Europa spielt mit dem Feuer
Friedensnobelpreis für die Europäische Union? Schlechte Realsatire oder dadaistische Selbstinszenierung, könnte man sich jetzt laut fragen. Oder einfach etwas Balsam auf die krisengeschüttelte Seele der europäischen Zwangsgemeinschaft? Schliesslich hat die EU sonst grad nicht viel zu jubilieren.
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«Wir werden stets auf der Seite derjenigen stehen, die nach Frieden und Menschenwürde streben» sagte EU-Kommissionspräsident Barroso in seiner Rede bei der Preisverleihung in Oslo am 10. Dezember. Schöne Worte! Ob Herr Barroso mit dem «Streben nach Menschenwürde» auch an die wagemutigen «Boat People» gedacht hat? Alleine 2011 ertranken im Mittelmeer gemäss offiziellen Statistiken über 2300 Menschen, beim Versuch nach Europa zu kommen. Ein neuer, trauriger Rekord. Seit 1993 sind insgesamt 18000 Menschen an den Aussengrenzen Europas gestorben. Das sind die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen.
Verschiedene erschütternde Berichte belegen zudem, dass immer wieder in Seenot geratenen Flüchtlingsschiffen die Rettung verweigert wird und die Menschen ihrem Schicksal überlassen werden. Ziemlich viele Tote für einen Kontinent des Friedens. Da wäre das Bekenntnis, man stehe zwar zu Freiheit, Menschenrechten und sozialem Wohlstand, nur wolle man sie nicht teilen, wohl ehrlicher gewesen. Europa mit seinen zwei Gesichtern: Für die einen existiert das Europa der freien Fahrt für freie Bürger, für die anderen warten Internierungsknäste, wo selbst Kinder hungern und in Urinlachen schlafen, wie unlängst ein schockierter François Crépeau, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Menschenrechte von MigrantInnen, nach einem Besuch in griechischen Internierungslagern feststellen musste.
In Europa gestrandet
Gerade in Mittelmeerländern wie Griechenland oder Malta ist die Situation besonders prekär und angespannt. Auf Grund des Dublin-Abkommens entziehen sich die wohlhabenden Staaten Mitteleuropas ihrer Verantwortung, denn für die Bearbeitung eines Asylantrages ist ausschliesslich das Land der Erstankunft zuständig. Reisen Flüchtlinge trotzdem weiter und stellen in einem anderen Land ihr Asylgesuch, werden sie umgehend mittels Fingerabdrücken und biometrischen Daten identifiziert und zurückgeschafft. Länder wie Griechenland werden so zu Bollwerken der Festung Europa umfunktioniert.
Heute sollen alleine in Athen über 100000 Illegale leben. Viele von ihnen obdach- und mittellos und ohne Perspektive. Die Chance überhaupt ein Asylgesuch in Griechenland stellen zu können, liegt praktisch bei null. Nicht mal da hält Europa, was es verspricht. Kein Wunder, dass die EU Griechenland nicht fallen lassen wird. Die neuen Armenhäuser Europas werden mit den Armen der Welt gefüllt. Da verwundert es auch nicht, wenn im antifaschistisch geprägten Griechenland eine offen neonazistisch auftretende Partei wie die «Goldene Morgenröte» gemäss aktuellsten Umfragen bis zu 18 Prozent Wähleranteil erreicht und mit diesem Ergebnis die dritt stärkste Partei wäre. Europa spielt mit dem Feuer.
Scharfmacher Schweiz
Im innereuropäischen Wettbewerb um die asozialsten Gesetze und besten Vergrämungsstrategien gehört die Schweiz zu den fleissigsten Platzhirschen. Kein Jahr vergeht, in dem die Ausgrenzungsmaschinerie mit neuen Gesetzen nicht noch tödlicher und effizienter gestaltet wird. Kein Jahr, in dem die Schrauben nicht noch mehr angezogen und neue Notstandsgesetze in Kraft gesetzt werden, obwohl ähnliche Gesetze längst schon bestehen. Europa hat sich satt gefressen und kackt moralisch ab. Die Schweiz gehört bei der mörderischen Politik der Wohlstandsverteidigung zu den zentralen Scharfmachern Europas. Die parlamentarische Linke spielt mit und schweigt, wohlwissend dass mit netten Worten über Ausländer derzeit keine Wahlen zu gewinnen sind. Und die SVP ist längst die europäische Gallionsfigur einer extremen Rechten schlechthin, auch wenn sie sich gern als Partei für alle darstellt. Doch falsch ist auch dieses Urteil nicht ganz, zumal die Mitte zunehmend weiter an den rechten Rand rückt.
Und sie kommen trotzdem
Egal wie hoch und tödlich die sichtbaren und unsichtbaren Mauern in und um Europa und in den Köpfen der Menschen sein mögen, die Verdammten dieser Erde, sie werden sich auch weiterhin auf den gefährlichen Weg in die reichen Ländern des Nordens machen – und dafür alles riskieren. Auf diese Realität hat das vereinte Europa bis heut keine gerechte Antwort gefunden. Je undurchlässiger diese Grenzen werden, desto mehr Tote wird es an den Aussenrändern der Festung Europa geben. Und das Perverseste, der tausendfache Tod wird durch Schlagworte wie «Menschenrechte» oder «Kampf gegen Menschen- und Frauenhandel» durchgesetzt und mehrheitsfähig gemacht. Arbeitslose senegalesische Fischer (die EU-Hochseeflotte lässt grüssen), die sich als Fluchthelfer betätigen, werden zu schleppenden Massenmörder hochsterilisiert und junge Frauen, die für etwas Glückseligkeit bereit sind, den eigenen Körper zu verkaufen, zu willenlosen Sklavinnen verklärt, die man ertrinken lässt, damit sie nicht ausgebeutet werden können. Angesichts dieses Zynismus passt der Friedensnobelpreis für die EU vielleicht doch grad wie die Faust aufs Auge. Die Stimmen in den Länder der Verdammten, die ein Ende der Kollaboration mit Europa sowie eine historische Aufarbeitung der Tausenden von Toten an den europäischen Aussengrenzen fordern, sie werden nicht leiser werden. Die neue Zeitrechnung, sie hat längst begonnen.
Auf Wiedersehen, good old Europe.