass man schnell raus muss.

Einer sagte: «Leute, es ist zu gefährlich, hier neben der Baustelle zu stehen. Lasst uns in den Park gehen, damit wir andere Fluchtwege haben und nicht in die Baustelle fallen.» Also zogen sich alle in den Park zurück. Doch nichts passierte. Eine Stunde war Warten angesagt. Dann entspannte sich die Situation wieder und viele kamen zurück auf die Strasse. Die Barrikaden haben gehalten! Es gibt keine Möglichkeit mehr für die Polizei, mit ihren Wasserwerfern in den Park zu gelangen! Was für ein Erfolg!

Allerdings gibt es heut auch schlechte Nachrichten. Die Verhafteten werden scheinbar dazu gezwungen ein Formular zu unterschreiben, das besagt, sie werden von ihrem Recht jemanden anzurufen nicht Gebrauch machen. Erdogan spricht davon, dass jene 50 Prozent der BürgerInnen, die ihn gewählt haben, gegen die DemonstrantInnen kämpfen wollen und er sie nicht mehr lange zurückhalten kann… Und vorsichtshalber, bevor es hier richtig brenzlig werden könnte, ist er für vier Tage nach Afrika abgereist…

3.Juni

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wundervoll es ist, diese grenzenlose Solidarität hier zu erleben. Dies ist eine Protestbewegung, die sich durch wirklich ALLE sozialen Schichten zieht. Ich habe ja schon erzählt, dass alle jeden mit Milch und Zitronen versorgen. Aber das ist wirklich nicht alles. Zum Beispiel gab es eine Situation, als mein Mann, zusammen mit vielen anderen vorgestern vom Taksim Platz in eine Seitenstrasse stürmte, um einer Gasattacke zu entgehen und wirklich jede Tür summte, die gesamte ssentlang, weil Menschen in den Häusern die Türöffner drückten, um die Flüchtenden hereinzulassen. Und nicht nur die Haustüren waren offen, auch alle Wohnungstüren waren offen. Die Menschen gaben Wasser, ihre Sofas, ihre Badezimmer. Was immer gerade gebraucht wurde. Yalin sagt, in diesem Moment war ihm klar, dass die Bewegung gewinnen wird. Denn wie soll ein bisschen Gas oder die vermeintlichen 50  Prozent gegen all diese Menschen gewinnen, die auf diese Weise ihre Solidarität ausdrücken?

Gestern Abend ging ein Mann von etwa 65-70 Jahren durch die Gaswolke und verteilte Wasser an alle.  Die Verkäufer im Bakkal (Späti), Taxifahrer, StudentInnen, AnwältInnen… Alle sind auf einmal füreinander da. Es scheint keine Unterschiede mehr zu geben. Und das hier, in Istanbul, wo die sozialen Unterschiede eigentlich sehr deutlich waren. Wo die reicheren, den «kleinen» VerkäuferInnen nicht mal richtig in die Augen geschaut haben.

Heute sahen wir sogar zwei Jungs nebeneinander hergehen. Einer im Besiktas-Trikot, der andere im Fenerbahce-Trikot. Das mag euch jetzt nicht so wichtig vorkommen… Aber zwei Fans der beiden sonst bis aufs Blut verfeindeten Rivalen, in ihren Clubfarben, nebeneinander, friedlich im Gespräch … ein zuvor undenkbares Bild! Heute sprachen wir mit einer Mutter und ihrer Tochter. Die Tochter kam gerade aus Ankara zurück. Sie erzählte, sie habe gestern Abend gesehen, dass eine junger Mann am Arm verletzt worden war und blutete. Eine Frau mit Kopftuch sagte: «Was machen sie nur mit uns?», nahm ihr Kopftuch ab (!) und gab es ihm, um seinen Arm zu verbinden. Was auch unglaublich überwältigend ist, sind die «Topf-mit-Löffel-Konzerte» jeden Abend um 9.00 Uhr. Es begann vor ein paar Tagen, dass Leute von zuhause aus ihre Solidarität zeigen wollten. Sie standen an ihren Fenstern und schlugen mit Löffeln auf Töpfe, Siebe, Kannen, was immer Lärm macht. Nun wurde dazu aufgerufen, jeden Abend um 21 Uhr das gleiche zu tun. Vorgestern klopften Freundinnen von mir wie wild, gemeinsam mit einigen Nachbarn, mit denen man sonst nie viele Worte wechselt. Sie riefen sich danach zu:“Yarin ayni zaman görüsürüz!“ Morgen um die gleiche Zeit sehen wir uns wieder! Und heute, ich bin gerade wieder zuhause, weil ich morgen eine Klausur schreiben muss, stand ich mit meiner Schwiegermutter auf dem Balkon und wir klopften wie wild. Aber nicht nur wir. Die gesamte Nachbarschaft. An fast jedem Fenster stehen Menschen mit ihrer Kücheneinrichtung! Dazu schalten die Menschen ihre Lichter immer an und aus. Es sieht wundervoll aus und klingt phantastisch! Autofahrer, die nun mal eben gerade keine Töpfe zur Hand haben, hupen, Fußgänger pfeifen. Gänsehaut, 15 Minuten lang! Und es wurde bisher jeden Abend lauter.

Was auch sehr schön ist, sind die Sprüche, die auf Schildern stehen, an Wände gesprayt werden oder gepostet. Ein Schild sagte: «Thanks Tayyip, for making me feel at home! A Syrien refugee.»

An einer Wand stand: „Liebe Polizei, warum habt ihr uns zum Weinen gebracht? Wir waren auch vorher schon emotional genug.“ Oder (Das Tränengas heisst auf Türkisch Biber Gazi) «Just in Biber»

Was auch wunderbar war, wurde auf Twitter gepostet. Erdogan behauptet ja ständig, dass es lediglich eine Randgruppe ist, die auf der Strasse demonstriert. Und jemand hat gepostet: «Ich laufe mit einer Gasmaske durch die Strasse und trage eine Schwimmbrille. Oh mein Gott, ich bin eine Randgruppe!»

Nun ja, all diese schönen Momente und diese grenzübergreifende Solidarität sind es, die alle immer wieder auf die Strasse bringen. Es sind wieder Tausende im Park und auf dem Platz. Leider wurde in der Nähe wieder Gas geworfen und die Auswirkungen sind bis dorthin zu spüren. Zum ersten Mal seit zwei Nächten muss man nun auch im Park wieder Masken und Schwimmbrillen tragen, nicht nur in Besiktas, wo es übrigens auch gerade jetzt wieder kracht. Ich weiss auch nicht warum ich wieder mal gerade nicht dort bin, sondern zuhause, anstatt im Park wie gestern die halbe Nacht… Vielleicht ist es doch das Nazar Boncugu, das Yalin mir schenkte bevor ich nach Palästina gereist bin, das mich immer wieder vor den gefährlichsten Situationen bewahrt…

Ausbeutung und Widerstand in China

foxcomNach «Dagongmei» und «Aufbruch der zweiten Generation», Bücher über die WanderarbeiterInnen Chinas, ist nun ein weiteres Buch in deutscher Sprache über die Klassenzusammensetzung und den Widerstand in China erschienen. In «iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken?» geben -ArbeiterInnen und WissenschaftlerInnen Einblick in das Fabriksystem des tai-wanesischen Konzerns Foxconn.

Ende Mai erhielten wir wieder einmal traurige Nachrichten aus China: Zwei Arbeiter und eine Arbeiterin des wichtigsten Apple-Zulieferers Foxconn haben sich in den Tod gestürzt. Die Gründe seien noch unklar, doch auch die bürgerlichen Medien konnten einen Zusammenhang mit der Suizidserie im Jahre 2010 nicht bestreiten. AktivistInnen von Solidaritätsgruppen in China, Hongkong und anderen Ländern wiesen auf die miesen Arbeitsbedingungen und die militärische Unternehmensführung als Ursachen der Selbstmorde hin. Sie prangerten die gezielte Spaltung und Vereinzelung der ArbeiterInnen in den Werkhallen und Wohnheimen an, mit der Foxconn Arbeiterwiderstand verhindern will.

Um mehr über die konkreten Bedingungen zu erfahren, startete eine Forschungsgruppe im Frühjahr 2010 ein Untersuchungsprojekt. Die Ergebnisse sind nun auch in deutscher Sprache erschienen und sie setzen an zwei Erzählweisen an: «Zum einen analysieren Mitglieder des Untersuchungsteams wichtige Aspekte des Foxconn Modells, zum anderen erzählen einzelne ArbeiterInnen ihre Geschichte des Alltags und der Ausbeutung in den Fabriken Foxconns.» (S. 9)

Die verborgene Stätte der Produktion

«Diese aller Augen zugängliche Sphäre (Markt und Zirkulation) verlassen wir, zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgene Stätte der Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business (Eintritt nur in Geschäftsangelegenheiten). Hier wird sich zeigen […] wie das Kapital produziert wird […] Das Geheimnis der Plusmacherei muss sich endlich enthüllen.» (S. 189) So beschreibt Marx im ersten Band des Kapitals die Notwendigkeit, innerhalb der Produktionssphäre – also in den Betrieben selbst – Ausbeutung und Widerstand genau zu analysieren, um Klassen- und Kapitalverhältnisse zu verstehen. Der Zugang zur Produktionssphäre ist jedoch alles andere als leicht. Das haben auch die ForscherInnen erlebt, die die Foxconn-Fabriken analysiert haben. «Das Untersuchungsteam wandte sich bereits im Mai 2010 schriftlich an die Foxconn-Zentrale, um mit ihrem Einverständnis die Lage in den Fabriken untersuchen zu können, aber von Seiten Foxconns kam keine Reaktion.» (S. 30) Auch die sozialwissenschaftliche Arbeit ist also keine neutrale Tätigkeit, sondern stets ein umkämpftes Feld, in dem sich unterschiedliche gesellschaftliche Interessen gegenüberstehen.

Foxconns Produktionsregime

Bei Foxconn, dem weltgrössten Elektronikhersteller und Chinas Weltfabrik Nummer eins, stellt sich das ökonomische Entwicklungsmodell Chinas fast idealtypisch dar. Die Betriebsführung basiert auf einem repressiven Überwachungs- und Bestrafungssystem. Eine Fliessbandarbeiterin sagt: «Wir sind wie Staubkörner. Die Linienführerin sagt oft, dass es egal ist, ob diese oder jene am Band steht. Wenn du gehst, kommt halt eine andere und macht deine Arbeit. In dieser Fabrik zählen wir ProduktionsarbeiterInnen nicht. Wir sind nur ein Arbeitsgerät.» (S. 58/59)

Die despotische Fabrikorganisation zeigt sich in der materiellen Situation der ArbeiterInnen. Aufgrund der Suizidserie Anfang 2010 hatte Foxconn angekündigt, die Löhne um 30 Prozent zu erhöhen. Doch real tendieren die Grundlöhne immer weiter nach unten und die ArbeiterInnen erreichen nur dann einen Lohn, der zum Überleben reicht, wenn sie Überstunden leisten. Über 40 Prozent der Einkommen besteht aus Überstundenlohn. Arbeitsschutz, Pausen, Respekt gewerkschaftlicher Rechte sind Fremdwörter bei Foxconn.

Andererseits wendet Foxconn zur Disziplinierung der ArbeiterInnen Formen der «ideologischen Um-erziehung an» (S. 61), um einen Unternehmensgeist zu schaffen und den ArbeiterInnen klarzumachen, dass das Unternehmen an erster Stelle zu stehen hat. «Mühsal ist die Grundlage von Reichtum, praktische Umsetzung ist der Weg zum Erfolg» – mit solchen Diskursen garantiert Foxconn eine «Kultur des Gehorsams».

Arbeitskämpfe bei Foxconn

ArbeiterInnen machen die Produktionshallen jedoch auch zum Schlachtfeld. Die Länge des Arbeitstages, die Arbeitsintensität, die Arbeitsgeschwindigkeit und die Organisation des Arbeitsprozesses stehen im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzung. Streiks, Ausschreitungen, Strassenblockaden, Dachbesetzungen und Selbstmorddrohungen haben das Management herausgefordert, doch an der Produktionsorganisation hat sich bisher wenig verändert. Die Kommunikation zwischen den ArbeiterInnen hat sich aber dadurch auch weiterentwickelt, und die Erfahrung kollektiver Mobilisierungen in Fabrikhallen und Wohnheimen war wichtig (vgl. Kap. 7).

Klassenkampf als Subjekt der Geschichte

«Die AutorInnen des Buches fokussieren auf die Darstellung des Ausbeutungsregimes – Drill, Wohnheime, Verlagerung – als Antwort auf Arbeiterverhalten – Fluchtträume, Fluktuation, Kämpfe.» (S. 12) Damit nehmen die AutorInnen eine theoretische Position ein, die die Zentralität des alltäglichen Konflikts im Produktionsprozess als den treibenden Motor der wirtschaftlichen Entwicklung versteht. Sie knüpfen an die operaistische Tradition an: Technologie und Organisation der kapitalistischen Produktionsweise als Methode der Beherrschung und Kommandierung lebendiger Arbeit werden radikal kritisiert. Damit vollziehen sie einen Bruch mit dem Verständnis der bürgerlichen Ökonomie und mit dem «orthodoxen» Marxismus, die beide die ArbeiterInnen im unmittelbaren Produktionsprozess zu «ZuschauerInnen» der historischen Entwicklung degradieren. Vielmehr wird der alltäglich von den ArbeiterInnen geführte Klassenkampf zum Subjekt der Geschichte. Die Notwendigkeit unserer solidarischen Unterstützung des Widerstandes der ArbeiterInnen in China kann damit auch als Ausgangspunkt dienen, über unsere eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen nachzudenken.

Kleines Krisen-Update

Finanzminister beraten über Euro-Krise

Die Krise wütet in der Euro-Zone, vom Zweckoptimismus des politischen Personals gänzlich unberührt, weiter.  Ein (zu) kurzer ökonomischer Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand des Schlamassels.

Aus dem vorwärts vom 24. Mai. Unterstütze uns mit einem Abo.

Die litauische Präsidentin, Dalia Grybauskaite, verkündete kürzlich in einem Interview mit der «Deutschen Welle», dass es überhaupt keine Euro-Krise gebe. Ihr Kollege, der EU-Kommissionspräsident José Manuel Borroso, war in Bezug auf die Vergangenheit etwas realitätsnäher, aber auch er erklärte auf dem «WDR Europaforum» kürzlich: «Die existenzielle Krise des Euro ist vorbei». Diese Aussagen deuten entweder auf einen grassierenden Realitätsverlust bei Teilen des politischen Personals hin oder aber sie sollen vor allem eines sein: selbsterfüllende Prophezeiungen. Man möchte die Zuversicht bei den MarktteilnehmerInnen fördern und ignoriert dazu schlicht die reellen Problemen, die sich unvermindert in die Nationalökonomien der Euro-Zone fressen.

Die Proletarisierten können eine Lied vom Ende der Krise singen: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in der Euro-Zone bei rund 24 Prozent; angeführt von Griechenland und Spanien, die mittlerweile mit knapp 60 Prozent Arbeitslosen unter 25 Jahren zu Buche schlagen. Die «Zukunft der Gesellschaft» wächst ohne Zukunft heran. Derzeit werden in Spanien täglich über 500 Familien aus ihren Häusern geworfen; seit Beginn der Krise wurden über 400 000 Räumungen vollstreckt. Die Austeritätsprogramme in den Krisenstaaten sorgen dafür, dass allerorts Betroffene nur schlecht aufgefangen werden und die wohltätigen Suppenküchen kaum dem Ansturm gewachsen sind. Doch auch wenn man den Blick vom zunehmenden Elend der Proletarisierten weg, hin zu den nackten Wirtschaftsdaten lenkt, sieht es nicht wesentlich besser aus.

Krisenphänomene

Die neusten Quartalszahlen der Euro-Zone sprechen von einem Sinken des Bruttoinlandproduktes (BIP) von 0,2 Prozent. Von einer Rezession spricht man im Allgemeinen, wenn das BIP in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen sinkt. Es ist nun aber bereits das sechsts Quartal in Folge, dass die Wirtschaftsleistung der Euro-Zone schrumpft. Das schwache Wachstum der deutschen Nationalökonomie kann diesem Trend nicht entgegenwirken – und ist übrigens nur auf Kosten von Staaten möglich, die deutsche Waren importieren. Für den Krisenstaat Zypern rechnen ExpertInnen 2013 mit einem Einbruch des BIP von 8,7 Prozent. Die Ideologie des beständigen Wachstums, wie sie von ExpertInnen und PolitikerInnen wie ein Mantra beschworen wird, hat ihren wahren Kern, auch wenn sie selber davon keinen Begriff haben?: Das Kapital kann sich nur auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren. Geld muss profitabel investiert werden und der entstehende Mehrwert als Kapital neu in den Produktionsprozess fliessen – alles natürlich bei entsprechenden Profitraten. Eine stagnierende oder gar sich verkleinernde Volkswirtschaft zeigt also nicht weniger an, als dass sich gewisse Kapitale nicht mehr reproduzieren können.

Die wachsenden Staatsschulden hängen natürlich damit zusammen: Nebst der stockenden (momentan aber zumindest kurzfristig wieder etwas besser laufenden) Refinanzierung auf den Finanzmärkten sind vor allem die damit verbundenen sinkenden Steuereinnahmen durch die Unternehmen ein Problem. Die Rezession führt aber auch zu einem Einbrechen der Einnahmen der Massen durch Arbeitslosigkeit. Dies wiederum untergräbt das Steuersubstrat. Zudem wird dadurch die Massennachfrage reduziert, was einige Linke fälschlich zur Ursache der Krise verklären.

Krise des Kapitals

Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht seit einiger Zeit diesen Prozessen mit verschiedenen Massnahmen Herr zu werden: Sie erklärte, dass sie im Krisenfall die betreffenden Staatsanleihen aufkaufen würde. Dies führte dazu, dass die Finanzmärkte wieder etwas Vertrauen fassten und etwa riskante italienische Staatspapiere aufkauften. Bloss: Sollte der italienische Staat, immerhin die drittgrösste Nationalökonomie der EU, tatsächlich Bankrott gehen, ist es mehr als fraglich, ob die monetären Mittel der EZB ausreichen, um die entsprechenden Schrottpapiere aufzukaufen. Ausserdem senkte die EZB den Leitzins auf 0,5 Prozent und versucht so Geld in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen. Die Vorstellung dabei ist, dass dieses Geld in die produktive Wirtschaft fliesst und einen Wirtschaftsaufschwung generiert, der auch die Arbeitslosenzahlen nach unten korrigiert. Blöd nur, dass dieses Geld momentan gerade das nicht macht, sondern in hochspekulative Bereiche abfliesst und die Börsenkurse unabhängig von der sogenannten Realwirtschaft befeuert – was zu allerhand veritablen Blasenbildungen führt. Das Problem ist nicht, dass die Bank-ManagerInnen alle durchgedreht sind. Das Geld wird in der Regel nicht mehr in der sogenannten Realwirtschaft investiert, weil die Profitraten nicht mehr ausreichen, um Unternehmensgewinn und (Bank-)Zinsen in der notwendigen Höhe zu garantieren. Das ist das eigentliche Dilemma: Die EZB pumpt Geld in eine Wirtschaft, die wegen mangelnder Profitraten an Kapitalüberproduktion leidet.

Krisenlösung?

Was Europa als Lösung anstrebt, ist eine aggressive Exportpolitik nach deutschem Vorbild. Diese quasi merkantilistische Politik soll dazu führen, dass durch die Exportüberschüsse die Defizite und schliesslich auch die Staatschulden exportiert werden können. Dies ist aber nur möglich, wenn bei hoher Produktivität die Lohnstückkosten gesenkt werden können – wie das Deutschland mit den Hartz-Reformen gelungen ist – und man das Defizit einfach an zu Schuldnerstaaten degradierte Nationalökonomien auslagern kann. Wie lange diese Staaten überhaupt die Überschüsse aufkaufen können, steht in den Sternen; ihre Wirtschaft wird schlicht und einfach ruiniert (siehe etwa Griechenland). Eine wirkliche Lösung ist dieses Modell auf jeden Fall nicht. Aus dem wirtschaftlichen Dilemma wird es keinen Ausweg geben ausser der massiven Vernichtung von Kapital mit den damit verbundenen Verheerungen für die Proletarisierten. Als kommunistischer Beobachter dieser Prozesse muss man sich nicht so dumm machen lassen wie das politische Personal des Kapitals, sondern kann offen aussprechen, dass der Kapitalismus derzeit in einer Sackgasse steckt.

Die neue Weltordnung Gaia

grillo_casaleggio1Die Geschichte der Geburt der neuen Weltordnung Gaia liest sich wie ein Science-Fiction Horrorkrimi, ist es aber nicht. Es ist die Zukunftsvision eines Mannes. Er sitzt in der Machtzentrale des «Movimento 5 Stelle» von Beppe Grillo, die von über acht Millionen ItalienerInnen gewählt wurde und nun die Regierung bilden will. Ein Ausflug ins Jahr 2054, um die Aktualität besser zu verstehen.

Aus der vorwärts-Printausgabe vom 26. April 2013. Unterstütze uns mit einem Abo.

«2018: Die Welt ist in zwei grosse Lager geteilt: Der Westen mit der direkten Demokratie und dem freien Zugang zum Internet. Russland, China und der mittlere Osten in Orwell-Diktaturen ohne freien Zugang zum Internet.

2020: Beginn des 3. Weltkriegs, der 20 Jahre dauern wird. Die Folgen: Zerstörung der westlichen Symbole St. Petrus-Platz, Notre Dame, Sagrada Famiglia; Klimakatastrophen und die Erhöhung des Meeresspiegels um 12 Meter; Dekadenz; Reduktion der Weltbevölkerung auf eine Milliarde Menschen.

2040: Der Westen gewinnt und somit die Demokratie des Internets.

2043: Der Plantet ist in Tausende von Gemeinschaften unterteilt, die miteinander durch das Internet verbunden sind.

2047: Jede Person hat ihre eigene Identität im weltweiten sozialen Netzwerk mit Namen EARTHLINK, das von Google erarbeitet und verwaltet wird. Um zu sein, musst du in EARTHLINK sein, sonst hast du keine Identität. Ein Pass oder eine ID ist nicht mehr nötig.

2050: BRAIN TRUST, eine kollektive soziale Intelligenz erlaubt es den Menschen, die komplizierten täglichen Probleme zu lösen dank dem Online-Zugang zu allen Arten von Informationen.

2054: Erste weltweite Wahl über das Internet der Regierung von Gaia. Gaia, eine neue Weltordnung, ist heute, am 14. August 2054, geboren. Rassistische, ideologische, religiöse und territoriale Konflikte gehören der Vergangenheit an. In Gaia gibt es keine Parteien, PolitikerInnen, Ideologien und Religionen mehr. Das kollektive Bewusstsein ist die neue Politik. Jede Person ist die eigne Besitzerin ihres Schicksals. Geheime Organisationen werden abgeschafft. Jede Person kann Präsident werden und das Handeln der Regierung durch das Internet kontrollieren. Jeder Mensch ist ein Bürger der Welt, Subjekt des gleichen Gesetzes. Das Internet war das Vehikel des Wechsels durch die weltweite Kommunikation, Kenntnis und die Organisation.»
Nein, das ist keine Szene aus einem neuen Science-Fiction Horrorkrimi, sondern die Zukunftsvision, für die über acht Millionen ItalienerInnen an den Parlamentswahlen von Ende Februar 2013 gestimmt haben. Kein Witz! Die Geschichte der Gründung der neuen Weltordnung Gaia ist der Inhalt des Videos auf der Homepage der «Casaleggio Associati», mit dem die Philosophie und die Strategie des Unternehmens vorgestellt werden. Die «Casaleggio Associati» ist die Gründerin und Verwalterin des Blogs von Beppe Grillo und des «Movimento 5 Stelle». Und da die ganze Bewegung sich ausschliesslich über das Internet organisiert, ist das auf Internetmarketing- und Sicherheit spezialisierte Unternehmen «Casaleggio Associati» buchstäblich das Machtzentrum der Bewegung.

Global und mit eiserner Hand
Doch der Reihe nach: Will man den Erfolg von Grillo und seiner Bewegung «Movimento 5 Stelle» verstehen, muss als aller Erstes ein Mythos aus der Welt geschaffen werden: Die Bewegung entstand nicht von unten als «freie Vereinigung von BürgerInnen im Netz», wie es die Webseite der «Grillini» vorgibt. Sie ist hauptsächlich das Produkt eines Mannes, der in Sachen Internetmarketing- und Sicherheit zu den Top Fünf der Welt gehört. Sein Name ist Gianroberto Casaleggio. Im Jahr 2005 lernte er Grillo kennen. Zusammen gründeten sie den Blog «beppegrillo.it». Bald darauf folgte die Geburtsstunde des «Movimento 5 Stelle».
Der 59-jährige Casaleggio gründete seine eigene Firma im Jahr 2004. Seine Karriere begann er bei IBM. Dann war er lange Zeit Chef der Webegg AG, eines der ersten italienischen Unternehmen, die sich auf Marketing und Sicherheit im Netz spezialisierten. Während dieser Zeit hat Casaleggio viele wichtige und vor allem globale Geschäftsbeziehungen aufgebaut. Wenige Monat nach der Gründung der «Casaleggio Associati» wurde die Partnerschaft mit der US-amerikanischen Firma «Enamics» unterschrieben, die weltweit führend im «Business Technology Managament» (Btm) ist. So unterhält Casaleggio direkte Geschäftsbeziehungen zu «Pepsico», «Northrop Grumman», «JP Morgan», «Shell», «Tesco» oder zum «US Department of Tresury» (Finanzministerium der USA), um nur einige zu nennen.
Die «Casaleggio Associati» verfügt über hervorragende Kontakte zu Politik und Wirtschaft in Italien. Das Unternehmen ist in der «American Chamber of Commerce in Italy» vertreten, Treffpunkt der Topmanager von Weltkonzernen wie «Google», «BNP», «IBM», «Mediaset», «Coca Cola» und vielen mehr.
Lange war Casaleggio der grosse, starke Unbekannte im Hintergrund. Dies änderte sich mit dem Fall Giuseppe Favia. Kurz nachdem Favia für den «Movimento 5 Stelle» ins Parlament der Region Reggio Emilia gewählt worden war, kritisierte er öffentlich die «fehlende Demokratie» und die von Casaleggio durchgesetzte «vertikale Führung» innerhalb der Bewegung. Favia wurde kurzer Hand von Grillo aus der Bewegung ausgeschlossen. Das gleiche Schicksal erlitt auch Valentino Tavolazzi, der im Blog einen Protest gegen «die diktatorische Führung von Casaleggio» lancierte. In einem Interview mit der Tageszeitung «Il Fatto Quotidiano» sagt Tavolazzi: «Casaleggio schmeisst alle raus, die ihm nicht passen. Er schreibt die politischen Blog-Einträge und gibt den Gewählten klare und unumstössliche Befehle.»

Der 14. August 2054
«Die ‹Casaleggio Associati› verwaltet den Blog von Beppe Grillo, das Meetup-Netz, die externe Kommunikation und bestimmt die Internetstrategie der Bewegung», schreibt der Buchautor und Journalist Pietro Orsatti, der seit einigen Jahren Grillo und die Bewegung beobachtet und analysiert. Auch seine kritischen Beiträge und Fragen zur Demokratie innerhalb der Bewegung wurden sehr rasch vom Blog von Grillo gelöscht. Orsatti fragte mehrmals nach einer Begründung, erhielt jedoch nie eine Antwort.
Wer an den Schalthebeln des «Movimento 5 Stelle» sitzt, zeigt auch die Wahl der Grillini ihres Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten. Der erste Wahlgang wurde annulliert. Angeblicher Grund war ein «Hackerangriff», wie Grillo in seinem Blog bekannt gab. Kann sein, auch wenn die «Casaleggio Associati» weltführend in Sachen Internetsicherheit ist und ein erfolgreicher Hackerangriff für sie die schlechteste aller möglichen Werbung wäre. Doch wer kann einen möglichen oder durchgeführten Hackerangriff überhaupt feststellen? Nur die «Casaleggio Associati»! Es ist daher möglich, ja es liegt schon fast auf der Hand, dass die Resultate der ersten Runde nicht ganz dem Wunsch von Casaleggio und Grillo entsprachen und der Angriff erfunden wurde. Wer kann es schon wissen und feststellen ausser der Führungscrew von «Casaleggio Associati»? Nur sie ganz alleine. Was ist die nun: Moderne digitale Zukunftsdemokratie oder Internetdiktatur in der neuen Weltordnung Gaia?
Über Casaleggio, Grillo und den «Movimento 5 Stelle» gibt es noch einiges zu berichten und der vorwärts wird am Ball bleiben. Zum provisorischen Schluss aber noch dies: In Gaia wäre Gianroberto Casaleggio Präsident und Beppe Grillo sein Vize. Bleibt zu hoffen, dass die sozialistische Revolution vor dem 14. August 2054 siegt!

Weltsozialforum in Tunis

wsf_2013Unter dem Leitmotiv «?Würde?» fand Ende März in Tunis das Weltsozialforum statt – dort, wo vor gut zwei Jahren der Arabische Frühling seinen Anfang nahm. Die engagiert geführten Debatten und der Hang zum hektischen -Aktionismus konnten eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Widersprüchen nicht verdecken. 

Derzeit blicken viele TunesierInnen mit gemischten Gefühlen den Wahlen vom kommenden Oktober entgegen, dann entscheidet sich die politische und gesellschaftliche Zukunft des Landes. Es scheint alles andere als gesichert, dass die progressiven Kräfte die Wahlen gewinnen. Zu gut organisiert und vor allem finanziell zu potent ist die «Ennahda» (islamische Partei), so dass viele mit ihr rechnen oder sie fürchten, je nach Perspektive.

Inmitten dieser unsicheren Situation fand Ende März unter dem Leitmotiv «Würde» das Weltsozialforum in Tunis statt. Es war eine Würdigung des tunesischen Aufstandes von 2011 mit seiner dreiteiligen Parole «Arbeit, Freiheit, Würde». Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet dieser unscharfe Begriff gewählt wurde, hält die Worthülse doch für allerlei her. Problematisch wird es, wenn «Würde» Recht ersetzt – und damit Ansprüche, die in Anschlag gebracht werden können. Bezeichnend war, dass sich diese Unschärfe auch in den Debatten wiederfand, kombiniert mit einem nervösen, ziellosen Aktionismus. Darüber konnte auch das immer noch den Geist des Aufbruchs des Arabischen Frühlings atmende Veranstaltungsgelände an der Universität El Manar nicht hinwegtäuschen – abgesehen von einigen düsteren Ecken mit iranischen Holocaustleugnern und konservativen islamischen Hilfswerken.

 

Wiederkehrende Debatten

Die einfältige Kritik, das Sozialforum sei von NGOs vereinnahmt, von kapitalistischen Unternehmen gekauft und von staatlichen Sicherheitskräften infiltriert, zielt am wesentlichen Punkt vorbei. Kann das Forum als eine globale Momentaufnahme des Zustands sozialer Bewegungen gelesen werden, so lassen sich zwei Problemfelder benennen. Erstens sind es die selben wiederkehrenden Themen, die seit Jahren dominieren: Migration und Bewegungsfreiheit, Landwirtschaft und Ernährungssouveränität, Ökologie, Frauenrechte. Dazu natürlich die Palästinafrage. Befremdlich war in letzterem Fall, dass nicht Akteure der «Zivilgesellschaft» den Ton angaben, sondern halboffizielle Gruppen, die von der Hamas, der Fatah oder dem Iran organisiert werden.

Doch die Debatten haben sich trotz ihrer Konstanz über die Jahre hinweg kaum weiterentwickelt. Zum Beispiel im Themenblock Migration: Als die grosse und einende Forderung aller Gruppierungen stellte sich im Schlussplenum wenig überraschend die Bewegungsfreiheit heraus. Das ist zwar durchaus ein drängendes und ungelöstes Problem, doch wurden die damit verbundenen Aporien nie auch nur ansatzweise ausformuliert. Bewegungsfreiheit ist zuallererst eine durch und durch neoliberale Forderung nach maximaler Flexibilität und der Widerspruch, dass eine kapitalistische Wirtschaftsordnung dennoch auf der temporären Festsetzung der Individuen als verwertbare Arbeitskräfte beruht, blieb unbeachtet. Ebenso ungeklärt blieb das Verhältnis von globaler Bewegungsfreiheit und dem engagierten Eingreifen in herrschende soziale Verhältnisse, das immer an einen konkreten Ort gebunden ist.

Die entscheidende Frage wäre also, wie die wichtige Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit in einer emanzipatorischen Perspektive artikuliert werden kann. Bezeichnenderweise war es ein junger Aktivist aus dem südtunesischen Zarzis, der in einer der Diskussionsrunden diesen Aspekt andeutete: Der exakte Moment der Migration ist der Entscheid, sich der Konfrontation an diesem singulären Ort zu entziehen, so sein Fazit. Während viele seiner Freunde im Januar 2011 diesen Weg wählten, blieb er. Diese Beobachtung darf aber auch nicht zum Argument gegen Bewegungsfreiheit umgemünzt werden, wie das die deutsche Kanzlerin Angela Merkel machte, als sie sich über all jene wunderte, die nach dem Sturz Ben Alis nicht im Land blieben, um am sozialen und politischen Umbau mitzuarbeiten.

Partikularismus allenthalben

Als zweites Problem stellte sich heraus, dass die einzelnen Themen kaum in einen grösseren gemeinsamen Zusammenhang gestellt wurden. So zerfielen die Diskussionen in Partikularismus. Dazu passte, dass ein hektischer Aktionismus die Reflexion dominierte. Unzählige Aktionen und Projekte wurden vorgestellt, entworfen und diskutiert. Ironischerweise wurde das reproduziert, was Basisbewegungen gerne den grossen NGOs vorwerfen – und zwar so weit, dass sogar in falsch verstandener Professionalität dieselbe Sprache des Managements nachgeahmt wurde.

Hinter den engagiert und lebhaft geführten Debatten und hinter den vielen Aktionen und Projekten wurde so immer wieder eine gewisse Orientierungslosigkeit greifbar. Das vergangene Weltsozialforum war eine grosse Auslegeordnung und ein idealer Platz des globalen Austausches. Über einen grossen Marktplatz der globalen Zivilgesellschaft kam es aber nicht hinaus

Hugo Chávez ist tot

hugo-chavezAm Dienstag, 5 März 2013 um 16:47 Uhr (Ortzeit) erlag der venezolanische Präsident und Mitbegründer der bolivarischen Bewegung Hugo Chávez seinem Krebsleiden. Dies gab Vizepräsident Nicolás Maduro nach einem Treffen mit den führenden Politikern der sozialistischen Partei PSUV in Caracas bekannt. Unmittelbar vor der Todesnachricht hatte Vizepräsident Nicolás Maduro erklärt: «Unsere Revolution ist vorbereitet und stärker als jemals zuvor.»

«Heute verstarb Kommandant und Präsident Hugo Chavez, nachdem er seit fast zwei Jahren hart mit seiner Krankheit kämpfte, in Liebe zum Volk, mit dem Segen der Menschen und der absoluten Loyalität seiner Genossinnen und Genossen, in Liebe zu all seinen Familienangehörigen», heisst es in der Erklärung von Nicolás Maduro.

Er rief die Unterstützer der sozialistischen Bewegung auf, sich vor dem Militärhospital «Dr. Carlos Arvelo» in Caracas und auf den öffentlichen Plätzen des Landes zu versammeln. «Wir singen das Lied von Alí Primera: Diejenigen, die für das Leben starben, darf man nicht als tot bezeichnen», sagte Maduro in einer landesweit übertragenen Ansprache um 17 Uhr (Ortszeit).

Revolutionär und Präsident

Hugo Chávez, Sohn eines Dorfschullehrers aus dem Dorf Sabaneta im ländlichen Bundesstaat Barinas, regierte Venezuela seit dem Jahr 1999. Nach seiner ersten Wahl im Dezember 1998 berief er eine verfassunggebende Versammlung ein, deren Vorschlag 1999 in einem Referendum als neues Grundgesetz angenommen wurde. Nach einer seit 1984 anhaltenden Wirtschaftskrise galt der verfassunggebende Prozess als eine Neugründung des Landes.

Seit seinem offiziellen Amtsantritt bestätigte die venezolanische Bevölkerung den 1954 geborenen Politiker drei Mal bei Präsidentschaftswahlen sowie in einem Abwahlreferendum – jeweils mit sehr hohen Zustimmungswerten.

Seine politische Laufbahn begann Hugo Chávez im Jahr 1978 als Mitglied der illegalen Revolutionären Partei Venezuelas (PRV) des Guerilla-Kommandanten Douglas Bravo. Ab 1982 organisierte er für die PRV eine Struktur von oppositionellen Offizieren, die im Jahr 1992 zwei Aufstände gegen den sozialdemokratischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez durchführten.

Anlass für die Umsturzversuche war die blutige Niederschlagung eines Volksaufstandes (Caracazo), welche zwischen 300 und 3.000 Menschenleben kostete. Die spontane Revolte richtete sich gegen ein Kürzungsprogramm, dass Carlos Andrés Pérez kurz nach seiner Wahl verabschiedete. Der Sozialdemokrat war nach zehn Jahren Wirtschaftskrise im Dezember 1988 zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt worden, weil er versprochen hatte die unsozialen Kürzungsmassnahmen zu beenden.

Hugo Chávez erlangte landesweite Berühmtheit, weil er nach dem Scheitern der ersten Militärrevolte am 4. Februar 1992 im Fernsehen live die Verantwortung für die Unternehmung übernahm. Mit den Worten «Wir sind gescheitert, vorerst» richtete er sich an die am Aufstand beteiligten Offiziere und bat sie, weitere Blutvergiessen zu verhindern. Das Schlagwort «por ahora» (vorerst) entwickelte sich später zum Kennzeichen einer breiten Bewegung der Bevölkerung.

Nach den zivil-militärischen Umsturzversuchen gründete Hugo Chávez ab 1995 das Wahlprojekt «Bewegung Fünfte Republik» (MVR), für das er schliesslich 1998 die Präsidentschaftswahlen gewann und damit die 40-jährige Herrschaft von Sozial- und Christdemokraten in dem ölreichen Land beendete. Zu diesem Zeitpunkt lebten mehr als 60 Prozent der Venezolaner unter der Armutsgrenze, die Inflation betrug 110 Prozent.

Staatstrauer in Kuba und Argentinien

Unmittelbar nach der Nachricht vom Tod des venezolanischen Präsidenten gingen aus ganz Lateinamerika Beileidsbekundungen ein.

In Havanna rief Präsident Raul Castro eine zweitägige Staatstrauer aus, in Argentinien Präsidentin Cristina Fernandez eine dreitägige. Der Präsident von Ecuador, Rafael Correa, sagte seinem Freund einen dauerhaften Einfluss in Lateinamerika voraus: «Wir haben einen Revolutionär verloren, aber Millionen von uns bleiben (von ihm) inspiriert.».

Der bolivianische Präsident Evo Morales, ebenfalls Weggefährte von Chávez, sagte, der Verstorbene werde allen Völkern eine Inspiration sein, «die für ihre Befreiung kämpfen». Castro sagte: «Das kubanische Volk betrachtet in als einen seiner herausragendsten Söhne.» In Nicaragua sagte Rosario Murillo, Frau und Sprecherin von Präsident Daniel Ortega, Chávez sei «einer der Toten, die niemals sterben» und fügte hinzu: «Wir sind alle Chávez.»

Der gerade im Amt bestätigte Präsident Ecuadors, Rafael Correa, erklärte: «Ecuador solidarisiert sich angesichts dieses unermesslichen Verlustes für Venezuela und ganz Lateinamerika.»

Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos bezeichnete den Tod von Hugo Chávez als grossen Verlust für Venezuela und die gesamte Region. «Die beste Wertschätzung, die wir seinem Andenken entgegen bringen können, ist, dass wir eine Regelung über das Ende des Konfliktes in Kolumbien erreichen. Er sagte, dies sei das, was Bolívar wollte.»

Aus den USA meldete sich Präsident Barack Obama mit den Worten: «Heute beginnt ein neues historisches Kapitel für Venezuela. Die Vereinigten Staaten bestätigen ihre Unterstützung für Politikansätze, die demokratische Prinzipien, den Rechtsstaat und Respekt für die Menschenrechte befördern.»

Quelle und weitere Infos; www.amerika21.de

«Ein Massaker, als wäre es ein Krieg»

lampe-sos«Ich bin die neue Bürgermeisterin von Lampedusa. Ich wurde im Mai 2012 gewählt, und bis zum 3. November wurden mir bereits 21 Leichen von Menschen übergeben, die ertrunken sind…, weil sie versuchten, Lampedusa zu erreichen.

Das ist für mich unerträglich und für unsere Insel ein grosser Schmerz. Wir mussten andere Bürgermeister der Provinz um Hilfe bitten, um die letzten elf Leichen würdevoll zu bestatten. Wir hatten keine Gräber mehr zur Verfügung. Wir werden neue schaffen, aber jetzt frage ich: Wie gross muss der Friedhof auf meiner Insel noch werden? Ich bin über die Gleichgültigkeit entrüstet, die alle angesteckt zu haben scheint; mich regt das Schweigen von Europa auf, das gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat, und nichts sagt, obwohl es hier ein Massaker gibt, bei dem Menschen sterben, als sei es ein Krieg.

Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse einzudämmen. Vielleicht betrachtet sie sie sogar als Abschreckung. Aber wenn für diese Menschen die Reise auf den Kähnen den letzten Funken Hoffnung bedeutet, dann meine ich, dass ihr Tod für Europa eine Schande ist.
Wenn Europa aber so tut, als seien dies nur unsere Toten, dann möchte ich für jeden Ertrunkenen, der mir übergeben wird, ein offizielles Beileidstelegramm erhalten. So als hätte er eine weisse Haut, als sei es unser Sohn, der in den Ferien ertrunken ist.»

Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa.

 

Europa spielt mit dem Feuer

Tausende Menschen beteiligen sich Flüchtlingsdemo in BerlinFriedensnobelpreis für die Europäische Union? Schlechte Realsatire oder dadaistische Selbstinszenierung, könnte man sich jetzt laut fragen. Oder einfach etwas Balsam auf die krisengeschüttelte Seele der europäischen Zwangsgemeinschaft? Schliesslich hat die EU sonst grad nicht viel zu jubilieren.

Aus der Sonderbeilage zur Jahresendnummer vom 21.Dezember. Unterstütze uns mit einem Abo.

«Wir werden stets auf der Seite derjenigen stehen, die nach Frieden und Menschenwürde streben» sagte EU-Kommissionspräsident Barroso in seiner Rede bei der Preisverleihung in Oslo am 10. Dezember. Schöne Worte! Ob Herr Barroso mit dem «Streben nach Menschenwürde» auch an die wagemutigen «Boat People» gedacht hat?  Alleine 2011 ertranken im Mittelmeer gemäss offiziellen Statistiken über 2300 Menschen, beim Versuch nach Europa zu kommen. Ein neuer, trauriger Rekord. Seit 1993 sind insgesamt 18000 Menschen an den Aussengrenzen Europas gestorben. Das sind die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen.

Verschiedene erschütternde Berichte belegen zudem, dass immer wieder in Seenot geratenen Flüchtlingsschiffen die Rettung verweigert wird und die Menschen ihrem Schicksal überlassen werden. Ziemlich viele Tote für einen Kontinent des Friedens. Da wäre das Bekenntnis, man stehe zwar zu Freiheit, Menschenrechten und sozialem Wohlstand, nur wolle man sie nicht teilen, wohl ehrlicher gewesen. Europa mit seinen zwei Gesichtern: Für die einen existiert das Europa der freien Fahrt für freie Bürger, für die anderen warten Internierungsknäste, wo selbst Kinder hungern und in Urinlachen schlafen, wie unlängst ein schockierter François Crépeau, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Menschenrechte von MigrantInnen, nach einem Besuch in griechischen Internierungslagern feststellen musste. 

In Europa gestrandet

Gerade in Mittelmeerländern wie Griechenland oder Malta ist die Situation besonders prekär und angespannt. Auf Grund des Dublin-Abkommens entziehen sich die wohlhabenden Staaten Mitteleuropas ihrer Verantwortung, denn für die Bearbeitung eines Asylantrages ist ausschliesslich das Land der Erstankunft zuständig. Reisen Flüchtlinge trotzdem weiter und stellen in einem anderen Land ihr Asylgesuch, werden sie umgehend mittels Fingerabdrücken und biometrischen Daten identifiziert und zurückgeschafft. Länder wie Griechenland werden so zu Bollwerken der Festung Europa umfunktioniert.

Heute sollen alleine in Athen über 100000 Illegale leben. Viele von ihnen obdach- und mittellos und ohne Perspektive. Die Chance überhaupt ein Asylgesuch in Griechenland stellen zu können, liegt praktisch bei null. Nicht mal da hält Europa, was es verspricht. Kein Wunder, dass die EU Griechenland nicht fallen lassen wird. Die neuen Armenhäuser Europas werden mit den Armen der Welt gefüllt. Da verwundert es auch nicht, wenn im antifaschistisch geprägten Griechenland eine offen neonazistisch auftretende Partei wie die «Goldene Morgenröte» gemäss aktuellsten Umfragen bis zu 18 Prozent Wähleranteil erreicht und mit diesem Ergebnis die dritt stärkste Partei wäre. Europa spielt mit dem Feuer.

Scharfmacher Schweiz

Im innereuropäischen Wettbewerb um die asozialsten Gesetze und besten Vergrämungsstrategien gehört die Schweiz zu den fleissigsten Platzhirschen. Kein Jahr vergeht, in dem die Ausgrenzungsmaschinerie mit neuen Gesetzen nicht noch tödlicher und effizienter gestaltet wird. Kein Jahr, in dem die Schrauben nicht noch mehr angezogen und neue Notstandsgesetze in Kraft gesetzt werden, obwohl ähnliche Gesetze längst schon bestehen. Europa hat sich satt gefressen und kackt moralisch ab. Die Schweiz gehört bei der mörderischen Politik der Wohlstandsverteidigung zu den zentralen Scharfmachern Europas. Die parlamentarische Linke spielt mit und schweigt, wohlwissend dass mit netten Worten über Ausländer derzeit keine Wahlen zu gewinnen sind. Und die SVP ist längst die europäische Gallionsfigur einer extremen Rechten schlechthin, auch wenn sie sich gern als Partei für alle darstellt. Doch falsch ist auch dieses Urteil nicht ganz, zumal die Mitte zunehmend weiter an den rechten Rand rückt.

Und sie kommen trotzdem

Egal wie hoch und tödlich die sichtbaren und unsichtbaren Mauern in und um Europa und in den Köpfen der Menschen sein mögen, die Verdammten dieser Erde, sie werden sich auch weiterhin auf den gefährlichen Weg in die reichen Ländern des Nordens machen – und dafür alles riskieren. Auf diese Realität hat das vereinte Europa bis heut keine gerechte Antwort gefunden. Je undurchlässiger diese Grenzen werden, desto mehr Tote wird es an den Aussenrändern der Festung Europa geben. Und das Perverseste, der tausendfache Tod wird durch Schlagworte wie «Menschenrechte» oder «Kampf gegen Menschen- und Frauenhandel» durchgesetzt und mehrheitsfähig gemacht. Arbeitslose senegalesische Fischer (die EU-Hochseeflotte lässt grüssen), die sich als Fluchthelfer betätigen, werden zu schleppenden Massenmörder hochsterilisiert und junge Frauen, die für etwas Glückseligkeit bereit sind, den eigenen Körper zu verkaufen, zu willenlosen Sklavinnen verklärt, die man ertrinken lässt, damit sie nicht ausgebeutet werden können. Angesichts dieses Zynismus passt der Friedensnobelpreis für die EU vielleicht doch grad wie die Faust aufs Auge. Die Stimmen in den Länder der Verdammten, die ein Ende der Kollaboration mit Europa sowie eine historische Aufarbeitung der Tausenden von Toten an den europäischen Aussengrenzen fordern, sie werden nicht leiser werden. Die neue Zeitrechnung, sie hat längst begonnen.

Auf Wiedersehen, good old Europe.

Studidemo in Ankara von Polizei attackiert – Student in Lebensgefahr

18.12.2012 – Eil-Kurzmeldung:
Demonstration gegen den Besuch des Ministerpräsidenten Erdogan an einer Universität in Ankara. Mehrstündige Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstrierenden. Resultat: Zwei Schwerverletzte und zahlreiche weitere verletzte Studierende.

«Verkäufer der Wissenschaft und imperialistischer Marktschreier Tayyip [Erdogan], raus aus MET Universität»

Studierende von Wasserwerfern attackiert

Linkes Schild: Revolution& Sozialismus
Mittleres (unsicher): Polizei raus
Rechtes: Gleiche, freie Wissenschaft (Bildung)

Am Nachmittag und frühen Abend des 18. Dezembers 2012 protestierten gemäss gut unterrichteten Quellen 1000 Studierende an der Middle East Technical University (METU) in Ankara Türkei. Die Studierenden protestierten gegen den Besuch des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan an ihrer Universität. Erdo?an und seine AKP-Regierungspartei treiben seit Jahren die Privatisierung und Ökonomisierung der Hochschulen voran. Grund des Besuchs war aber der Start des Satelliten «Gokturk2» der türkischen Regierung und des türkischen Militärs. Der Satellit wurde am Montag, 18. Dezember um ca. 17:00 türkischer Zeit ins All geschossen. Der Start wurde von Erdo?an, hochrangigen Militärs und deren Entourage per Live-Übertragung an der METU beigewohnt.

Der Grund des Protestes war jedoch hauptsächlich gegen Erdo?an gerichtet und stand unter dem Zeichen des Protests gegen die «nationale und internationale Politik der Regierung.» Auf dem Frontransparent der Demonstration stand: «Verkäufer der Wissenschaft und imperialistischer Marktschreier Tayyip [Erdogan], raus aus METU»

Die 1000 Menschen starke Demonstration setzte sich um 15:50 in Bewegung und wurden um 16:15 ohne Vorwarnung von den 3000 Polizistinnen und Polizisten mit Gummigeschossen, Reizgas und 8 Wasserwerffern attackiert. Zwei Studierende erlitten schwere Verletzungen. Ein Student, Baris Barisik, schwebt in Lebensgefahr. Zahlreiche weitere Studierende wurden während den mehrstündigen Auseinandersetzungen mit der Polizei ebenfalls verletzt. Unsere Quellen sprechen von mindestens deren 20. Um 22:45 soll die Polizei gerufen haben «Keine Verhaftungen mehr, nur noch knüppeln und (liegen) lassen.»

 

 

Zwei Videos zu der Demonstration und den Auseinandersetzungen mit der Polizei sind hier zu finden.

 

 

 

Verschiedene Bilder der Demo in Ankara

Verschiedene Bilder der Demo in Ankara

Eine Stimme aus Israel für den Frieden

Tamar Gozansky, kommunistische Knesseth-Abgeordnete von 1990 bis 2003, von Beruf Wirtschaftswissenschaftlerin, heute 72 Jahre alt, veröffentlichte im Internet folgenden persönlich gehalten Artikel (leicht gekürzt):

«Ihre Brüste schwollen vor Bedeutung: Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak kündigten den Medien und der Öffentlichkeit den Start eines neuen Krieges an, diesmal in Gaza. Wie zu erwarten war, wedelten beide mit der abgenutzten Ausrede eines „Krieges ohne Wahl. Und wie zu erwarten war, schwatzten die Politiker von Kadima (Liberale) und Arbeiterpartei (sozialdemokratisch) auch von dieser Ausrede; aus ihrer Sicht ist die Bombardierung des Gaza-Streifens ein Grund, um der Regierung Grüsse zu schicken.

Die Erfahrung hat uns immer wieder gelehrt, dass die Regierung beim Beginn eines jeden Krieges feierlich versicherte, dass es diesmal mit dem Abfeuern von Raketen auf israelisch Städte und Dörfer ein Ende haben werde. Aber dann kam danach jedes Mal ein neuer Krieg, mit dem das Problem «ein für allemal» gelöst werden sollte. Auf Lügen folgte Enttäuschung, die auf die vergiftete Illusion der Macht folgte.

Krieg als Wahlpropaganda

Im vergangenen Jahr bereiteten uns Netanjahu und seine Partner auf einen grossen Militärfeldzug gegen den Iran vor, indem sie uns immer wieder erklärten, dass Iran eine «existenzielle Bedrohung» sei. Aber für einen Krieg gegen den Iran ist es immer noch nötig, einen amerikanischen Partner zu haben, und dieser Partner hat bisher Netanjahu kein grünes Licht gegeben, sodass der Krieg gegen den Iran, wie er ankündigte, auf das Frühjahr verschoben wurde.

Doch inzwischen gibt es Wahlen. Da sagten sich Netanjahu und Barak wohl: Wenn es keinen Krieg gegen den Iran gibt, wie können wir dann die Dinge in einer Weise arrangieren, dass es in den Wahlkampf der rechten Koalitionspartner passt, der auf der einen Seite die Siedler und auf der anderen Seite die Familien der reichen Tycoons (Grossindustriellen) an sich drückt. So kam es, mit perfektem Timing gerade jetzt organisiert, zwei Monate vor den Wahlen, zu einer Eskalation im Süden…

Selbst die Netanjahu-Liebermann-Barak-Regierung weiss, dass die Bombardierung Gazas und auch eine Invasion durch die Streitkräfte kein einziges Problem lösen wird. Es lohnt sich daran zu erinneren, dass Barak am 27. November 2008 – damals ebenfalls Verteidigungsminister in Ehud Olmerts Regierung – den Beginn der Operation «Gegossenes Blei» verkündete, jenes Krieges, der angeblich Hamas eine entscheidende Niederlage beibringen sollte. Und jetzt, vier Jahre später, wagt der gleiche Barak wieder einen Krieg, und wieder gegen Gaza. Und wieder stopfen sie uns voll mit den Wundertaten von Mord und Zerstörungen, solange sie die israelische Öffentlichkeit damit täuschen können, dass das Problem dieses Mal gelöst werden wird.

Aber die Ähnlichkeit zwischen dem Krieg, der gerade begonnen hat, und der Operation «Gegossenes Blei» ist nicht nur ein Bluff, dass es eine Sache von „Knall und Fall“ sein werde. Beide Male, jetzt und 2008, hatte der Krieg ein durchsichtiges politisches Ziel: die öffentliche Atmosphäre anzuheizen und auf diesem Weg mehr Stimmen bei der Knesseth-Wahl zu bekommen.

Krieg war und ist immer noch ein sehr machtvolles Werkzeug, um soziale Probleme vom Tisch zu wischen, die sich verschlimmernde Wohnungskrise und die täglichen Preiserhöhungen für Grundbedürfnisse zu verdrängen, ebenso für die Rechtfertigung von drastischen Einschnitten in den Haushalt 2013. In Kürze werden sie uns erzählen Seid ruhig und lasst uns weitere 15 Milliarden Schekel für einen weiteren Krieg verschleudern, und dann lasst uns die noch kommenden Einschnitte in den Haushalt bei Arbeitslosenhilfe, Kinderunterstützung, Krankenhausversorgung, Bildung und Infrastruktur damit rechtfertigen.

Manchmal wundere ich mich: Wie lange werden zwei Völker, Israelis und Palästinener, noch zu leiden haben, bis der Groschen fällt und wir endlich begreifen, dass militärische Gewalt das Problem von Raketen auf israelische Gemeinden nicht lösen wird und den Kindern von Siderot und Ashkelon keine ruhige Kindheit sichern kann?…»

Israels Kommunisten bei Friedensdemonstrationen

Noch in der Nacht nach dem ersten israelischen Militärschlag am vorletzten Mittwoch versammelten sich hunderte Menschen auf Initiative der Kommunistischen Partei Israels zusammen mit anderen Friedensaktivisten vor dem Haus von Verteidigungsminister Barak in Tel Aviv und dem Wohnsitz des Premierminsters Netanjahu in Jerusalem, um gegen die erneute Kriegsbrandstiftung der Regierung zu protestieren. Am darauf folgenden Donnerstag gab es weitere Demonstrationen in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem, in Tel Aviv mit 5‘000 Teilnehmern. Auf ihren Schildern hiess es u.a.: «Israel – Palästina – zwei Staaten für zwei Völker» und «Geld für Wohlfahrt, nicht für Krieg». Auf einigen wurde Verteidigungsminister Barak als «Terrorist Nummer 1»  bezeichnet. Gefordert wurde die sofortige Einstellung der Luftangriffe auf den Gaza-Streifen und der Beginn ernsthafter Verhandlungen über eine dauerhafte Zwei-Staaten-Friedenslösung zwischen Israel und Palästina. Der kommunistisch Knesseth-Abgeordnete Dov Khenin (Hadash) erklärte: «Die Netanjahu-Administration beharrt darauf, nichts aus den Erfahrungen zu lernen». «Anführer zu ermorden, ist nie eine Lösung. Anführer sind in der Vergangenheit ermordet worden und andere kamen.»

Amerikanische Schande

Jährliches Ritual bei den Vereinten Nationen: Die UN-Vollversammlung hat von den USA die Aufhebung ihrer Handelsbeschränkungen gegen Kuba gefordert – zum 21. Mal. Für eine entsprechende Resolution stimmten am Dienstag, 13. November 188 der 193 Mitgliedsländer. Zwei enthielten sich, nur drei Staaten stimmten dagegen: Israel, die kleine Inselrepublik Palau und die USA selbst.

Das mehr als 50 Jahre alte Embargo habe einen wirtschaftlichen Schaden von mehr als einer Billion Dollar verursacht, beteuerten Vertreter Kubas. „Humanitäre und wirtschaftliche Schäden“ seien die Folge. Ein US-Diplomat sagte hingegen, die USA stünden an der Seite des kubanischen Volkes. Das Embargo treffe aber die Führung, die ihrem Volk grundlegende Menschenrechte verweigere.

Kaum jemand erwartet, dass die USA der Aufforderung folgen. Die Vollversammlung hat, stets initiiert von lateinamerikanischen Staaten, zuvor schon 20 Mal Washington zur Aufhebung des Embargos aufgefordert – 20 Mal ohne Erfolg. Die Unterstützung für die Resolution hat sich allerdings innerhalb von 20 Jahren von anfangs etwa 50 Staaten inzwischen mehr als verdreifacht.

Das Embargo, in Kuba «el bloqueo» genannt, geht bis auf das Jahr 1960 zurück, wurde aber mehrfach verschärft. Bevor Präsident John F. Kennedy 1962 das eigentliche Handelsembargo verhängte, bestellte er nach Angaben eines Mitarbeiters noch eine Kiste kubanischer Zigarren.

Eine ganze Gesellschaft erwacht!

Im 2010 kündigte die liberale Regierung Québecs eine Studiengebührenerhöhung an. Die Studierendenorganisation «CLASSE» (Coalition large de l’Association pour une solidarité syndicale étudiante) mobilisierte als Antwort darauf zu einem Studierendenstreik. Dieser weitete sich schliesslich zu einer in der Geschichte Kanadas einmaligen sozialen Bewegung aus, die Studierende, SchülerInnen und Lohnabhängige zusammenbrachte. Ein Gespräch mit Katherine Ruault, Studentin und Mitglied von «CLASSE».

Aus der Printausgabe vom 9. November. Unterstütze uns mit einem Abo!

 

Was waren die Gründe für die Mobilisierung der SchülerInnen und Studierenden in Québec?

Im Jahr 2010 präsentierte die liberale Regierung von Québec das neue Staatsbudget. Darin waren massive Austeritätsprogramme vorgesehen. Es ging in erster Linie um zwei wichtige Elemente: Einerseits wollte die Regierung die Gesundheitskosten mit einer zusätzlichen Steuer vermehrt auf die Lohnabhängigen überwälzen, andererseits sollten die Studiengebühren um 127 Prozent erhöht werden. Das dominante Argument: In Zeiten der Krise müsse der Staat sparen. Für die «CLASSE» war von Anbeginn klar: Die Erhöhungen können nur durch einen unbefristeten Streik blockiert werden.

Kannst du kurz erklären, was  die «CLASSE» ist?

«CLASSE» ist eine Vereinigung von 67 SchülerInnen- und Studierendenorganisationen, die zusammen über 100 000 GymnasiastInnen und Studierende in ganz Québec vereinigt. Diese Vereinigung ist zeitlich befristet und hat alle Organisationen versammelt, die unseren Grundsätzen zustimmten, sprich die Verteidigung der materiellen Interessen der Studierenden mit kämpferischen, demokratischen, feministischen und unabhängigen Mitteln. Wir haben zwei Ziele: eine öffentliche, kostenlose und nicht-diskriminierende Bildung für alle und den Aufbau einer gewerkschaftlichen, demokratischen, feministischen und kämpferischen Studierendenbewegung. Wir funktionieren nach den Prinzipien der Basisdemokratie. Das heisst, dass die dezentralen Studierendenversammlungen über die politische Stossrichtung der Organisation entscheiden.

Wann hat dann der tatsächliche Studierendenstreik begonnen?

Wir haben zwei Jahre lang auf einen Studierendenstreik hin mobilisiert. Dazu gehörten Petitionen, kleine Aktionen, kleine Demos und die Verbreitung von Informationsmaterial. Diese Vorarbeit war unabdingbar für das Gelingen unserer Mobilisierung und hat am 10. November 2011 zur ersten Grossdemo mit 30 000 Beteiligten geführt Im Januar 2012 hatten sich bereits 10?000 Studierende bereit erklärt, einen unbefristeten Streik zu führen. Die Mobilisierungsarbeit wurde natürlich weitergeführt, mit Aktionen und weiterer Informationsarbeit. Am 1. März fand dann eine Grossdemo statt und 100?000 Studierende traten in den unbefristeten Streik. Am 22. März fand eine landesweite Demo statt, an der sich 200?000 Personen beteiligten. Die massive Mobilisierung hat uns dazu veranlasst, jeden 22. des Monats auf die Strasse zu gehen.

Die Bewegung benutzte viele unterschiedliche Aktionsformen. Welche Vorteile konntet ihr daraus ziehen?

Wir haben stets zum zivilen Ungehorsam aufgerufen, das war die Hauptform unseres Kampfes. Darüber hinaus suchten wir die Unterstützung der ganzen arbeitenden Bevölkerung. Wir haben in den Quartieren und Nachbarschaften Versammlungen organisiert, die es erlaubten, die Beteiligung zu erweitern. Auch fanden spontane Nachtdemos statt, meist dezentral organisiert. Die «cazerolazos», also Demos durch die Nachbarschaften mit Pfannen, gehörten zu den Momenten, während denen sich Kinder, Frauen und ganze Familien an der Bewegung beteiligten. Doch wir haben schnell gemerkt, dass wir auch dort ansetzen mussten, wo der Staat und die Wirtschaft ökonomisch verletzlich sind. Wir begannen also Staatsunternehmen, Häfen und Brücken zu blockieren und somit die Wirtschaft lahmzulegen. Dadurch wurde unsere Mobilisierung zu einem Kampf «ums Ganze» ausgeweitet.

Auf einem Transparent war zu lesen: «Dies ist kein Studierendenstreik. Es ist eine ganze Gesellschaft, die erwacht». Wie erklärst du dir, dass diese Studierendenbewegung ein solches Ausmass annehmen konnte?

1970 erlebte Québec mit einer «stillen Revolution» die Unabhängigkeit von Kanada. Eine «stille Revolution» bedeutet aber nicht, dass keine Kämpfe stattgefunden haben. Tatsächlich kennt Québec eine lange Tradition von Arbeitskämpfen, Streiks und grossen Mobilisierungen. So war der diesjährige Streik bereits der siebte grosse Streik der SchülerInnen und Studierenden, wobei ein solches Ausmass nie erreicht wurde. Parallel zu unserer Bewegung befanden sich auch andere Lohnabhängige im Kampf. Das Reinigungspersonal von «Air Canada» streikte gegen die Ankündigung von Entlassungen, im Aluminiumunternehmen «Rio Tinto» wurden die ArbeiterInnen aufgrund ihres Kampfes gegen anti-gewerkschaftliche Entlassungen ausgesperrt und hatten somit keinen Lohn. Wir haben uns gleich solidarisiert, gingen die kämpfenden ArbeiterInnen besuchen und boten materielle Hilfe an. Die Verbindung von Kämpfen gehört zu einem Hauptanliegen von «CLASSE».

Wie reagierte der Staat, beziehungsweise die Regierung nach diesen massiven Mobilisierungen?

Die Regierung reagiert sehr repressiv gegen die Bewegung. Im Mai trat die «Loi 78» in Kraft, welche alle Versammlungen im Umkreis der Unis verbot, MitarbeiterInnen von Hochschulen das Streikrecht entzog und alle Personen, die unbewilligt demonstrieren, mit horrenden Bussen bestrafte. Unsere Mobilisierung musste sich also radikalisieren, um dagegen zu halten. Wir riefen zu einem sozialen Generalstreik auf. Am 22. Mai fand dann tatsächlich ein zweitägiger Streik statt, der nicht nur die Schulen und Unis erfasste, sondern die ganze Wirtschaft Québecs. Unterschiedliche Gruppen von Lohnabhängigen stellten sich aktiv auf unsere Seite. Es wurden unabhängige Kollektive gegründet wie «PflegerInnen gegen die Erhöhung», «RentnerInnen gegen die Erhöhung» und «Richter gegen die ‹Loi 78›». Aus dem Studierendenstreik wurde ein sozialer Kampf.

Hat diese Radikalisierung und Erweiterung der Bewegung auch Früchte gebracht?

Am 4. September fanden Wahlen statt, welche die «Parti Québecois» gewann. Sie kündete an, die Gebührenerhöhung und die repressiven Gesetze zurückzuziehen. Wir beendeten somit am 8. September den Streik, da unsere unmittelbaren Forderungen durchgesetzt wurden. Nun organisiert die neue Regierung ein Gipfeltreffen zum Thema Bildung, an dem auch die Studierendenorganisationen eingeladen sind.

Kann daher die «Parti Québecois» als politische Stimme der sozialen Bewegung bezeichnet werden?

Auf keinen Fall. Sie ist in der Geschichte sozialen Bewegungen repressiv begegnet. Zudem war sie die erste Partei, die in Québec neoliberale Programme umgesetzt hat. Trotz des Regierungswechsel haben wir weiterhin gute Gründe, wachsam zu bleiben.

Wie sieht die Zukunft der Bewegung aus?

«CLASSE» hat entschieden, nicht an das Gipfeltreffen zu gehen, um nicht vereinnahmt zu werden. Unser Ziel bleibt ein kostenloses Schul- und Universitätssystem. Wir haben im Sommer ein Manifest geschrieben, welches weiterhin an öffentlichen Versammlungen debattiert wird. Wir bleiben bei der Überzeugung: Wir sind die Zukunft und zusammen können wir unsere Ziele erreichen.

Gegen die Gewalt des Kapitals

Der Aufruft der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) zum europäischen Protesttag vom  14. November.

25 Mio. offizielle Arbeitslose in der EU, über 50 Prozent arbeitslose Jugendliche in Griechenland und Spanien, «Sparprogramme», nach denen in Deutschland kommunale Bäder, Büchereien usw. schliessen, in Griechenland aber ein Grossteil der Bevölkerung ausgehungert wird, das ist die Zwischenbilanz der sogenannten Eurorettung. In Wahrheit wird hier allenfalls den reichen Griechen geholfen, werden die Profite der Deutschen Bank, der Spekulanten und Zocker gesichert. Allein die Übernahme der faulen Papiere der Hypo Real Estate liess sich die Bundesregierung 173 Milliarden Euro kosten, eineinhalb mal soviel wie alle Schulden der Kommunen im Land. Gegen diese Politik im Interesse deutscher und internationaler Konzerne und «Finanzdienstleister» richtet sich am 14. November internationaler Protest des Europäischen Gewerkschaftsbunds.

Die Kapitalisten nützen die Krise

In Portugal, Spanien, Malta, Griechenland und Zypern wird zum Generalstreik aufgerufen, wahrscheinlich auch in Italien. Erhöhte Arbeitsmarktflexibilität, u. a. durch weniger Kündigungsschutz, Privatisierung öffentlicher Dienste und der Sozialversicherungen, Lohndumping, Rentenkürzungen, soziale Ausgrenzung und wachsende Ungleichheiten sind keine südeuropäischen Phänomene. Alltag hierzulande sind real sechs Millionen Erwerbslose, über 20 Prozent Niedriglöhner, Zeit- und Leiharbeit mit Aussicht auf Altersarmut. Die Kapitalisten nutzen die Krise, um ihre Umverteilungspläne und die zur Errichtung eines neoliberalen kapitalistischen europäischen Staats zu forcieren.

Mindestlöhne jetzt

In den DGB-Gewerkschaften laufen jetzt Vorbereitungen, auch hier den 14. November zum Aktionstag werden zu lassen, zur Verteidigung gewerkschaftlicher Rechte, die nicht nur in Griechenland von der Troika aus EU, EZB und IWF in den Dreck getreten werden. Es geht darum, die Krisengewinner für ihre Krise zur Kasse zu bitten. Die Forderung nach einer Millionärssteuer wird lauter. Her mit dem gesetzlichen Mindestlohn, weg mit der Rente erst mit 67. Vielerorts bilden sich Bündnisse wie in Frankfurt, wo vor dem griechischen Konsulat und der FDP-Zentrale demonstriert werden soll.

Sozialismus als Alternative

Der Schokoladenüberzug ist ab, der Kapitalismus zeigt sein über Jahrzehnte schamhaft verborgenes Gesicht als eine Ausbeuterordnung, in welcher der Profit das Mass aller Dinge ist. «Der Mensch muss vor dem Profit stehen», das fordern hingegen immer mehr Betroffene und stellen die Frage nach Alternativen. Das kann für uns letztlich nur eine sozialistische sein. Unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie diese einmal aussehen wird, werden uns Kommunisten nicht daran hindern, mit allen fortschrittlichen Menschen gegen die, wie Marx sie nannte, alltäglichen Gewalttaten des Kapitals zu kämpfen, am 14. November und danach.

Quelle und weitere Infos: www.kommunisten.de

 

Grund der Verhaftung: Die Wahrheit!

Man kann es durchaus als symptomatisch ansehen und es hätte genau so gut in jedem anderen EU-Staat geschehen können: ein griechischer Journalist wurde kürzlich festgenommen und angeklagt, nicht weil er die Unwahrheit verbreitet hatte, sondern weil er ein Stück von der Wahrheit ans Licht brachte. Er veröffentlichte eine Liste von über 2000 reichen Griechen, die ihr Geld auf einer Schweizer Bank vor dem Zugriff der Finanzämter in Sicherheit gebracht hatten. Der Journalist heisst Kostas Vaxevanis und ist Herausgeber und Chefredakteur des Magazins «Hot Doc». Am 28. Oktober hatte ihn ein stattliches Aufgebot von rund einem Dutzend Polizisten aufgrund eines Haftbefehls der Athener Staatsanwaltschaft festgenommen, am 1. November fand auf deren Betreiben ein Prozess gegen ihn statt. Die Anklageschrift beschuldigte ihn der Verletzung des Datenschutzes, weil er vertrauliche private Daten bekannt gemacht hat, sowie der Verleumdung der genannten Personen.

Daten von Geschäftsleute und Familienclans verschwunden

Nachdem in der griechischen Öffentlichkeit bereits seit einiger Zeit von der Existenz einer sogenannten «Lagarde-Liste» von griechischen Kontoinhabern bei der schweizer HSBC-Bank gemunkelt worden war, hatte das Magazin sie sich beschafft und Ende Oktober veröffentlicht. Allerdings wurden nur die Namen veröffentlicht, ohne Angabe von Konto-Nummern und Höhe der jeweiligen Einlagen. Das Magazin schrieb sogar dazu, dass nicht jeder Grieche, der ein Konto in der Schweiz hat, automatisch als Steuerbetrüger anzusehen sei. Auf der Liste standen zahlreiche Geschäftsleute und reiche Familienclans wie der des Textilmagnaten Lamaras sowie Ärzte, Zahnärzte, Journalisten, auch einige Politiker, darunter ein ehemaliger Minister der konservativen Karamanlis-Regierung.

Die Schweizer HSBC ist die fünftgrösste Bank in der Schweiz und eine Filiale des in London ansässigen internationalen Finanzkonzerns gleichen Namens mit 7’200 Filialen in 80 Ländern der Welt, darunter Hongkong, New York, Brasilien, Mexiko, Panama, Paris, Monaco, Luxemburg, Bahrain, Qatar, Singapur, Bahamas usw., Jahresgewinn 2011 vor Steuern 16,797 Milliarden Dollar.

In den Besitz griechischer Staatsstellen war die Liste bereits im Oktober 2010 gekommen. Christine Lagarde, heute Chefin des IWF, damals noch französische Wirtschafts- und Finanzministerin, hatte sie in Form einer CD an den damaligen griechischen Finanzminister Papakonstantinou von der PASOK weitergereicht. Daher «Lagarde-Liste». Ex-Finanzminister Papakonstantiou meint heute, die CD an die Steuerfahndung weitergegeben zu haben, behauptet aber, keine Ahnung zu haben, was danach damit geschehen ist und wo sie seither blieb. Angeblich hat die Steuerfahndung die Ermittlungen eingestellt, weil die Erkenntnisse «nicht gerichtsverwertbar» gewesen sein sollen, weil sie aus einer «illegalen Quelle» stammten,. Das französische Finanzministerium hatte die CD nämlich seinerzeit von einem ehemaligen Angestellten der HSBC erhalten, den die Bank des Datendiebstahls beschuldigt. Papakonstantinous Nachfolger als Finanzminister, der heutige PASOK-Vorsitzende Venizelos behauptete, in seiner Amtszeit einen USB-Stick mit der Liste an die griechische Justiz weitergegeben zu haben, über dessen Verbleib aber ebenfalls nichts weiter zu wissen. Er habe sich die Daten niemals selbst angesehen.

Also, oh Wunder, weder die CD noch der USB-Stick waren bisher noch irgendwo auffindbar. Auch der heutige wieder konservative Finanzminister Stournaras weiss von nichts. Bis «Hot Doc» offenbar findig genug war, das zu schaffen, was die früheren und heutigen Regierungsspitzen nicht schafften, nämlich die Liste wieder auftauchen zu lassen.

Nicht schuldig!

Ehre dem Athener Richter, der den angeklagten Journalisten am 1. November trotz der heftigen Ausfälle des Staatsanwalts dann doch für «nicht schuldig» erklärte! Das im Gerichtssaal anwesende Publikum erhob sich von den Plätzen, um dem Freispruch Beifall zu zollen. Vielleicht hatte den Richter ja das Argument des Angeklagten überzeugt, dass der griechische Staat besser gegen die Steuerbetrüger vorgehen und diese verhaften würde, statt die Gehälter von Richtern und anderen Staatsbediensteten zu kürzen und zu versuchen, die Wahrheit zu unterdrücken.

Allerdings war bisher nichts in der Richtung zu erfahren, dass die Namensliste nun tatsächlich einer gründlichen Untersuchung unterzogen wird und die Steuerflüchtlinge zur Verantwortung gezogen werden. Auch von der EU-Troika, deren Diktat die griechische Bevölkerung in immer größere Armut und die griechische Wirtschaft in immer tiefere Rezession stürzt, war nichts in dieser Richtung zu hören. Im griechischen Parlament soll jetzt zwar ein Untersuchungsausschuss gebildet werden, der nachforschen soll, warum zwei Finanzminister trotz der vorliegenden Fakten jahrelang nichts unternommen haben. Und das kann natürlich wieder dauern…

Europa streikt

Der Europäische Gewerkschaftsbund erklärt den 14. November zum europäischen Aktionstag  «Für Arbeitsplätze und Solidarität in Europa und gegen die Austeritätspolitik» und ruft seine Mitgliedsgewerkschaften mit 60 Millionen Mitgliedern in der Europäischen Union auf zu protestieren, zu demonstrieren und zu streiken. Erstmals wird es in mehreren Ländern gleichzeitig zum Generalstreik kommen. In  Portugal, Spanien, Griechenland und Zypern werden an dem Tag wohl alle Räder still stehen. In Italien sind verschiedene Aktionen geplant. In Italien ruft der kämpferische Gewerkschaftsbund CGIL zu einem vier Stündigen Generalstreik. Basisgewerkschaften sowie kommunistische Parteien und Gruppen haben sich dem Anruf angeschlossen. Die beiden anderen rosaroten Gewerkschaftsbünde UIL und CISL unterstützen den Generalstreik nicht.

Soziale Mindeststandards erkämpfen

Das Exekutivkomitee des EGB verurteilte am 17. Oktober die sogenannten Sparmassnahmen, die Europa in Stagnation und Rezession treiben und Ungleichgewichte sowie Ungerechtigkeiten vertiefen und den Sozialabbau beschleunigen. Es wirft dem IWF vor, mit falschen Berechnungen die zu erwartenden Folgen der Austeritätspolitik im Vorfeld geschönt zu haben. Es wendet sich gegen die frontalen Angriffe auf Tarifvertragssysteme und Gewerkschaftsrechte bei der Durchsetzung der Politik der Troika. Hier sei unsererseits daran erinnert, dass auch die Führungen von SPD und Grünen grundsätzlich den «Hilfsprogrammen»  zum Beispiel für Griechenland zustimmen. Bei letzterem ist dessen integraler Bestandteil die gesetzliche Nichtigkeitserklärung aller Tarifverträge. Warum sollen Politiker, deren einstiger Basta-Kanzler den Gewerkschaften mit staatlichen Eingriffen drohte, wenn sie nicht selbst ihre Tarifverträge für betriebliche Verschlechterungen öffnen würden, zu gegebener Zeit vor gleichen Massnahmen in Deutschland zurückschrecken? Unter Hinweis auch auf die wachsenden Proteste in den EU-Ländern will der EGB um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und soziale Mindeststandards in der EU kämpfen.

Quelle: www.kommunisten.de

Klarer Sieg für Hugo

Am Montag (Ortszeit) verbreitete der Nationale Wahlrat Venezuelas (CNE) ein aktualisiertes Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom Sonntag, das sich auf einen Auszählungsstand von 97,65 Prozent  bezog. Die Wahlbeteiligung lag demnach bei für das Land historischen 80,72 Prozent. In 22 der 24 Bundesstaaten Venezuelas konnte sich Chávez durchsetzen, nur Mérida und Táchira an der Grenze zu Kolumbien fielen an die Opposition. Auch im von Henrique Capriles Radonski als Gouverneur regierten Miranda setzte sich Chávez – wenn auch knapp – durch. Am Mittwoch soll Hugo Chávez vom CNE offiziell zum Wahlsieger proklamiert werden.

Die Wahlergebnisse im einzelnen:

Hugo Chávez: 8062056 Stimmen, 55,14 Prozent
Davon:

  • Vereinte Sozialistische Partei (PSUV): 6287638 Stimmen (43,01%)
  • Kommunistische Partei (PCV): 482317 Stimmen (3,29%)
  • Heimatland für alle (PPT): 216293 Stimmen (1,47%)
  • Revolutionäre Netzwerke (REDES): 195283 Stimmen (1,33%)
  • Wahlbewegung des Volkes (MEP): 183178 Stimmen (1,25%)
  • Tupamaros: 166.772 Stimmen (1,14%)
  • Für die soziale Demokratie (PODEMOS): 153243 Stimmen (1,04%)
  • Fünf weitere Listen mit Ergebnissen von unter einem Prozent

Henrique Capriles: 6468450 Stimmen, 44,24 Prozent
Davon:

  • Tisch der demokratischen Einheit (MUD): 2154021 Stimmen (14,73%)
  • Zuerst Gerechtigkeit (PJ): 1807320 Stimmen (12,36%)
  • Eine Neue Zeit (UNT): 1189959 Stimmen (8,13%)
  • Volkswille (VP): 467532 Stimmen (3,19%)
  • Fortschrittliche Vorhut (AP): 252213 Stimmen (1,72%)
  • 13 weitere Listen mit Ergebnissen von unter einem Prozent

Reina Sequera:68936 Stimmen, 0,47 Prozent

Luis Reyes: 8063 Stimmen, 0,05 Prozent

María Bolívar: 7308 Stimmen, 0,04 Prozent

Orlando Chirino: 4062 Stimmen, 0,02 Prozent

Ungültige Stimmen: 282865 (1,89 Prozent)

(CNE/jW)

Quelle: junge Welt Online Spezial

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