Nach einer Sauvage im Berner Stadtteil Ausserholligen nahmen sich in der Nacht vom 21. Mai rund 1000 Jugendliche die Strasse. Was folgte, war eine Woche der Hysterie.
«Bärn dräit düre», heisst es im Intro eines Berner Rap-Songs. Und auch wenn ursprünglich nicht so gedacht, trifft dieser Satz den Kern dessen, was die Woche nach dem Tanzumzug in Bern mit sich brachte. Der mediale Diskurs reichte von Billigbier und Revolver über Gurkensalat bis hin zu Überwachung. Aber erst einmal alles von Anfang an. Es war Samstagabend, der 21. Mai. Bereits in den Tagen zuvor war auf Facebook unter einem Pseudonym für die Gruppe Exarchia zum «Interplanetar-Kosmosolidarischen Sauvage-Rave» mobilisiert worden. Zweck des Festes sei es, die Solidarität «mit den von Flüchtenden und AktivistInnen besetzten Häusern in Athen kund zu tun», hiess es seitens der OrganisatorInnen. Seit mehreren Monaten werden im Athener Stadtteil Exarchia, der «Hochburg der Autonomen», Häuser besetzt und als Unterkünfte an Geflüchtete übergeben. «Damit schaffen sie einen Wohn- und Rückzugsraum für Tausende, die ansonsten auf der Strasse leben müssten», schrieben die VeranstalterInnen der Berner Soli-Sauvage in einer Mitteilung. Die Einnahmen des Festes sollten daher nach Griechenland gehen.
Tanz gegen das Migrationsregime
Gegen 21.30 Uhr wurde klar, wohin die Berner Jugend an diesem Abend schwärmen würde: auf die Warmbächli-Brache in Ausserholligen. Mehrere hundert Personen fanden sich im Verlaufe der Nacht auf dem Gelände der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage ein, um zu feiern und Konzerte zu hören. Gegen 01.30 Uhr wurde angekündigt, dass man nicht bleiben würde. Kurz darauf bewegte sich ein Demonstrationszug, begleitet von Musikwagen, in Richtung Stadtzentrum. Beim Kaufmännischen Verband kam es zu einer ersten Blockade durch die Polizei. Um die Konfrontation zu vermeiden, schlug der Demonstrationszug einen anderen Weg ein. Als die Protestierenden in der Länggasse unvermittelt auf eine weitere Polizeieinheit trafen, wurden sie mit Tränengas, Gummischrot und Wasserwerfer zurückgedrängt. Es kam zu Auseinandersetzungen, später löste sich die Demonstration auf. Zurück blieben Blessuren, Schriftzüge an den Wänden und ein paar zerbrochene Scheiben.
Rund 1000 «linksradikale Krawallmacher» hätten in Bern «randaliert», war dann im Nachgang etwa im Blick und in der bernischen Boulevardzeitung, der BZ, zu lesen – wobei offensichtlich sein dürfte, dass das Gros der Menschen, die sich an der Tanzdemonstration beteiligt hatten, weder einen radikalen politischen Hintergrund haben noch militant in Erscheinung getreten sind. Tatsächlich dürfte es vielen gar nicht erst bewusst gewesen sein, was der eigentliche Grund für den Demonstrationszug war: Es ging an diesem Abend nämlich weniger um die eigenen Freiräume, wie etwa beim «Tanz dich frei», sondern «um ein Zeichen gegen die menschenverachtende Migrationspolitik der Schweiz und der EU», wie die OrganisatorInnen in einer Mitteilung auf Indymedia schrieben. Der Hintergrund der Demonstration interessierte die Medien indes erst gar nicht, es wurde schlicht von einem «Saubannerzug» gesprochen, womit einmal mehr ignoriert wurde, dass einem Protest stets reale politische Missstände zugrunde liegen.
Billigbier und Gurkensalat
Stattdessen übte man sich in den darauffolgenden Tagen lieber in Skandalisierung, die zuweilen absurde Züge annahm. So berichtete der Blick am 23. Mai etwa, dass sich die Sauvage-BesucherInnen vor der Demonstration mit «Billigbier aufgeputscht» hätten. «Extremismusexperte» Samuel Althof beschwor derweil das Bild des «brutaler» und «organisierter» werdenden «Linskextremismus» und erklärte gegenüber 20 Minuten, dass man sich in der «Szene» mittlerweile gar mit «Revolvern» bewaffnen würde, wie ihm Kontakte zugetragen hätten.
Als die Diskussion dann ab Tag Drei nach der Tanznacht zur üblichen «Linksextremismus»-Debatte zu verkommen drohte, trumpfte ein gewiefter Journalist der Berner Zeitung mit einer neuen Geschichte auf (die leider mittlerweile grundlegend umgeschrieben wurde und im Original nicht mehr abrufbar ist): So sei das Berner Rapkollektiv «Chaostruppe» an der Sauvage aufgetreten, eine Truppe, die «aus dem Staat Gurkensalat machen» wolle und ausgerechnet am Berner Stadtfest im August einen Auftritt haben würde. Man witterte einen Skandal und bastelte dafür kurzerhand die Schlagzeile: «Stadt Bern gibt militanten Musikern eine Bühne.» Die BZ bewies damit einmal mehr, wie ihr Journalismus zu funktionieren scheint: Man nehme Gurkensalat und mache daraus Militanz – Hauptsache, die Schlagzeile ist «sexy», ob sie der Wahrheit entspricht, interessiert da nicht.
In derselben Manier war auch dem lokalen Fernsehsender «Telebärn» die Geschichte einen Beitrag wert und holte sich dafür Sicherheitsdirektor Reto Nause höchstpersönlich vor die Kamera. Zu welchem Zweck genau, das scheint diesmal sogar dem Politiker ein Rätsel gewesen zu sein und so freute er sich im Beitrag vor allem auf das anstehende Konzert von ACDC. Der erhoffte Nachrichtenstoff für die kommenden Tage blieb somit aus.
Reto Nauses Überwachungstraum
Ein Thema, das Sicherheitsdirektor Nause in der Woche nach der Sauvage weitaus mehr beschäftigte als die Musik der «Chaostruppe», war – einmal mehr – das Thema Überwachung. So forderte er die Bevölkerung etwa dazu auf, «Bilder und Filme von der Demonstration der Polizei zur Verfügung zu stellen». Das weckt Erinnerungen an die Ermittlungen zum «Tanz dich frei» von 2013. Damals wurde das zusammengetragene Fotomaterial von der Polizei zur Fahndung an einem Internet-Pranger veröffentlicht. Ob sich dies nun wiederholen soll, ist offen.
Sicher ist hingegen Reto Nauses Wunsch nach dem ausgebauten Überwachungsstaat: Um die Aktivitäten von radikalen Linken zu unterbinden – oder wie es Nause nennt: «den ausgesprochen gewaltbereiten Kreis der Täter jetzt auszutrocknen» – fordert der Sicherheitsdirektor «alle Fahndungsmethoden zuzulassen, die es gibt und braucht».
Damit sind auch solche gemeint, für die es bis anhin keine rechtlichen Grundlagen gibt und selbst über das geplante Büpf hinausgehen würden. «Das Büpf brauchen wir auf jeden Fall, aber es reicht nicht aus», so Nause. Doch es sei eine rechtliche Grundlage nötig, «um auch bei Fällen von Gewaltextremismus Handys abhören und den E-Mail-Verkehr kontrollieren zu lassen». Hierfür seien die Hürden momentan zu hoch. Um dies zu ändern, sieht Nause den Bund gefordert. So müsse sich etwa der Bundesnachrichtendienst dieser «Problematik» annehmen. Darüber hinaus, soll auch die Polizei «die nachrichtendienstlichen Möglichkeiten erhalten, die sie braucht». Unterstützung erhofft sich der Berner CVP-Politiker dabei von seinen Kollegen auf kantonaler und kommunaler Ebene. So soll das Thema an der kommenden Konferenz der Polizeidirektoren behandelt werden. Da klingt Gurkensalat doch gleich noch viel verlockender.
Aus dem vorwärts vom 3. Juni 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!