Wir sind alle Flüchtlinge

Refugees-welcome-Still ist es im Lande der Eidgenossen. Still, im Vergleich zu den wenigen Wochen, als sich die so genannte Zivilgesellschaft mobilisierte. Ach, wie wurde sie gelobt. Nicht ganz zu unrecht, das muss man zugeben. Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich gegen die Ausschaffungs-Initiative der SVP auf die Hinterbeine gestellt. Schliesslich zielte der Angriff der PopulistInnen erstens direkt auf den Rechtsstaat, und zweitens wären vor allem Secondos besonders stark vom rassistischen Vorhaben der SVP betroffen gewesen. Also Menschen, die schon lange hier in der Schweiz leben oder gar hier geboren wurden, und das war der so genannten Zivilgesellschaft doch zu viel. Immerhin. Aber weiss die so genannte Zivilgesellschaft, dass am 5. Juni wieder eine Abstimmung über die Bühne geht, die wieder den Rechtsstaat und wieder ganz direkt Menschen betrifft? Es scheint nicht der Fall zu sein, wohl weil es um den Rechtsstaat für Flüchtlinge geht. Rechtsstaat ist nicht gleich Rechtsstaat für Alle, und Mensch ist nicht gleich Mensch bei allen – die Gefahr, ganz bitterbös zynisch zu werden, ist verdammt gross! Hinzu kommt, dass man als so genannte Zivilgesellschaft am 5. Juni eh nur alles falsch machen kann, also schweigt sie lieber. Denn es stellt sich wieder einmal die Frage nach dem «kleineren Übel» – falls man da überhaupt von einem «kleinen Übel» sprechen kann: Sagt man Ja, stimmt man der Verkürzung der Rekursfristen, den Bundeszentren und weiteren Verschärfungen zu. Sagt man Nein, kippt man die kostenlose Rechtsberatung für Flüchtlinge und ein paar weitere positive Punkte aus der Revision. Legt man leer ein, oder stimmt gar nicht ab, ist dies sicher eine hübsche Art zu protestieren gegen diese Wahl, die gar keine ist. Aber gelöst hat man damit das Dilemma bei Weitem auch nicht.

Am diesjährigen 1. Mai in Zürich wird unter dem Slogan «Wir sind alle Flüchtlinge» demonstriert. In diesem Jahr sind bereits mehr als 400 Menschen an den Aussengrenzen Europas gestorben, und in den letzten Jahren ist das Mittelmeer zum grössten Friedhof der Welt geworden. So ist in der diesjährigen Zeitung des Zürcher 1.Mai-Komitee zu lesen: «Der Slogan soll die Solidarität mit allen Menschen auf der Flucht zum Ausdruck bringen. Er ist eine Kritik an der europäischen Grenzpolitik, die Flüchtlinge abweist und kriminalisiert.» Und weiter: «Wir fordern ein Umdenken und die Aufhebung aller Grenzen und Mauern! Am 1. Mai zeigen wir Solidarität! Wir kämpfen für eine gemeinsame Welt!» Dem kann und muss man sich anschliessen – ohne Wenn und Aber! Doch der Slogan geht weiter, als «nur» Solidarität zu zeigen. Er ist auch – ja sogar vor allem – die Aufforderung, die Grenzen und Mauern in den eigenen Köpfen zu sprengen und nicht bei der einfachen, wenn auch wahren, Feststellung stehen zu bleiben, dass «Wir» ja keine Flüchtlinge sind! Der Slogan fordert auf, Grenzen und Mauern zwischen dem «Wir» und «den Anderen», den Flüchtlingen, den Fremden zu überwinden. Er fordert auf, sich die Frage zu stellen, wer überhaupt das «Wir» definiert, anhand von was das «Wir» definiert wird und wer darüber bestimmt, wer zu diesem «Wir» dazugehören darf und wer davon ausgeschlossen wird. Oder ganz einfach: Wer ist «Wir» und warum? Dann wäre es sinnvoll, nicht hier stehen zu bleiben. Sich zu überlegen, ob es für die Zukunft eine andere Definition vom «Wir» geben kann, ja gar geben muss. Ein «Wir», das zum Beispiel nicht über ein Stück Papier wie etwa einen Pass oder eine Aufenthaltsbewilligung geregelt und bestimmt wird. Ein «Wir», das sich nicht in Einheimischen und AusländerInnen spalten lässt. Ein «Wir», in dem alle einen Platz haben, die zu diesem «Wir» dazu gehören wollen. Ein «Wir», das Werte wie Solidarität, Respekt und Toleranz als Grundlage hat. Der Slogan «Wir sind alle Flüchtlinge» ist mehr als «nur» ein Slogan, er ist die simple Aufforderung, nicht stehen zu bleiben, weiterzudenken und zwar über das aktuell Bestehende und Herrschende hinaus. «Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen», lehrt uns Rosa Luxemburg. In diesem Sinnen sollten wir am 1. Mai kurz inne halten und überlegen, wie ein «Wir» entstehen kann, das gemeinsam gegen die Barbarei des Kapitalismus kämpft!

 

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«Heuchlerisch, mörderisch und diskriminierend!»

flüchtlingeErneut steht in der Schweiz eine Abstimmung über das Asylgesetz vor der Türe. Eine Abstimmung, die für viele Linke ein Dilemma ist, da es einmal mehr die «Wahl» zwischen dem kleineren Übel ist – falls man überhaupt von einem kleinen Übel reden kann. Der «vorwärts» sprach mit Amanda Ioset (26), seit zwei Jahren Geschäftsführerin von Solidarité sans frontières (Sosf), über die Abstimmung sowie über die schweizerische und europäische Asylpolitik.

Beginnen wir mit der Aktualität: Am 5. Juni wird über die Asylgesetzrevision abgestimmt. Man hört und liest bisher wenig darüber. Um was geht es konkret?

Es ist das Ergebnis der «Neustrukturierung» des Asylwesens, die offiziell das Verfahren beschleunigen soll und in drei Teilen, praktisch in drei verschiedene Pakete, aufgeteilt wurde. Das erste Paket mit der Einschränkung des Flüchtlingsbegriffs und des Familiennachzugs wurde im Dezember 2012 vom Parlament verabschiedet. Dagegen wurde kein Referendum ergriffen. Diese Vorlage ist von der Abstimmung vom 5. Juni daher nicht betroffen. Das zweite Paket wurde vom Parlament im September 2015 gutgeheissen. Es beinhaltet die Kürzung der Rekursfristen und die Konzentration der Verfahrensabläufe in den grossen Bundeszentren für Asylsuchende. Insgesamt ist es daher eine Verschärfung des Asylgesetzes. Es sind jedoch auch positive Punkte vorgesehen: Zu nennen ist die kostenlose Rechtsberatung, die den Flüchtlingen in den Bundeszentren und am Flughafen zur Verfügung stehen. Weiter zu nennen sind die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Minderjährigen, die ohne Eltern oder Begleitung von Erwachsenen auf der Flucht sind, sowie die Pflicht der Kantone, Kinder und Jugendliche einzuschulen, die sich in den Bundeszentren befinden. Das dritte Paket beinhaltet die «dringlichen Massnahmen» im Asylgesetzt, die im Juni 2013 von den Stimmberechtigten angenommen wurden, nachdem das Referendum dagegen ergriffen wurde. Diese «dringlichen Massnahmen» sollen nun fester Bestandteil des Asylgesetzes werden. Dabei ist zu unterstreichen, dass die «dringlichen Massnahmen» auch bei einem Nein am 5. Juni in Kraft bleiben werden und zwar bis 2019.

Sosf empfiehlt ein «kritisches Ja» zur Revision. Warum?

Die Linke hat gegen diese Revision kein Referendum lanciert. Und soweit mir bekannt ist, wurde diese Option nicht mal ernsthaft geprüft. Der Abstimmungskampf gegen die «dringlichen Massnahmen», bei dem wir gerade mal 21 Prozent erreicht haben, hat uns geschwächt. Für eine Organisation, die sehr beschränkte finanzielle Mittel zur Verfügung hat, ist es schwierig regelmässig ein Referendum zu lancieren und dies erst noch im Wissen, dass keine Chancen auf einen Sieg bestehen. Als die SVP das Referendum ergriff, über das am 5. Juni abgestimmt wird, hatten wir intern lange Diskussionen darüber, ob wir es unterstützen sollen. Es kam schon vor, dass wir die gleiche Abstimmungsparole wie die SVP hatten. Dies war bei der Ratifizierung des Schengen/Dublin-Abkommens von 2004 der Fall. Wir waren die einzige linke Organisation, die es wagte, Nein zum Abkommen zu sagen. Doch heute ist die Ausgangslage eine völlig andere: Wir müssen in Betracht ziehen, was die Folgen eines Neins wären. Eines Neins, das hauptsächlich als ein Sieg der SVP interpretiert würde. Und wir können davon ausgehen, dass das Parlament sehr schnell eine neue Revision verabschieden würde, die in den Grundzügen gleich bleibt (und somit auch die «dringlichen Massnahmen» beibehält), aber auch von der SVP mitgetragen würde. Das heisst konkret, dass die kostenlose Rechtsberatung kippen würde, die eine der ältesten Forderung von schweizerischen Flüchtlingsorganisationen ist.

Von links wird eure Position teilweise nicht verstanden, gar kritisiert.

Ehrlich gesagt, unsere Position hat keine grosse Kritik ausgelöst. Der Diskussionsprozess, der unserem Ja zugrunde liegt, ist für die Menschen nachvollziehbar, auch wenn nicht alle zum selben Schluss kommen wie wir. Wir stehen wirklich vor einem Dilemma, das einmal mehr die Grenzen der «direkten Demokratie» aufzeigt, auf welche die Schweiz so stolz ist: Wir sind gezwungen, uns für das «kleinere Übel» zu entscheiden und somit widerspiegelt keine der Möglichkeiten, die wir am 5. Juni haben, unsere Überzeugung. Doch innerhalb der Linken gibt es eine Art Konsens: Egal welche Parole für die Abstimmung vom 5. Juni beschlossen wird und unabhängig des Ausgangs der Abstimmung, muss in den kommenden Jahren weiterhin gegen die Verschärfung im Asylwesen gekämpft werden. Für Sosf sowie für mich persönlich ist es daher das Wichtigste aufzuzeigen, was mit dieser Revision auf dem Spiel steht, welche Probleme und offenen Fragen damit verbunden sind und sein werden.

Was sind die drei grössten, aktuellen Herausforderungen für Sosf?

Der Kampf gegen das Dublin-Abkommen hat im Moment Priorität. Es ist schlicht untragbar, dass die reiche Schweiz ihre Verantwortung nicht wahrnimmt und Flüchtlinge wieder in andere europäische Länder abschiebt. Wir wollen, dass die Flüchtlinge selber entscheiden können, in welchem Land sie das Asylgesuch stellen können und zwar unabhängig der Gründe, die sie dafür haben. Weiter fordern wir eine würdige Unterkunft für alle Menschen, die Schutz benötigen. Gemeint ist hauptsächlich die immer mehr systematisch werdende Unterbringung von Flüchtlinge in unterirdischen Zivilschutzanlagen. Wir widersetzen uns der Behauptung, dass es dazu keine Alternative gibt. Ich komme aus dem Kanton Neuenburg, in dem es weiterhin vier Bunker mit 250 Plätzen gibt, obwohl dies als eine temporäre, dringliche Massnahme definiert und der Bevölkerung entsprechend verkauft wurde. Ich kann aber alleine in der Stadt Neuenburg drei Beispiele von leerstehenden, städtischen Häusern nennen, die für die Unterbringung von Flüchtlingen benutzt werden könnten. Man muss nur die Augen öffnen, um zu sehen, dass es Lösungen gibt. Schliesslich ist es dringend nötig, Wege zu schaffen, welche es den Flüchtlingen erlaubt, sicher in die Schweiz zu gelangen. Dabei sind mehrere Möglichkeiten denkbar. Eine davon ist die Wiedereinführung des Rechts, in den Schweizer Botschaften das Asylgesuch stellen zu können. Auch die Festsetzung von Kontingenten ist denkbar: Im Jahr 2015 haben Sosf und andere Organisationen vom Bundesrat gefordert, dass 100 000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen werden. Aktuell läuft eine Petition der Gewerkschaften, die eine Aufnahme von 50 000 Flüchtlingen verlangt. Wir unterstützen sämtliche Initiativen, die in solche und ähnliche Richtungen gehen.

Mit welchen drei Worten bringst Du die Asylpolitik der Schweiz auf den Punkt?

Heuchlerisch, mörderisch und diskriminierend! Heuchlerisch, weil die offizielle Schweiz offen und solidarisch ist, nicht für Menschen, die auf der Flucht sind, sondern für Grosskonzerne und Multis, die ganze Regionen destabilisieren, Waffen in Kriegsgebiete exportieren und Rohstoffe plündern. Der Slogan einer Veranstaltung, die kürzlich in Lausanne stattfand, bringt diese Heuchelei bestens auf den Punkt: «Keine Grenzen für die BörsenmaklerInnen. Barrieren für die MigrantInnen?» Mörderisch, weil die Opfer der schweizerischen und europäischen Asylpolitik nicht nur im Mittelmeer, auf der Balkanroute oder an den Barrieren von Ceuta oder Melilla zu finden sind. Wir finden sie auch in den Zellen der Ausschaffungsgefängnisse, an unseren Flughäfen und in unseren Flugzeugen bei den Ausschaffungsflügen. Kürzlich haben einige Personen gar Selbstmord begangen, um ihre Ausschaffung zu verhindern… Diskriminierend, weil die Asylsuchenden nicht die gleichen Rechte haben wie andere Menschen hier in der Schweiz. Sie bekommen weniger Sozialhilfe und haben in einer ersten Phase des Asylverfahrens nicht das Recht zu arbeiten.

Verlassen wir die Schweiz. An der so genannten Aussengrenze Europas ist die Situation dramatisch. Was tut das Sosf für diese Flüchtlinge?

Wir rufen die verantwortlichen Behörden der Schweiz dazu auf, eine Reihe von Massnahmen zu ergreifen: Erstens muss die Schweiz die Flüchtlinge an der europäischen Aussengrenze unterstützen. Zweitens muss unser Land die Ausschaffungen wegen dem Dublin-Abkommen beenden, insbesondere in Länder an der Aussengrenze Europas und entlang der Balkanroute. Dann erwarten wir von der offiziellen Schweiz, dass sie das Abkommen zwischen der EU und dem Regime von Erdogan verurteilt. Ein Abkommen, das die systematische Rückschaffung von schutzbedürftigen Menschen in die Türkei erlaubt. Es ist eine echte Schande für Europa, das von sich behauptet, die Menschenrechte zu respektieren.

Was können wir als Einzelpersonen für diese Menschen tun?

Als erstes Mitglied von Sosf werden! Es ist wichtig, sich hier in der Schweiz zu organisieren, um die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse zu verändern. Dies unter anderem weil unser Land Bestandteil der Ausgrenzungspolitik an den europäischen Grenzen ist, zum Beispiel durch ihre Beteiligung an Frontex. Dann gibt es natürlich auch die Möglichkeit, sich Organisationen anzuschliessen, die den Flüchtlingen direkt und konkret vor Ort helfen. Und schliesslich ist es wichtig, auf allen Ebenen gegen Vorurteile und Rassismus zu kämpfen. Dies beginnt im unmittelbaren, persönlichen Umfeld, in den Diskussionen, die man mit den Menschen führt. Die Klischees gegenüber Muslimen, Flüchtlingen und AusländerInnen im Allgemeinen müssen abgebaut werden. Und Folgendes ist für mich extrem wichtig, auch wenn es eine Arbeit ist, die einen sehr langen Atem braucht: Wir müssen dahin arbeiten, dass sich die Menschen hier von ihrer westlichen Sichtweise entfernen, um sich so näher bei den «Anderen» zu fühlen.

Weitere Infos und Mitglied werden bei Sosf: www.sosf.ch

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Kuhschweiz, Köppel, Kapitalismus

svpDie SVP inszeniert sich gerne als Opposition und als einzig legitime Vertreterin des «Volkswillens». Doch welche Politik betreibt die Partei tatsächlich? Und welche Mittel setzt sie für ihre Zwecke ein? Eine Analyse.

Im heutigen Europa können wir zwei gegensätzliche Tendenzen erkennen. Auf der einen Seite kämpfen Menschen solidarisch für ein besseres Leben, indem sie die Grenzzäune niederreissen, für Bleiberecht kämpfen oder diese Bewegung praktisch oder politisch unterstützen. Auf der andern Seite fordern Menschen die Schliessung der Grenzen und für die Verschärfung von Asylgesetzen. Damit verleihen sie Stacheldrahtrollen an den Grenzen, NATO-Einsätzen gegen Flüchtende und Unterbringung in Lagern und Bunkern eine stabile Legitimation. Die erstgenannten Kämpfe gegen die Abschottungs- und Entrechtungspolitik zu unterstützen, muss also auch heissen gegen die Fans dieser Politik aktiv zu werden. Indem wir uns der Entsolidarisierung entgegenstellen, können wir dafür sorgen, dass Refugees in Europa wirklich willkommen sind und gemeinsam den Kampf um das gute Leben für alle führen. Das Rückgrat der rechten Bewegungen bilden in vielen Teilen Europas rechtspopulistische Parteien und Organisationen. Sie stehen für nationalistische, rassistische und antifeministische Hetze. Ihre Strategie ist dabei immer ähnlich: Charismatische Leaderfiguren mobilisieren die vermeintliche Volksgemeinschaft gegen «die Anderen», etwa AusländerInnen, Homosexuelle oder «VolksverräterInnen». Damit leisten sie der neoliberalen Politik des Sozialabbaus, Lohnkürzungen und Prekarisierung nicht nur Schützenhilfe, indem sie die Solidarität der Betroffenen verhindern, sondern machen sie gleich zu ihrem Programm: SozialschmarotzerInnen können ihrer Meinung nach nicht hart genug angefasst werden. In der Schweiz wird diese Politik von der SVP betrieben. Damit ist sie zur stärksten Kraft im Parlament aufgestiegen und sorgt massgeblich dafür, dass sich das gesellschaftliche Klima nach rechts bewegt. Derart erfolgreich ist sie auch Vorbild für viele RechtspopulistInnen in ganz Europa. Es lohnt sich also für die radikale Linke, sich die SVP genauer anzuschauen und sich Gegenstrategien zu überlegen.

Volksgemeinschaft statt soziale Sicherheit

Politik und Ideologie der SVP lassen sich unter zwei grossen Themen fassen: Eine neoliberale Agenda und ein völkischer Nationalismus. Das Interesse an einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ist dabei nicht zufällig: Die SVP ist die Partei des Grosskapitals, was nur schon ein Blick auf die Führungsriege zeigt. Da sitzen Grossindustrielle neben BankerInnen und MilliardärInnen. BäuerInnen oder KleinunternehmerInnen sind höchstens StatistInnen für die Kameras. Nicht zuletzt bei der Rochade in der Parteileitung vor wenigen Wochen ist einmal mehr deutlich geworden, wie autoritär die Partei von der Clique rund um Christoph Blocher geführt wird. Für das Proletariat heisst das nichts Gutes. Die neoliberale SVP-Politik bedeutet eine Senkung der Löhne und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Mindestlöhne, Kündigungsschutzmassnahmen und sonstige Regelungen im Interesse der Lohnabhängigen sollen abgebaut oder abgeschafft werden. Gleichzeitig will die Partei den Sozialstaat schleifen. Dies bedeutet nicht nur Kürzungen von Sozialhilfe oder IV- und AHV-Renten, sondern auch Leistungsabbau und Privatisierungen bei Bildung, Gesundheit und anderen öffentlichen Bereichen. Im Hintergrund dieser Politik steht die Drohung «Pass nur auf, dass du nicht absteigst!». Für die VerliererInnen des kapitalistischen Hauen und Stechens propagiert die SVP die Volksgemeinschaft. Dabei wird dieses Volk ethnisch konzipiert und essentialistisch auf Abstammung und unveränderliche Schweizer Werte und Kultur zurückgeführt. Die SVP heroisiert «den Schweizer» und beschwört permanent seine Gefährdung durch äussere und innere Feinde. Auf dieser Basis entwickelt sich die rassistische Politik der SVP. So inszeniert sie gekonnt einen Nützlichkeitsrassismus und verknüpft diesen mit ihrer neoliberalen Politik. Die Masseneinwanderungsinitiative ist diesbezüglich ein gutes Beispiel. Die SVP-Kampagne zielte auf stumpfe Überfremdungsängste und behauptete, erreichen zu wollen, dass nur die ökonomisch nützlichen AusländerInnen auf den Arbeitsmarkt kommen. Gleichzeitig wurde auch der Spagat zwischen ökonomischer Rationalität und reaktionärer Ideologie deutlich, den die Partei immer wieder vollziehen muss. So entspringen die Initiativen des Egerkinger Komitees (Minarettverbot, Burkaverbot) eindeutig einem antimuslimischen Rassismus ohne versteckte ökonomische Agenda.

SVP, Krise, Normalzustand

Die Kritik an der SVP kann nicht bei der Partei und ihren ExponentInnen aufhören. Die Partei und ihre nationalistische Hetze sind eine Zumutung, die bekämpft werden muss. Allerdings ist diese Zumutung nur ein Ausdruck des kapitalistischen Normalbetriebs. Und die Hetze ist nicht etwa «unschweizerisch», wie das gerne behauptet wird, sondern gute bürgerliche Tradition, ohne die es diese Kuhschweiz nicht geben würde. Die angesprochenen Massnahmen zur Senkung von Löhnen und Lohnnebenkosten sowie Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse sind ökonomisch gesehen eine Verbesserung der Ausbeutungsbedingungen. Solche entpuppen sich in der Krise als eine Notwendigkeit zur Steigerung der Profite. Der Staat muss dieser ökonomischen Logik in doppelter Weise folgen: Er ist auf eine brummende Wirtschaft angewiesen, denn das gibt Steuereinnahmen. Diese Wirtschaft brummt aber nur, wenn die Profitrate stimmt, die Unternehmen also Gewinne einfahren können. Allzu hohe Ansprüche der ArbeiterInnen sind da eher hinderlich und müssen bekämpft werden. Aber auch Steuern drücken auf die Profite, weshalb sie gesenkt werden müssen. Das bedeutet für den Staat: sparen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Regierungsmassnahmen zur «Ankurbelung der Wirtschaft» immer als Angriffe auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen daherkommen und es nicht wirklich einen grossen Unterschied macht, wer gerade am Ruder sitzt. Die neoliberale Agenda der SVP ist also keineswegs nur dem privaten Profitinteresse ihrer Führungsriege geschuldet, sondern vor allem ihrer Sorge um das Staatswohl in Anbetracht ökonomischer Notwendigkeiten von Krise und Standortkonkurrenz. Diesem Staatswohl sind längst alle Schweizer Parteien verpflichtet. Es ist politischer Konsens, dass alle nur das Beste für dieses Land wollen. Der Abstimmungskampf um die Durchsetzungsinitiative war ein Paradebeispiel dafür: Schweizer Werte wo man hinschaut und überall die Vorwürfe an den Gegner, ganz und gar unschweizerisch zu sein.

Rassismus à la Suisse – wer hat‘s erfunden?

Die rassistische Hetze hat die SVP nicht erfunden. Hetze gegen «die Fremden» hat in der Schweiz lange Tradition, denken wir nur zum Beispiel an die «Überfremdungsinitiativen» seit 1970. Während es die SVP schon seit ca. 100 Jahren gibt, haben sie seit den 1990er Jahren unter ihrem rechtspopulistischen Flügel um die Milliardäre Christoph Blocher und Walter Frey schweizweit etwa 20 Prozent an Wähleranteil gewonnen. Dabei haben sie erfolgreich ein bereits vorhandenes rassistisches Potential mobilisiert und organisiert und diversen Kleinparteien und ausserparlamentarischen Organisationen das Wasser abgegraben. Ausländerfeindliche Initiativen haben bereits seit den 1970er-Jahren jeweils zwischen 23 und 48 Prozenz der Stimmen erhalten. Davon konnten ihre InitiantInnen aber bei Wahlen nur selten profitieren. Die RechtspopulistInnen in der SVP hatten hier den Vorteil, dass sie auf bestehende Parteistrukturen zurückgreifen konnten, dass sie als Teil der Konkordanz akzeptiert war und daher nicht, wie in anderen Ländern, ausgeschlossen wurde und – last but not least – dass sie über sehr viel Geld verfügten.

Reaktionäre Ideologien – wie sie die SVP stark macht – sind Ausdruck des Kapitalismus. Einerseits bilden sie den Kitt, der eine in Klassen gespalten Gesellschaft zusammenhält. Andererseits ist es für ein profitables Funktionieren des Kapitalismus von Vorteil, dass es verschiedene Arten von Arbeitskräften gibt, zum Biespiel gut ausgebildete FacharbeiterInnen, billige HandlangerInnen und solche, die gratis Reproduktionsarbeit verrichten. Rassistische Diskriminierungen sind demnach nicht nur ideologischer Natur, sie haben auch eine materielle Basis. Sie sind eng mit der kapitalistischen Hierarchie verwoben. Wenn Reaktionäre also behaupten, dass AusländerInnen nun mal anders seien oder Frauen an den Herd gehören, naturalisieren sie damit die kapitalistische und patriarchale Arbeitsteilung. Somit ist ein Ende der reaktionären Ideologien nur mit der Überwindung ihrer materiellen Basis zu haben. Also weg mit Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus.

Nationalismus ist keine Alternative – die befreite Gesellschaft schon

Die SVP organisiert das reaktionäre Potential derart erfolgreich, weil sie sich als Oppositionspartei, als einzige Vertreterin des Volkswillens inszeniert. Dazu gehört dessen regelmässige Mobilisierung, nicht nur gegen unten (AusländerInnen, SozialhilfbezügerInnen usw.) sondern auch gegen die «Classe politique», «fremde Richter» und «heimatmüde» ParlamentarierInnen. Denn, wie es ihr Führer Christoph Blocher ausdrückt: «Alle sind gegen die Mehrheit des Volkes.»

Dass ein Teil der SVP-Mobilisierung über die direkte Demokratie stattfindet, erschwert ein politisches Agieren, wenn man nicht beim nationalen Parlaments-Zirkus mitmachen will. Wir müssen die Abstimmungskämpfe der SVP als zentrales Moment der nationalistischen Mobilisierung verstehen. Das bedeutet, Folgendes nicht zu vergessen: Das kalte Klima der Reaktionäre kommt nicht nur aus Bundesbern, sondern formiert sich auch in den Wohlfühlzonen der SVP-Volksgemeinschaft: in der Agglo und den ländlichen Gemeinden, im Wirtshaus und in den Vereinen, am «Buurezmorge» und am SVP-Fest. Verlassen wir also auch unsere Wohlfühlzonen und intervenieren dort, wo sich die «demokratische Mitte» und der völkische Nationalismus treffen.

Gleichzeitig sollten wir nicht müde werden, die Folgen der neoliberalen SVP-Agenda aufzuzeigen. Die konkreten Lebensbedingungen der unteren Schichten und der AusländerInnen verschärfen sich, die Ellbogengesellschaft festigt sich. Dadurch wiederum fällt der völkische Nationalismus à la SVP vermehrt auf fruchtbaren Boden. So können sich ihr Spiel mit der Angst und ihre Hetze sowie ihre Disziplinierung von ArbeiterInnen durchsetzen. Hier müssen wir die Verantwortlichen und ihre Logik angreifen und dabei Ansätze von solidarischen Strukturen und Klassenbewusstsein bilden. Der breite Angriff der SVP auf viele Menschen ist dabei auch der Ausgangspunkt, um Kämpfe zu verbinden. Eine selbstbewusste radikale Linke sollte sich darum bemühen, als Gegenbewegung wahrnehmbar zu sein. Gegenüber der SVP heisst das, ihr «in der Breite» auf die Pelle zu rücken und ihrer Hetze dabei eine Perspektive jenseits von Nation und Kapitalismus entgegenzustellen. Kreative und anschlussfähige Aktionen aus der linksradikalen Werkzeugkiste wären dabei kein schlechter Anfang.

 

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Arbeit – Bewegung – Geschichte

08_Arbeitskampf FiatDie Schweiz spielte keine unwichtige Rolle in der Geschichte der linken ArbeiterInnenbewegung. Die Zimmerwalder-Konferenz von 1915, zu der die sozialistischen GegnerInnen des 1. Weltkriegs zusammen kamen, ist ein bekanntes Beispiel. Kaum bekannt ist hingegen, dass die Schweiz vor über 40 Jahren auch eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung der linken Betriebsintervention gespielt hat.

Anfang der 1970er Jahre wurde in Zürich ein internationales Koordinationsbüro für die länderübergreifende Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfe aufgebaut. Getragen wurde es von Gruppen der radikalen Linken, die durch den Aufbruch nach 1968 entstanden sind und sich weder der sozialdemokratischen noch der traditionskommunistischen Richtung zuordneten. Neben dem Pariser Mai 1968 war auch der italienische Herbst 1969 für diese Linke ein wichtiger Bezugspunkt. Denn in Italien beteiligten sich viele ArbeiterInnen im ganzen Land an Betriebsbesetzungen, Streiks und militanten Demonstrationen. Dort war der Funke des revolutionären Aufbruchs tatsächlich übergesprungen, von den Hochschulen auf die Fabriken. Linke AktivistInnen sowie kämpferische ArbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern verfolgten die Entwicklung mit grossem Interesse. «In der historischen Forschung zu den Streikbewegungen und Arbeitskämpfen der 1960er und 1970er ist die internationale Zusammenarbeit von Strömungen und Gruppen, die sich an diesen Auseinandersetzungen in der Fabrik orientieren, noch wenig beachtet worden», schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange in der aktuellen Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien.

Die Prophezeiung des heraufziehen den Postfordismus

Das Schwerpunktthema lautet «Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988». Dietmar Lange, der gemeinsam mit Fabian Bennewitz, Ralf Hoffrogge und Axel Weipert die Zeitschrift herausgibt, forscht seit längerem zur Geschichte der linken Betriebsinterventionen der 1960er und 1970er Jahre. Dabei hat er auch einen Bericht über eine Internationale ArbeiterInnenkonferenz im April 1973 ausgegraben, die in Paris stattgefunden hat. Sie wurde wesentlich von dem Zürcher Koordinationsbüro vorbereitet und widmete sich den Klassenauseinandersetzungen in der Automobilindustrie. Anwesend ArbeiterInnen aus den wichtigsten Automobilkonzernen wie BMW, VW, Fiat, Opel, Alfa Romeo, Renault und Citroen. Aus der Schweiz waren Beschäftigte von Saurier vertreten. Auch verschiedene Linke aus Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien nahmen an der Konferenz teil. Aus der Schweiz waren AktivistInnen der Gruppe Klassenkampf nach Paris gekommen, die sich aus einer maoistisch orientierten Jugendbewegung in der italienischen Schweiz entwickelt hatte und Anfang der 70er Jahre ihren Einfluss auf die deutschsprachige Schweiz ausdehnte. Mitte der 70er Jahre löste sich die Gruppe auf. In dieser Zeit war die linke Betriebsintervention in eine Krise geraten und auch das Zürcher Koordinierungsbüro stellte die Arbeit ein. Die Vorbereitung der Pariser Konferenz war ihre wichtigste Arbeit. «Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Grossteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel oder löste sich auf», schreibt Dietmar Lange. In einem Interview mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der damals an der linken Betriebsintervention beteiligt war, spürt Lange den Gründen für den schnellen Zusammenbruch der transnationalen Solidaritätsarbeit nach, der zu einem langen Abschied der linken Bewegung vom Proletariat führen sollte. Roth erinnert sich an warnende Stimmen auf der Konferenz, die berichteten, wie durch Konzernstrategien das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. «Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses», so Roth. Er begründet auch, warum das Koordinierungsbüro, dass neben der Gruppe Klassenkampf auch von der Berner und St. Gallener Ortsgruppen der Proletarischen Front getragen wurden, in der Schweiz errichtet wurde: «Die Standortwahl lag nicht nur aus geographischen Gründen nahe, sondern hatte mit der damals leider noch sehr seltenen Mehrsprachigkeit der schweizerischen Genossinnen und Genossen zu tun».

Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen

Das Koordinierungsbüro habe sich zum Ziel gesetzt, die Selbstorganisation der am meisten marginalisierten Sektoren der europäischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Das ist eine sehr aktuelle Zielsetzung. Schliesslich gibt es zurzeit eine linke Betriebsintervention bei Amazon. Es gab bereits mehrere Treffen von Beschäftigten von Amazon-Werken in Deutschland und Polen. Deshalb weckt das Schwerpunktthema der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte nicht nur historisches Interesse. Die HerausgeberInnen weisen darauf hin, dass sich «in den hier publizierten Texten zahlreiche Aspekte finden, die Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen aufweisen». Nelly Tügel untersucht in ihren Beitrag, wie der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf gewerkschaftliche Aktivitäten von ArbeitsmigrantInnen in Westdeutschland reagierte, die oft noch Klassenkampftraditionen einbrachten, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden waren. «Zum einen erging die Aufforderung an die Einzelgewerkschaften, jeweils einen Kollegen zu benennen, der in einen der Abteilung Organisation unterstellten Unterausschuss für die Betreuung ausländischer Kollegen entsandt werden sollte. Zum anderen wurde beschlossen, Materialen über die kommunistische und faschistische Unterwanderung durch ausländische Arbeitnehmer zusammenzustellen und allen Bundestagsabgeordneten zuzustellen».

Sehr empfehlenswert sind auch die Beiträge in der Zeitschrift, die sich nicht mit dem Schwerpunktthema befassen. Auch dabei wird deutlich, dass die Schweiz in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung eine wichtige Rolle spielte. So berichtet die Historikerin Miriam Sachse von einem Symposium, das sich mit der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern befasste. Dabei betonte die Präsidentin der Schweizer Robert Grimm Gesellschaft, Monika Wick aus Zürich, dass die Konferenz, die in klarer Opposition zum sozialdemokratischen Kurs des Burgfriedens stand, auch männliche Unterstützer hatte. Dazu gehörte in der Schweiz Robert Grimm.

Arbeit – Bewegung – Geschichte.
Zeitschrift für historische Studien, Heft 1/2016, 230 Seiten, Bezug: www.metropol-verlag.de

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Kampf um die Entwicklungshilfe

400- 2Die rechtsbürgerlich dominierte Finanzkommission des Nationalrats will die Entwicklungshilfe bis 2020 um über einen Viertel kürzen. Doch gegen den drohenden Kahlschlag regt sich Widerstand. So haben am 30. März rund drei Dutzend Nichtregierungsorganisationen die Kampagne «Weckruf gegen Hunger und Armut» lanciert.

Am 22. März gab die Finanzkommission des Nationalrats bekannt, dass sie beabsichtigt, die öffentlichen Ausgaben für die Entwicklungshilfe von 0,5 Prozent auf 0,4 Prozent des Bruttoinlandeinkommens zu senken. Ausgenommen von dieser Sparmassnahme wäre die humanitäre Direkthilfe bei Krisensituationen. Geht es nach dem Willen der Finanzkommission, sollen in den nächsten vier Jahren noch 9 585 Millionen Franken in die internationale Zusammenarbeit fliessen, während der Bundesrat ursprünglich noch von 11 100 Millionen Franken ausging. Zwar fiel der Entscheid in der Finanzkommission mit 13 zu 12 Stimmen äussert knapp aus, zeigt aber, dass aufgrund des Rechtsrutsches im Parlament künftig mit einem kräftigen Wind der sozialen Kälte aus Bundesbern zu rechnen ist.

Keine Entwicklungshilfe ohne Migrationspartnerschaft?

Ursprünglich fasste die vorbereitende Subkommission gar eine Reduktion der Entwicklungshilfe auf 0,3 Prozent ins Auge, was etwa 7 465 Millionen Franken entsprechen würde. Das würde eine Halbierung der Ausgaben für die eigentliche Entwicklungshilfe im Ausland bedeuten. Besonders umstritten ist die Hilfe für Asylsuchende im Inland, die surrealerweise auch zu den Entwicklungsausgaben gezählt und bei einer anvisierten Reduktion auf 0,4 Prozent fast ein Drittel der Gelder für die Entwicklungshilfe «auffressen» würde. Im Jahr 2014 machten diese mit 456,3 Millionen Franken immerhin 14 Prozent der öffentlichen Entwicklungsausgaben aus. Die Ausgaben für den Asylbereich dürften in den nächsten Jahren weiter zunehmen, Einsparungen hingegen sind in diesem Bereich grundsätzlich wohl kaum möglich. Um die Quote auf 0,4 Prozent zu senken, wären deshalb jährliche Einsparungen von rund 700 Millionen Franken nötig. Aufgrund dieser unschönen Entwicklung überrascht es wenig, dass nun die Hilfswerke und betroffenen Nichtregierungsorganisationen auf die Barrikade gehen.

Zwar dürften es die radikalen Kürzungsvorschläge der Finanzkommission im Nationalrat nicht einfach haben, eine Mehrheit zu finden, jedoch werden die Stimmen aus dem bürgerlichen Lager und der Zivilgesellschaft lauter, die etwa die Verknüpfung von Entwicklungshilfe mit Schweizer Eigeninteressen fordern, insbesondere wenn es um Migrationspartnerschaften und Rückübernahmeabkommen von abgewiesenen Asylsuchenden geht.

Und da die Finanzkommission die humanitäre Hilfe von den Kürzungen ausnehmen will, müssten faktisch alle anderen Rahmenkredite bis 2020 um einen Drittel gekürzt werden. Zwar leuchtet es angesichts der aktuellen Weltlage durchaus ein, die Gelder für humanitäre Krisenhilfe aufzustocken, doch es ist unsinnig, dies auf Kosten einer nachhaltigen und langfristigen Entwicklungszusammenarbeit zu tun. «Auf akute humanitäre Not zu reagieren ist wichtig, aber nur, wenn gleichzeitig auch in die Prävention investiert wird, damit neue Krisenherde gar nicht erst entstehen. Auch braucht es nach Katastrophen und Krisen oft langfristige Wiederaufbauprojekte, die nicht von der humanitären Hilfe realisiert werden», kritisiert deshalb das Komitee «Weckruf gegen Hunger und Armut» in ihrer Medienmitteilung vom 30. März.

«Weckruf gegen Hunger und Armut»

In der Sommersession wird sich nun der Nationalrat, in der Herbstsession der Ständerat mit der Entwicklungshilfe beschäftigen. Setzt sich die Finanzkommission mit ihrem Sparvorschlag durch, würde das Aussendepartement (EDA) von Bundesrat Didier Burkhalter auf einen Schlag rund 20 Prozent seines Budgets verlieren; es wäre eine eigentliche Demontage der bisherigen Schweizer Aussenpolitik, ohne dass darüber eine öffentliche Debatte stattgefunden hätte.

Der «Weckruf gegen Hunger und Armut» fordert hingegen, dass die reiche Schweiz auf ihre Absichtserklärungen und Lippenbekenntnisse endlich auch Taten folgen lässt. Letztes Jahr hat sich die Schweiz zweimal zur «Agenda 2030» und zu den 0,7 Prozent der UNO bekannt: Im Juli im Rahmen der UN-Konferenz «Financing for Development» in Addis Abeba und im September am UNO-Gipfel in New York bei der Verabschiedung der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung. Die «Agenda 2030» sieht vor, dass die reichen Industrienationen die Entwicklungsländer bis ins Jahr 2030 mit 0,7 Prozent des Bruttoinlandeinkommens unterstützen. Das wären im Jahre 2014 rund 4 500 Millionen Franken gewesen, tatsächlich wurden aber bloss 3 200 Millionen Franken, also rund 0,5 Prozent, für die Entwicklungshilfe eingesetzt. Damit hat die Schweiz erstmals umgesetzt, was das Parlament schon 2008 beschlossen und 2011 nochmals bestätigt hatte: Dass es fortan 0,5 Prozent sein sollen. Damit reiht sich die Schweiz im unauffälligen Mittelfeld der reichen Länder ein. Am grosszügigsten sind Schweden mit 1,09 Prozent, Norwegen mit 1 Prozent und Grossbritannien mit 0,7 Prozent.

Steuerflucht und Entwicklungsgeld

Das Jahr 2008, das ist inzwischen aber eine Weile her. Seither haben sich die politischen Kräfteverhältnisse in der Schweiz markant nach rechts verschoben. Gegenwärtig fliehen Millionen von Menschen vor Krieg, Terror und Armut. Gleichzeitig schätzt man, dass Jahr für Jahr rund 1000 Milliarden Franken undeklarierter Gelder aus Steuerhinterziehung und Korruption aus den Entwicklungs- und Schwellenländern in Steueroasen fliessen und Gewinne aus der Billigproduktion praktisch unversteuert in Tiefststeuerparadiese ? wie eben die Schweiz ? verlagert werden. Damit stehen die Entwicklungsgelder, die von den reichen Industrienationen an ärmere Länder fliessen, in keinerlei Verhältniss zu den finanziellen Löchern, die durch Steuerflucht, Profitmaximierung und Korruption entstehen.

Für mehr Infos und die Petition siehe:

www.weckruf-armut.ch

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«Eine kleine Wende»

syndicom02__largeMedienriesen schreiben Gewinne, JournalistInnen haben das Nachsehen: Seit rund zwölf Jahren existiert für Medienschaffende in der deutschen und italienischen Schweiz kein GAV mehr. Nun nimmt die Gewerkschaft Syndicom einen neuen Anlauf. Ein Gespräch mit Stephanie Vonarburg, Leiterin der Branche «Presse und elektronische Medien» der Syndicom.

Rund die Hälfte der Arbeitsverhältnisse in der Schweiz ist über einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) geregelt. Für die JournalistInnen in der Deutschschweiz und dem Tessin gilt das seit 2004 nicht mehr. Wie hat sich die Situation seither verändert?

Es hat negative Veränderungen bei der Einkommenssituation gegeben. Insbesondere bei den Freischaffenden sind die Honorare stark unter Druck gekommen, während bei den Festangestellten die Gehälter der Neu- und QuereinsteigerInnen am meisten gelitten haben. Beim etablierteren Personal hat es zwar keine grosse Erosion gegeben, aber auch keine Lohnentwicklung. Im Gesamtarbeitsvertrag, der bis 2004 existierte, galt eine vorgeschriebene Mindestlohnentwicklung nach Berufsjahren. Das ist weggefallen und die Lohnschere dadurch auseinandergegangen. Gezeigt hat das bereits eine Studie im Jahr 2007, rund vier Jahre nach der GAV-Kündigung, und aktuelle Rückmeldungen seitens JournalistInnen bestätigen diesen Trend. Was die Arbeitszeit anbelangt, so war diese bei Medienschaffenden schon immer hoch. Auch der damalige GAV enthielt keine festgeschriebene Wochenarbeitszeit, dafür aber eine relativ grosszügige Regelung bezüglich Urlaub und Kompensation. Auch das ist in gewissen Redaktionen weggefallen. Dazu kommt, dass innerhalb dieser hohen Arbeitszeiten der Termindruck zugenommen hat. Heute müssen JournalistInnen aufgrund der intensiven Digitalisierung in derselben Zeit mehr liefern als früher.

Nun also ein neuer Anlauf zu einem Gesamtarbeitsvertrag. Mit welcher Aussicht?

Im Jahr 2014 ist der GAV in der französischsprachigen Schweiz – die sogenannte «Convention Collective de Travail» (CCT) – erneuert worden. Zwar hat es auch dort Verschlechterungen gegeben, etwa was die Lohnentwicklung anbelangt. Allerdings ist ein Mindesteinstiegslohn von 5840 Franken für Festangestellte definiert, es gibt Mindestlöhne für VolontärInnen, und die Mindesthonorare für Freischaffende liegen sogar leicht höher als bei unserem GAV von 2004. Zwischen der Gewerkschaft Syndicom und dem Journalistenverband Impressum herrscht der Konsens, dass wir uns bei der aktuellen Debatte mindestens am CCT orientieren. Unsere aktuell laufende Onlineumfrage zeigt den Trend, dass die Medienschaffenden in verschiedenen Punkten sogar bessere Regelungen wollen.

Verhandlungspartner wäre der Verband Schweizer Medien (VSM), der sogenannte Verlegerverband. Nach jahrelanger Diskussionssperre fasste dessen Kongress im vergangenen September den Beschluss, noch in diesem Jahr einen Vertragsentwurf auszuarbeiten. Was ist seither passiert?

Noch nichts. Dass es ein paar Monate dauern würde, war angekündigt, doch nun erwarten wir wirklich, dass es jetzt vorwärts geht. Deshalb läuft parallel dazu unsere Kampagne «Medien-GAV jetzt!», die wir Anfang März gestartet haben. Über diese Webplattform wollen wir primär zwei Dinge tun: Zum einen sensibilisieren, also zeigen, dass der GAV den Medienschaffenden in Print und Online ein Anliegen ist. Zum anderen läuft eine Onlineumfrage bei den JournalistInnen, um ihre Bedürfnisse zu eruieren.

Ist dem Entscheid des Verlegerverbands denn zu trauen? Im Jahr 2013 liess dessen Präsident Hanspeter Lebrument eine Vereinbarung mit dem Journalistenverband Impressum nämlich kurz vor Abschluss platzen.

Wir müssen und wollen davon ausgehen. Es ist immerhin so, dass am Verlegerkongress im vergangenen Herbst doch ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Eine kleine Wende, nachdem man zwölf Jahre lang das Wort «Arbeitsbedingungen» nicht in den Mund genommen hat. Die Mitglieder des Verbandes haben ihrer Führung nun den Auftrag gegeben, einen GAV zu finden. Das heisst: Wir nehmen sie beim Wort.

Wie will die Gewerkschaft die VerlegerInnen sonst dazu bringen, einzulenken?

Es gibt einen gewissen Druck. Wir spüren ihn schon lange seitens unserer Mitglieder, aus den Redaktionen und von den freien JournalistInnen. Das hat sich jedoch bislang zu wenig manifestiert. Ich bin aber guter Dinge: Wir sind nun in Kontakt mit verschiedenen Personalkommissionen, mit Gruppierungen von Freien sowie mit Sektionen. Und jetzt, mit unserer Kampagnenplattform und mit Aktionen, die folgen werden müssen, werden wir hoffentlich einen grossen Schritt vorwärts machen. Ich bin überzeugt, dass es einen Ruck geben wird, wenn man etwas erreichen will. Wir können diesen Ruck initiieren, aber kommen muss er von den Medienschaffenden. Ob das auf den nächsten September geschehen wird, weiss ich nicht. Wir tun alles auf unserer Seite dazu. Aber wir wollen lieber eine gute Lösung, als irgendetwas über das Knie zu brechen.

Syndicom hat nicht nur mit den VerlegerInnen zu kämpfen. Die Mitgliederzahlen sinken, langjährige Aktive wenden sich enttäuscht ab, personelle Abgänge sorgen für Gesprächsstoff, es kursieren Gerüchte über eine erneute Fusion. Ist Ihre Gewerkschaft überhaupt stark genug, um gegen die UnternehmerInnen anzukommen?

Ja, ich denke schon. Syndicom ist gross, noch immer, und umfasst verschiedene Bereiche. Ich kann hauptsächlich für die Branche «Presse und elektronische Medien» sprechen und dort haben wir langjährige Aktive mit einer gesunden Mischung an neuen Personen. Gerade bei den aktiven Gremien stehen wir gut da. Bei den Mitgliedern haben wir effektiv seit der Fusion von 2011 einen Rückgang, netto. Das heisst: Die Beitritte können die Austritte nicht egalisieren. Doch wir sehen seit Anfang Jahr eine kleine Trendwende und ich bin zuversichtlich, was die Mitgliederzahl anbelangt – dass wir diesen Rank schaffen. Von einer neuen Fusion reden wir nicht, sondern von der Suche nach einer engeren Kooperation zwischen den Gewerkschaften und Verbänden, die Medienschaffende organisieren.

Weitere Informationen zur aktuellen GAV-Kampagne unter: www.mediengav.ch

 

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Waadt: In vorauseilendem Gehorsam

geldAm 20. März haben die WaadtländerInnen «eine der wichtigsten finanzpolitischen Reformen der letzten 50 Jahre», die kantonale Unternehmenssteuerreform, mit grosser Mehrheit angenommen. Die radikale Linke und die Gewerkschaften, die das Referendum dagegen lanciert haben, prophezeien eine Katastrophe für die öffentlichen Finanzen und den Arbeitsmarkt.

Es war ein ungleicher Kampf. Von rechts mit der SVP bis links mit den Grünen und der SP haben fast alle Parteien die Reform unterstützt. In vorauseilendem Gehorsam zur USRIII auf Bundesebene hatten der Staatsrat und die Mehrheit im Grossen Rat in Waadt beschlossen, die Unternehmensgewinnsteuer auf 13,8 Prozent zu senken (gegenwärtig sind es 21,65 Prozent). Dieser Steuersatz würde für alle Unternehmen gelten. Das Ziel dabei war, die speziellen Steuern, die für Unternehmen mit besonderem Status gelten und mit den internationalen Regelungen unvereinbar sind, abzuschaffen. Indem die Steuern für diese Unternehmen erhöht werden, nimmt der Kanton zusätzlich zu den gegenwärtig 311 Millionen Steuereinnahmen 50 Millionen Franken ein. Er würde jedoch mit der Steuersenkung für juristische Personen 500 Millionen Franken pro Jahr verlieren. Für den Kanton, der sich vom Bund eine Rückerstattung von 107 Millionen erhofft, sei die Reform unvermeidbar gewesen, um «attraktiv und konkurrenzfähig zu bleiben», heisst es. Die radikale Linke, das heisst die Partei der Arbeit, solidaritéS, die Juso und Gauche anticapitaliste, sowie die Gewerkschaften VPOD und SUD, setzte Gegensteuer an und musste eine Niederlage einstecken: 87 Prozent der WaadtländerInnen sprachen sich für die USRIII aus.

Profitieren die KMUs?

«Die waadtländische Reform, die nicht vor 2019 in Kraft treten wird, ist verfrüht, weil auf nationaler Ebene die Reform noch zur Diskussion steht. Der Bundesrat hat vor, gewissen Unternehmen Steuerbefreiungen einzuräumen, mit ‹Patentboxen› oder für Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Das wird zu stärkeren Einbussen führen als erwartet», erklärt Julien Eggenberger, Präsident des VPOD Waadt. «Aufgrund der nationalen Reform wird der waadtländische Staatsrat früher oder später gezwungen sein, wieder über die Bücher zu gehen und seine Reform zu ändern.» Ein erster Punkt der Meinungsverschiedenheit: Die Begünstigten dieser Reform. Das Kantonsparlament behauptet, von den Änderungen würden 28 000 KMUs profitieren. «Insgesamt profitieren von diesem Steuergeschenk nicht die KMUs, von denen weniger als 30 Prozent von der Gewinnsteuer betroffen sind, sondern die Grossunternehmen und Multis wie Nestlé, McDonald’s oder Bobst, die in immenser Mehrheit von der Gewinnsteuer betroffen sind», heisst es hingegen seitens Referendumskomitee. Kann diese Reform die Abwanderung von Unternehmen mit speziellem Steuerstatus verhindern und werden die 25 000 betroffenen Arbeitsstellen erhalten bleiben, wie der Staatsrat behauptet? David Gygax, Sekretär des VPOD Waadt, hat Zweifel. «Die AktionärInnen der Unternehmen, die die Gewinnsteuer zahlen, brauchen keine Hilfe. Die Arbeitenden hingegen, die mehr oder weniger von den öffentlichen Ausgaben abhängig sind, etwa Baugewerbe, Handwerk, Dienstleistungen und öffentlicher Sektor, werden von den tieferen Investitionen bedroht. Bei einem Ja sind tausende Arbeitsplätze in diesen Sektoren gefährdet», meint der Gewerkschafter. Von den tieferen Steuern würden nur die AktionärInnen der Grossunternehmen profitieren.

Ein weiterer Stein des Anstosses: Trotz früheren Versprechen der waadtländischen Exekutive, dass der Finanzausgleich zwischen den Gemeinden verbessert würde, rechnen diese jetzt mit schweren Einbussen bei den Steuereinnahmen: 50 Millionen in Lausanne, 4 Millionen in Nyon und 2,7 Millionen in Renens. Eine Steuererhöhung für natürliche Personen und private Haushalte scheint notwendig.

Als Ausgleich für die Steuersenkungen der Unternehmen hat der Staatsrat ein Sozialpaket zusammengeschustert. Ach, das Sozialpaket, das Objekt der ganzen Aufmerksamkeit und aller Lobgesänge! Die Realität sieht so aus: Das Paket beinhaltet eine Erhöhung der finanziellen Unterstützung für Familien, die Verdoppelung der Beiträge des Staates und der Unternehmen an die Tagesbetreuung sowie die Begrenzung der Krankenkassenprämien auf 10 Prozent des Einkommens der Haushalte. Es sei ein guter Handel, wurde von SP-Staatsrat Pierre-Yves Maillard mit spürbarer Nervosität vor der Abstimmung angepriesen. «Der Zweck unseres Referendums ist nicht, soziale Massnahmen zu schaffen, die die Steuersenkungen abmildern sollen», betont hingegen Johnson Bastidas, Sozialarbeiter und PdA-Regierungsratskandidat in Renens. Er weist auf die Grenzen des Sozialpakets hin. «Mit einer Erhöhung der Unterstützung für Familien um 300 Franken nähert sich der Kanton bloss den Beiträgen an, die das Wallis oder Genf zahlen. Ferner ist die Besteuerung für Ehepaare, die 80 000 Franken im Jahr verdienen, in Genf bereits weniger hoch als im Kanton Waadt. Die Steuerbelastung steigt hier weiter», kritisiert das PdA-Mitglied. «Was die Beteiligung an den Krippenplätzen betrifft: Das ist letztlich nur eine Kompensation für das massive Bevölkerungswachstum und die Erfüllung des Volkswillens von 2009 bezüglich der Einrichtung von Tagesschulen.»

Die Reform führt zu Steuerausfällen

«Sieht man sich die Zahlen an, verhüllt diese Reform eine ideologische Debatte über die Rolle des Staates als Umverteiler des Reichtums. Die Regierung ist heutzutage die Fürsprecherin von Multis und der Unternehmen», so das Fazit von Johnson Bastidas und er erinnert daran, dass die Regierung erst kürzlich eine grosse Steuersenkung auf Kapital und Vermögen durchgesetzt hat. Für die GegnerInnen ist die Reform letztlich auch inakzeptabel, weil sie die Konkurrenz der Steuerpolitik zwischen den Kantonen verschärft, indem sich die Kantone gegenseitig weiter unterbieten. «Sie ist schädlich, sie führt zu Steuerausfällen und verkleinert den Handlungsspielraum des Staates. Mit der Steuer, die der Kanton vorschlägt, setzt man sich in die Nesseln. Wenn man diese Reform hier vor allen anderen lanciert, erhöht der Kanton Waadt den Druck, die Steuerkonkurrenz zu verstärken», schreibt Arnaud Thiéry, Redakteur der Zeitschrift «Pages de gauche» und Mitglied der SP, einer Partei, die auf nationaler Ebene eigentlich einen minimalen Steuersatz von 16 Prozent fordert.

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Krawall!

Reithalle_BernAm ersten Märzwochenende kam es bei der Berner Reitschule zur Eskalation zwischen Autonomen und der Polizei. Einmal mehr werden dafür die «Chaoten» verantwortlich gemacht. Als wäre es nicht schon längst an der Zeit, auch die Rolle der Berner «Sicherheitskräfte» kritisch zu betrachten.

Es war die Nacht vom 5. März, als die Dinge ihren Lauf nahmen: Provoziert durch die massive Polizeipräsenz am Vorabend, sperrten Autonome die Strasse neben der Reitschule mit brennenden Barrikaden. Als die Beamten in Vollmontur anrückten, eskalierte die Situation. Es hagelte Feuerwerkskörper und Gummischrot; und in der Folge eine mediale Hetzkampagne und finanzielle Abstrafung des autonome Kulturzentrums, das «Gewalttätern» stets Schutz bieten würde.

Während sich die ReitschülerInnen ob den Sanktionen relativ gelassen zeigen und ihre Gegner nach weiteren Strafen schreien, wird reihherum nach den Schuldigen gesucht. Die mal wieder wären: die «Chaoten». Die mag man auch im breiten Sympathisantenkreis des Kulturzentrums nicht so sehr, wie gerade lautstark zu vernehmen ist. Doch auch wenn man die «Aktion» und deren politische Sinnhaftigkeit durchaus kritisch betrachten kann, gilt: Wer die «Übeltäter» nur auf Seiten der Autonomen sucht, blendet das fragwürdige Treiben von Behörden und Polizei gänzlich aus.

Der «Präventiveinsatz» als offene Provokation

Alles begann wenige Tage zuvor, am 1. März, mit einer Pressekonferenz, an der Reto Nause, der städtische Sicherheitsdirektor, auf Grundlage einer Studie erzählte, dass sich die BernerInnen zwar im Allgemeinen sicherer fühlen würden als früher – nur nicht auf der Schützenmatte, dem weitläufigen Parkplatz vor der Reitschule. Für die Berner Medien ein gefundenes Fressen: Kurzerhand wurde über einen Anstieg von Gewalt, sexuellen Übergriffen und Diebstählen im Umkreis der Reitschule berichtet. Und so standen sich am Abend des 4. März dann auch bis zu dreissig PolizistInnen, im Rahmen eines «Präventiveinsatzes», in der Umgebung der «Schütz» die Beine in den Bauch. Zwei davon in Vollmontur unter der Eisenbahnbrücke, direkt vor der Reitschule, was – nicht verwunderlich – als offene Provokation empfunden und in der darauffolgenden Nacht von Autonomen entsprechend beantwortet wurde.

Vom eigenen Beitrag an dieser Eskalation wollte man seitens Polizei im Nachgang zu den Auseinandersetzungen aber natürlich nichts wissen. Stattdessen klagte Polizeichef Manuel Willi gegenüber den Medien, dass man «in einen Hinterhalt gelockt» worden sei. Dabei dürften sich die Einsatzkräfte in jener Nacht durchaus im Klaren darüber gewesen sein, dass sie sich mit dem Schwarzen Block nicht zum Kaffeekränzchen treffen werden.

Und so war es dann auch. Es gab Verletzte, und zwar auf beiden Seiten. Von elf PolizistInnen ist die Rede, während die Zahl der BesucherInnen des Kulturzentrums, die aufgrund des Vorgehens der Beamten Blessuren davongetragen haben, unbekannt ist. Fakt ist zumindest: Die PolizistInnen haben sich nicht davor gescheut, auch Unbescholtene ins Visier zu nehmen. Wie Augenzeugen berichten, wurde etwa ein junger, offensichtlich unbeteiligter Mann, der sein Fahrrad über den Vorplatz der Reitschule schob, unumwunden mit Gummischrot traktiert.

Die Rambos vom Dienst

Und wenn es nach gewissen Einsatzkräften gegangen wäre, hätten noch weitere Menschen zu Schaden kommen sollen. Wie einer der Polizisten anonym gegenüber der SonntagsZeitung vom 13. März äusserte, wäre es ihm lieb gewesen, wenn die Reitschule an diesem Abend «zur Beweissicherung» gestürmt worden wäre. Dass sich zu diesem Zeitpunkt mehrere hundert Menschen im Gebäude aufhielten und ein derartiger Zugriff der Polizei verheerende Folgen gehabt hätte, scheint zumindest aus Sicht dieses Mannes kein Problem gewesen zu sein.

Und doch sind selbstverständlich nicht die Beamten gemeint, wenn es heisst, dass mittlerweile in Kauf genommen würde, dass Menschen «schwer verletzt oder gar getötet werden». Im Gegenteil. Die Retorten-Rambos werden zum Opfer stilisiert. Ein Bild, das vor allem die lokalen Boulevardmedien nur zu gerne weiterverbreiten, mitunter mit der Forderung, gegen die «Chaoten», «den Abschaum« und den «Pöbel», wie etwa die Berner Zeitung die Autonomen liebevoll betitelt, «endlich härter durchzugreifen».

So lässt sich wunderbar den Blick darauf verstellen, dass die «Freunde und Helfer» bereits jetzt nicht zimperlich sind, im Umgang mit vermeidlich linken AktivistInnen und Menschen im Umfeld der Reitschule. Wenn man denn möchte, würde man genügend Beispiele finden:

Die Verhaftungen nach dem Farbanschlag auf das Amtshaus im vergangenen Jahr, in deren Folge drei Jugendliche in Untersuchungshaft landeten, weil sie rund eine Woche nach dem Angriff mit einem Transparent angehalten worden waren, das mit demselben – wenn auch in jedem Detailhandel erhältlichen – Rot bemalt gewesen sein soll, wie es beim Angriff gegen das Gebäude verwendet worden war; im gleichen Zusammenhang: die Stürmung von mehreren besetzten Häusern mit vorgehaltenen Maschinenpistolen, obwohl sich die gesuchte Person bereits zuvor – erfolglos – telefonisch bei der Polizei gemeldet hatte; die Stürmung der Küche des Reitschulrestaurants «Sous le pont», angeblich auf der Suche nach Drogen, im Juni 2014; zweimal gezückte Dienstwaffen, mit denen auf der Schützenmatte auf Jugendliche gezielt wurde, ebenfalls im Sommer 2014; und wieder auf der Schützenmatte, im vergangenen Dezember, als die Jagd mit Gummischrotgewehr auf einen vermeidlichen Dealer damit endete, dass er auf der Flucht über einen Abhang schwere Verletzungen davontrug.

Doch gemeinhin scheint zu gelten: Gewalt trägt keine Uniform. Lieber wird das Bild der «Chaoten» als «Terroristen» und den PolizistInnen als Opfer genährt. Aber was tut man nicht alles, für ein bisschen Krawall.

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Für eine bessere Zahnpflege

zahnarztDie Partei der Arbeit Genf lanciert eine kantonale Initiative «Für die Rückerstattung der Zahnpflegekosten». Dabei soll die Zahnpflege obligatorisch versichert werden, allerdings nicht in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, sondern mit einer Versicherung, die sich an der Finanzierung der AHV orientiert.

Im Kampf für die Interessen der ArbeiterInnenklasse und für soziale Gerechtigkeit wird die Partei der Arbeit Genf (PdAG) eine kantonale Volksinitiative mit dem Titel «Für die Rückerstattung der Zahnpflegekosten» lancieren. Die Initiative orientiert sich dabei am Vorbild der PdA-Sektionen im Kanton Waadt sowie Neuenburg, die jeweils ähnliche Initiativen gestartet haben. Die Lancierung der Initiative wurde am kantonalen Parteikongress im Dezember 2014 beschlossen und ist aus unserer Sicht längst überfällig. Der Initiativtext wurde bereits ausgearbeitet und wird in Kürze im Genfer Amtsblatt erscheinen. Wir lancieren diese Initiative mit zwei Zielen für den Gesundheitsbereich und für einen gerechten Zugang zu qualitativ hochwertiger Pflege. Einerseits geht es darum, die Kosten der Zahnpflege im Budget der ArbeiterInnen stark zu reduzieren. Andererseits soll damit gegen den Ausschluss der prekarisierten Teilen der Bevölkerung aus der erforderlichen Zahnpflege gekämpft werden. Laut dem waadtländischen Regierungsrat Pierre-Yves Maillard (SP) ist die Situation alarmierend: «Die soziale Ungleichheit hat folgenschwere Auswirkungen, die Zahngesundheit der schlechter gestellten Bevölkerung im Kanton entspricht derjenigen der EinwohnerInnen von Entwicklungsländern.» Gleiches gilt für den Kanton Genf. Schlimmer noch: Bis 1994 gab es konstante Verbesserungen, seither hat sich die Zahngesundheit von Kindern wieder stark verschlechtert. Gewisse ungesunde Essgewohnheiten, die von der Süssgetränkeindustrie gefördert werden, spielen eine Rolle, aber die Hauptursache liegt in der schlechteren Lage der Ärmsten der arbeitenden Bevölkerung.

Gesellschaftliche Diskriminierung

Wir sind von einer Feststellung ausgegangen: Die Zahnpflege steht bis heute nicht im Katalog der obligatorischen Krankenpflegeversicherung und 89 Prozent der Kosten müssen im Selbstbehalt gedeckt werden. Diese Kosten können belastend sein und sind Ursache für eine schreiende Ungleichheit in Bezug auf Zahnkrankheiten und deren Behandlung. In der Tat sind viele Menschen gezwungen, aus finanziellen Gründen bei der Zahnpflege zu sparen. Die Folgen sind katastrophal: Bei Kindern bis fünf Jahren aus ökonomisch schlecht gestellten Familien haben 40 Prozent kariöse Zähne, während es bei Kindern aus der Mittelklasse oder besser gestellten Familien lediglich 16 Prozent sind. Bei Erwachsenen ist der Verlust von Zähnen ebenfalls durch den sozioökonomischen Status beeinflusst: Bei besser gestellten Gruppen sind 14 Prozent der Personen vollständig zahnlos, während es bei schlecht gestellten Gruppen 32 Prozent sind. Ferner tragen herausnehmbare Zahnprothesen, die von 48 Prozent der zahnlosen Menschen mit tiefem Einkommen und 11,5 Prozent mit hohem Einkommen benutzt werden, zur Mangelernährung von älteren Menschen bei.

Eine Studie, die 2009 in der Revue médicale suisse (RMS) erschienen ist, beweist eine gesellschaftliche Diskriminierung bei Krankheiten, die durch den schlechten Zugang zu Pflege und Prävention verursacht werden. Es besteht eine Verbindung zwischen dem sozialen Status sowie der Bildung der Menschen und dem Risiko für parodontale Erkrankungen (d. h. im Gewebe, das die Zähne umgibt). Je tiefer die soziale Position der betroffenen Person, desto gravierender war die Krankheit. Laut Studie zeigten Personen mit tiefem Bildungsstand und Einkommen eine höhere Anfälligkeit für parodontale Erkrankungen als solche mit hohem Bildungsstand und Einkommen.

Offensichtlich hängt die Zahnpflege von den finanziellen Kapazitäten der Betroffenen ab und stellt eine immense Hürde für den gerechten Zugang dar. Eine Studie aus Schweden zeigt, dass ältere Menschen zwischen 50 und 75 Jahren, für die die Pflegekosten eine Bürde darstellen, sechsmal weniger oft zur ZahnärztIn gehen als andere.

Das Modell AHV

Um dieser Ungerechtigkeit entgegenzutreten schlägt die Partei der Arbeit Genf vor, eine obligatorische Versicherung zur Rückerstattung der Zahnpflegekosten sowie Massnahmen zur Verhinderung von Zahnkrankheiten einzuführen. Finanziert werden soll dies nach dem Modell der AHV für diejenigen, die sich daran beteiligen (circa 0,5 Prozent als Lohnbeiträge, bei einem gleich hohen Beitrag der ArbeitgeberInnen), und für diejenigen, die nichts beitragen können, durch eine entsprechende kantonale Gesundheitspolitik. Neben der Tatsache, dass zahlreiche weitere Studien den Nutzen einer solchen Versicherung für die Gesundheit der Bevölkerung beweisen, handelt es sich auch um einen Kampf für die soziale Gerechtigkeit, das heisst um einen Klassenkampf. Heutzutage sind alle sozialen Errungenschaften, für die wir während Jahrzehnten gekämpft haben, von Abbau und Kürzungen betroffen, die in der Regel der herrschenden Klasse und seinen politischen VertreterInnen betrieben werden. In dieser Situation glauben wir, dass es höchste Zeit ist, die Offensive für den sozialen Fortschritt aufzunehmen. Es ist kein Zufall, dass wir als Basis für unsere Initiative das System der AHV nehmen, da es das fortschrittlichste, gerechteste und sicherste System der sozialen Sicherheit darstellt, das in unserem Land existiert. Wir betrachten es auch als eine Alternative zum pseudoliberalen System der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, das ungerecht und teuer ist und vor allem den Interessen der Privatversicherungen dient. Die Partei der Arbeit Genf hat bereits Massnahmen getroffen, um ein Unterstützungskomitee für diese Initiative zu konstituieren. Wir rufen all diejenigen, die sich angesichts der kapitalistischen Unterdrückung und dem neoliberalen Bleigewicht nicht geschlagen geben, dazu auf sich unserem Kampf anzuschliessen.

Weitere Infos: www.pdt-ge.org

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«Der Kostendruck ist enorm»

Wie viele Berufe leidet auch die Pflege- und Betreuungsbranche unter dem Druck der Ökonomisierung. Mit einer Petition startet die Gewerkschaft Unia jetzt einen neuen Anlauf, um die Arbeitsbedingungen der PflegerInnen und BetreuerInnen zu verbessern. Ein Gespräch mit Udo Michel, Branchenleiter für Pflege und Betreuung der Unia.

 

Udo, warum hat die Gewerkschaft die Petition lanciert?

Es gibt massiven Druck auf das Personal: Mit immer weniger Leuten muss immer mehr und schneller gepflegt werden. Das ist auf die Dauer nicht auszuhalten, weil auch die Qualität der Pflege leidet und insbesondere die Beschäftigten derart stark unter Druck kommen, dass sie teilweise krankheitsbedingt ausfallen oder Burnouts haben. Unregelmässige Arbeitszeiten, geteilte Dienste, immer wieder schnell einspringen müssen – das ist für das soziale Umfeld auch enorm schwierig.

Weshalb ist der Druck auf die Pflege- und Betreuungsbranche derzeit so gross?

Der Kostendruck ist enorm. Die Heime sind immer mehr gezwungen, zu sparen und die Kosten zu optimieren. Das ist die eine Seite; die andere Seite ist, dass zu wenig Leute ausgebildet werden, die dann effektiv die Nachfrage nach Personal abdecken können.

Du nimmst Bezug auf die jungen BerufseinsteigerInnen. Wie sehen denn die Auszubildenden ihre Zukunft in der Branche?

In einer Umfrage haben wir herausgefunden, dass sich nur noch 50 Prozent der Auszubildenden in zehn Jahren noch auf diesem Job sehen. Auch bei ihnen ist der Druck enorm und auch bei den jüngeren Leuten in diesem Beruf zeigt sich, dass ihnen die Zeit fehlt, um umfassend gut ausgebildet zu werden, aber auch, um den Job überhaupt gut machen zu können.

Der Druck auf die Fachkräfte zieht sich also wie ein roter Faden durch den Pflegebereich. Es wird immer mehr kontrolliert, die Krankenkasse übernimmt beispielsweise nur messbare Leistungen. Welche Folgen bringt das im Alltag mit?

Es führt dazu, dass man «minütelen» muss. Die Leistungen müssen notiert werden und es sind nur diese Leistungen, die Geld geben. Alle anderen Leistungen geraten dann ins Hintertreffen, zum Beispiel ein eingehendes Gespräch hier und dort. Das ist auch das, was die Leute wahrnehmen, das belegen auch die Studien. Den PflegerInnen bleiben viel zu wenig Zeit, um zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen. Die Leute, die diesen Job machen, haben eigentlich diesen Arbeit gewählt, damit sie auch den Umgang mit den Menschen pflegen können, damit sie Gespräche führen können. Das bleibt im Moment leider auf der Strecke. Die ganze Geschichte funktioniert eigentlich nur noch, weil die PflegerInnen ein übermässig grosses Engagement an den Tag legen und oftmals auch in ihrer Freizeit einspringen oder Dienste abtauschen.

Was fordert ihr in eurer nationalen Kampagne, um dem entgegenzuwirken?

Es ist klar: Der Mensch muss wieder mehr im Mittelpunkt stehen und nicht nur der Profit. Man muss sich über neue Finanzierungsmodelle Gedanken machen. Es braucht klar bessere Arbeitsbedingungen, geregelte Arbeitszeiten, höhere Löhne. Und es braucht eine Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie, die möglich sein muss, in diesem Job.

Was geschieht, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern würden?

Ich befürchte, dass es dann umso schwieriger wird, neue Leute zu rekrutieren, die es unbedingt braucht. Und ich glaube auch, dass es unter dem Strich eine teure Übung sein wird für die Volkswirtschaft; es hat keinen Sinn, wenn immer mehr Leute ausfallen und keine Pflege und Betreuung mit hoher Qualität mehr erbracht werden kann.

Petition online unterschreiben: www.bit.ly/211Cm2X

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SVP weggefegt!

SVPDie SVP ist mit ihrem Versuch, AusländerInnen wegen Bagatelldelikten des Landes zu verweisen, gescheitert. Am 28. Februar haben die Stimmbeteiligten die sogenannte «Durchsetzungsinitiative» bachab geschickt. Ein Erfolg, wenngleich ein halber: Denn nun tritt die Umsetzung der «Ausschaffungsinitiative» in Kraft.

Noch bis zum Abstimmungssontag am 28. Februar hatte es danach ausgesehen, als könnte die SVP ihren nächsten ausländerfeindlichen Coup landen. Mit der sogenannten «Durchsetzungsinitiative» hatte sie angestrebt, dass kriminelle «AusländerInnen» künftig automatisch, selbst bei Bagatelldelikten und unabhängig der Höhe des Strafmasses, ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz verlieren. Doch dann kam alles anders: Mit 58,9 Prozent sagten die Stimmbeteiligten dezidiert «Nein» und verhinderten damit, dass tausende Menschen, die in der Schweiz leben aber nicht über den roten Pass verfügen, der permanenten Gefahr eines dauerhaften Landesverweises ausgesetzt sind. Es war das erste Mal, nach der Annahme der «Anti-Minarettinitiative» (2007), der «Ausschaffungsinitiative» (2010) und der «Masseneinwanderungsinitiative» (2014), dass eine ausländerfeindliche Vorlage der «Volkspartei» an der Urne zu Grabe getragen wurde.

Widerstand von links bis rechts

Darauf mussten die RechtspopulistInnen, die sich am Abstimmungssonntag im urschweizerischen Einsiedeln versammelt hatten, erst einmal einen Kräuterschnaps trinken. Warum man gescheitert war, dafür hatte Nathalie Rickli am Nachmittag dann auch schon eine schlüssige Erklärung parat: Man sei verunglimpft worden, meinte die Nationalrätin und scheute sich nicht, ihren GegnerInnen «Emotionalität und Hetze» vorzuwerfen. Über die eigene Hetze, die man einmal mehr mittels einer 4,1 Millionen-Auflage des «SVP Extrablatt» ungefragt an die Haushalte in der ganzen Schweiz verteilt hatte, wurde derweil kein Wort verloren.

Aber tatsächlich blies der SVP kaum je ein solch heftiger Wind entgegen, wie in den vergangenen Wochen. Überall im Land hatten sich linke sowie «zivilgesellschaftliche» und bürgerliche Komitees gebildet, um gegen die «Durchsetzungsinitiative» mobil zu machen. Einig war man sich vor allem in einem Punkt: Dass das Vorhaben der «Volkspartei» mit Rechtsstaatlichkeit herzlich wenig am Hut hatte. So hätte die Vorlage etwa die Gewaltenteilung aufgehoben; das Parlament wäre aufgrund des restriktiven Initiativtextes der «Durchsetzungsinitiative» bei deren Umsetzung faktisch ausgeschaltet worden. Weiter wäre die Justiz aufgrund des verfassungsmässig verankerten «Ausschaffungsautomatismus» nicht mehr befugt gewesen, aufgrund der persönlichen Situation des Verurteilten, von einer Abschiebung abzusehen, was eine Einschränkung der Verhältnismässigkeit und die Verletzung der Menschenrechtskonvention bedeutet hätte.

So war das Votum gegen die «Durchsetzungsinitiative» wohl leider grösstenteils weniger eines gegen die Fremdenfeindlichkeit, sondern eines für den «Rechtsstaat». Darauf hatten insbesondere die bürgerlichen Mitteparteien gespielt, die zwar mit Ausschaffungen von AusländerInnen mitunter kein Problem haben, aber nicht dazu bereit sind, die rechtsstaatlichen Grundsätze dafür so radikal zu opfern, wie es die SVP im Sinne hatte.

Die «neuen Liberalen»

Im Mittelpunkt des vergangenen Abstimmungskampfes stand allerdings nicht die bürgerliche Mitte, sondern mit «Operation Libero», eine neue liberale Gruppierung, die sich aus jungen AkademikerInnen – der Elite von morgen – rekrutiert und unter dem Motto «Wir verknüpfen gesellschaftsliberale und wirtschaftsliberale Werte» zum gefeierten Shootingstar wurde. Diese Organisation der «Zivilgesellschaft» stand an der Spitze des «NGO-Komitees gegen die Durchsetzungsinitiative», dem 56 Nichtregierungsorganisationen, darunter Amnesty International und Humanrights, angehörten. Der Tages-Anzeiger schrieb die Newcomer kurzerhand zum «Albtraum der SVP» hoch.

Vielleicht nicht ganz zu unrecht. Es dürfte durchaus stimmen, dass die neuen Liberalen sowie die traditionellen bürgerlichen Parteien bei der Abstimmung über die «Durchsetzungsinitiative» das Zünglein an der Waage waren. Den Sieg hätten die Linken allein nicht erringen können.

Jetzt kommt es «pfefferscharf»

Und es ist auch nur ein halber Sieg geworden. Denn trotz des Votums gegen das SVP-Vorhaben tritt nun, aufgrund der «Ausschaffungsinitiative» von 2010, eine härtere Gesetzgebung gegen Straffällige ohne Schweizer Pass in Kraft. Obschon die SVP stets monierte, dass das Parlament sich weigern würde, den «Volkswillen» zu befolgen, haben National- und Ständerat nun teilweise gar eine härtere Umsetzung beschlossen, als dass sie es hätten tun müssen. So wurde beispielsweise der Deliktkatalog, der künftig für Landesverweise gelten soll, ausgeweitet. Darin enthalten sind nun beispielsweise auch Hausfriedensbruch und «Störung des öffentlichen Verkehrs». Weiter steht es dem Gericht frei, einen Landesverweis auch bei leichteren Straftaten anzuordnen. Gleichzeitig können die RichterInnen jedoch im Härtefall auch von einer Ausschaffung absehen. Zu large soll diese Klausel aber nicht angewendet werden, wie es etwa FDP-Präsident Philipp Müller am Abstimmungssonntag nicht müde wurde, zu betonen. Man habe ein «pfefferscharfes Gesetz».

So kommt sie nun also doch, die «Zweiklassenjustiz», von der die GegnerInnen der «Durchsetzungsinitiative», mitunter auch die Bürgerlichen, in den vergangenen Wochen immer wieder gewarnt hatten. Nur eben menschenrechtskompatibel. Bis zu 4 000 Menschen pro Jahr – und damit viermal mehr als bisher – könnten nun künftig die Schweiz verlassen müssen. Die neuen Gesetzesregelungen treten am 1. Oktober 2016 in Kraft.

Aus dem vorwärts vom 11. März 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Frauen als Retterinnen der AHV?

Bundesrat Alain Berset. © Andreas Blatter

Bundesrat Alain Berset. © Andreas Blatter

Das Parlament berät derzeit die vom EDI unter der Leitung von Bundesrat Berset vorgeschlagene Rentenreform «Altersvorsorge 2020». Ein klarer Angriff ist die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre – aber genau darüber herrscht in den beratenden Gremien mehrheitlich Konsens.

Bereits mehrfach sind AHV-Reformen an der Urne gescheitert. Da die gesamte Schweizer Stimmbevölkerung davon betroffen ist, regt sich bei Kürzungen in diesem Bereich wesentlich mehr Widerstand als beispielsweise beim Sozialabbau bei der Invalidenversicherung, von dem «nur» 260000 Personen betroffen sind. Bei der anstehenden Reform «Altersvorsorge 2020» ist das nicht anders. Das Stimmvolk wird nicht differenziert über einzelne Punkte der Reform entscheiden können, sondern nur «Ja» oder «Nein» stimmen. Bei einem «Nein» müsste die Arbeit ganz von vorne beginnen und das wollen sämtliche Parteien verhindern – die Frage ist nur wie.

Zuckerbrot und Peitsche à la SP

Wie viele Konzessionen für dieses «Ja» gemacht werden müssen, darum geht es in der aktuellen Debatte. Bei dieser Ausgangslage haben reformistische Kräfte in den Parlamenten durchaus eine Chance, sich Gehör zu verschaffen, wie sich im Ständerat gezeigt hat. So hat die Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit, welche das Dossier als erste beriet, den Vorschlag aus dem Departement des SP-Bundesrates Berset nicht verschärft, sondern sozialer gemacht. Das ist mutmasslich dem Einsatz des aufrechten Reformisten Paul Rechsteiner zu verdanken, aber zu einem grösseren Teil der Angst, dass das ganze Paket scheitern könnte, wenn es neben der Peitsche nicht auch Zuckerbrot gibt. So schlägt der Ständerat neben der Erhöhung des Frauenrentenalters Kürzungen bei der Pensionskasse vor. Die für tiefe Löhne wichtigere AHV wird jedoch nicht angetastet, sondern verbessert. Auch bei der Finanzierung ist der Ständerat sozialer als Berset, so soll die Mehrwertsteuer um 1 Prozent statt 1,5 Prozent erhöht werden und der Bund soll finanziell nicht weniger in der Pflicht stehen als bisher.

Blutige Peitsche à la FDP

Der Nationalrat, der nun über die Vorlage beraten soll, wird wohl eine andere Taktik anwenden. FDP und SVP werden dafür sorgen, dass die Vorlage wieder verschärft wird und setzen darauf, dass die Stimmbevölkerung es nicht wagen wird, «Nein» zu stimmen. Das ist konfrontativer: «Ihr müsst «Ja» sagen, oder ihr verliert alles!». Es zeigt, dass die seit Jahren andauernde Propaganda über den drohenden Zusammenbruch der AHV gewirkt habe. Demnach setzen FDP und SVP darauf, dass die Abstimmenden nach dem Motto «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» einem radikalen Sozialabbau bei der Rente zustimmen werden.

Äusserst problematisch ist, dass der Arbeitgeberverband im Nationalrat eine Schuldenbremse vorschlagen wird. Diese sieht vor, dass, wenn das Vermögen der AHV unter einen bestimmten Stand sinkt, die Regierung sanieren müsse, ansonsten würde das Rentenalter automatisch auf 67 Jahre erhöht. Damit stünde die Erhöhung des Rentenalters im Gesetz und würde durch die Hintertür Realität. Wenn die FDP ihre alte Forderung tatsächlich so nebenbei in die Vorlage reinschreiben will, riskiert sie tatsächlich den Widerstand der Gewerkschaften und der SP. Das scheint ein Wagnis. Historisch betrachtet ist es der Sozialdemokratie oft besser gelungen, Sparprogramme durchzusetzen. Entsprechend äussert sich der andere Interessensverband des Kapitals, Economiesuisse, beispielsweise besorgt über die Tatsache, dass ein ganzes Paket zur Abstimmung kommt und nicht einzelne Teile davon. Natürlich steht die Economiesuisse auch für einen konzessionslosen Sozialabbau. Dieser würde dem Kapital bei der Ablehnung eines Gesamtpakets aber viel härter auf die Füsse fallen als im Falle der Ablehnung von Teilbereichen. So sieht Economiesuisse die Erhöhung des Frauenrentenalters als vordringliches Problem, welches nun ohne Konzessionen durchzubringen sei, um dann weitere «Reformen» anzugehen.

Konsens beim Frauenrentenalter Tatsächlich herrscht nur in der Frage der Erhöhung des Rentenalters der Frau Harmonie in den beratenden Gremien. Die Meinung scheint dermassen einhellig zu sein, dass gar nicht viele Worte darüber verloren werden. In den Vernehmlassungstexten taucht gelegentlich auf, dass Frauen bei gleicher Arbeit tiefere Löhne haben und es deshalb ein bisschen «ausgleichende Gerechtigkeit» wäre, ein Jahr früher in Rente zu gehen. Aber die Umfrageresultate zeigen eine grosse Akzeptanz der Erhöhung, weshalb ReformistInnen diesen Kampf nicht ernsthaft in Angriff nehmen.

Gebären gegen die Krise?

Der konfrontative Kurs ist nicht ohne Chance und wird seit Jahren propagandistisch vorbereitet, indem Angst geschürt wird: Es wird uns eingebleut, dass die AHV kaputt gehe, wenn nicht sofort gespart werde. Die demografische Zeitbombe, wonach demnächst ganz wenige Arbeitende ganz viele RenterInnen zu finanzieren haben, wird in den Medien breitgetreten. Schuld an der heraufbeschworenen Bedrohung der AHV wären demnach nicht die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt, sondern die Frauen, die notorisch zu wenige Babys gebären. Am Stadtrundgang zur AHV von 2007 haben wir deshalb gesagt: «Die kapitalistische Krise lassen wir uns nicht in die Gebärmutter schieben». Demographie mag zwar eine Wissenschaft sein, aber sie ist politisch motiviert. Während den Frauen des Trikonts vorgeworfen wird, sie hätten zu viele Kinder, geschieht in Europa das Umgekehrte. Beides mit Absicht. Denn für die Geburtenrate ist ja praktischerweise nicht der Kapitalismus verantwortlich, sondern die Frau. Ein Ablenkungsmanöver. Die Politik könnte die AHV sehr einfach retten, wenn sie progressiv wäre. Aber dafür müsste das Finanzierungsmodell verändert werden. Es ginge darum zu entscheiden, dass die Alten grundsätzlich ein Recht auf Rente haben und dieses staatlich garantiert wird. Denn die AHV und ihr Umlageverfahren sind bei der heutigen Finanzierung wohl tatsächlich bedroht, auch wenn es sehr viel stärker an der Arbeitslosigkeit als am Geburtenrückgang liegt.

«Altersvorsorge 2020»

Der Ständerat hat die Rentenreform «Altersvorsorge 2020» beraten und in einigen Punkten die Vorlage aus dem Bundesrat etwas entschärft. Nun geht das Dossier an den Nationalrat zur Beratung – dieser wird es mutmasslich wieder verschärfen. Der aktuelle Stand ist:

• Das Frauenrentenalter wird auf 65 Jahr erhöht, das Eintrittsalter flexibilisiert. Alle sollen im Alter zwischen 62 und 70 in Rente gehen können.

• Der Ständerrat fordert eine Erhöhung der AHV-Renten zum Ausgleich für die Kürzungen bei der Pensionskasse. Die Eintrittsrenten generell um CHF 70.- und der Plafond von Ehepaarrenten von 150  auf 155 Prozent.

• Witwen- und Waisenrenten werden nicht wie vom Bundesrat vorgeschlagen abgebaut.

• Bei der Pensionskasse wird wie vorgeschlagen der Umwandlungssatz von 6,8  auf 6 Prozent gesenkt. Der Koordinationsabzug (das Jahresgehalt, ab welchem Pensionskasse bezahlt werden muss) wird aber nicht wie vorgeschlagen ganz gestrichen, sondern gesenkt. Und es wäre neu ab dem 21. Altersjahr BVG einzubezahlen.

• Die Finanzierung soll über zusätzliche 0,3 Lohnprozente, die wie üblich zwischen Arbeitenden und Betrieb geteilt werden sowie über ein zusätzliches Prozent Mehrwertsteuer erfolgen. Der Bundesrat hatte 1.5 Prozent höhere MwSt vorgeschlagen. Auch das bereits existierende «Demografieprozent» der Mehrwertsteuer soll vollumfänglich der AHV zukommen. Die Vorlage von Berset sah vor, die Beteiligung des Bundes an der AHV von 19,5  auf 18 Prozent zu kürzen, was der SR abgelehnt hat.

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Die Mitte, die Linke und der Antisemitismus

kippaDie jüdische Gemeinde der Schweiz gibt zunehmend grössere Beträge für Sicherheitsvorkehrungen aus. Die Angst ist nicht unbegründet. Die Linke täte gut daran, sie ernst zu nehmen und sich problematischen Momenten im eigenen Lager zu stellen.

Kugelsichere Scheiben, Überwachungskameras und Securitas: jüdische Einrichtungen werden auch in der Schweiz zunehmend stärker gesichert. Diese Sicherheitsmassnahmen kosten Geld. Geld, das die jüdische Gemeinde selber aufbringen muss. Im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern erhalten – ausserhalb ausserordentlicher Bedrohungsszenarien – «religiöse Minderheiten» in der Schweiz keine finanzielle Unterstützung für Sicherheitsvorkehrungen. Aufgrund der steigenden Kosten hat die jüdische Gemeinde Zürich kürzlich staatliche Unterstützung gefordert. Dass das steigende Sicherheitsbedürfnis nicht nur durch die teilweise antisemitisch motivierten Anschläge islamistischer Mörderbanden im Ausland begründet ist, zeigt ein Blick in den Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). Dieser hatte für das Jahr 2014 mit 60 Ereignissen in der Deutschschweiz «so viele antisemitische Vorfälle wie noch nie» aufgelistet. Eine Studie der gfs Bern aus dem selben Jahr geht davon aus, dass in der Schweiz rund 10 bis 11 Prozent der Bevölkerung eine «systematisch antisemitische Einstellung» hat; das sind immerhin um die 800000 Personen. Es steht zu befürchten, dass die etwas subtileren Formen des Antisemitismus in der Studie nicht berücksichtigt wurden und die Zahl noch weitaus höher veranschlagt werden muss.

Die Linke und der Antisemitismus

Der Antisemitismus ist ein virulentes Problem, das viele politische Spektren betrifft. Die Rechte hat ihn fast immer mit viel Stolz vor sich hergetragen. Die Mitte zeigte trotz eigener Verstrickungen mit dem Finger auf die Radikalen, ohne verstehen zu können und zu wollen, dass sich der Antisemitismus aus den Strukturen ihrer so innig geliebten Gesellschaft speist. Die Linke wiederum bekundete je nach historischem Kurs Mühe, die Spurenelemente des Antisemitismus in ihren eigenen Reihen klar zu benennen und zu bekämpfen. Das hat verschiedene Gründe: Der antiimperialistische Kanon hat sich je nach Galionsfigur immer mal wieder mit einem brachialen Antizionismus verschmolzen, der die Grenze des Antisemitismus eins ums andere Mal überschritt. Natürlich ist nicht jede Kritik am Zionismus antisemitisch, aber in Zeiten in denen sich der Antisemitismus gerne mit der Ablehnung Israels und seiner Staatsideologie tarnt, muss man schon sehr genau hinhören, wer da was, warum und mit welchen Bildern kritisiert.

Ein weiteres Problem der Linken ist, dass sich der Antisemitismus als gegen oben gerichtete Ideologie darstellt. Darum nannte ihn August Bebel, die ungeheure Vielschichtigkeit des Phänomens verkennend, den «Sozialismus des dummen Kerls». Gegen das Finanzkapital oder die Weltverschwörung, der rebellische Antisemit weiss sich immer mit den Unterdrückten der Welt einig. Auch hier gilt es genau hinzusehen: Bloss weil jemand das Finanzkapital schlimm findet oder hinter dem Anschlag auf das World Trade Center eine Verschwörung vermutet, muss er natürlich kein Antisemit sein. Man muss sich aber die Argumentationsmuster genau anschauen und spätestens wenn Verschwörungstheorie und Zinskritik oder Bankenschelte zusammenfinden, landet man mit grosser Sicherheit beim Antisemitismus.

Der Zeigefinger der Mitte

Es sind diese problematischen Momente der Linken, die es mit sich brachten, dass sich die politische Mitte in die Pose des Mahners werfen konnte. Die deutlich antisemitische Karikatur der JUSO zur Spekulationsinitiative war ein Versehen, das kann man der raschen Reaktion der Jungpartei wohl entnehmen. Aber der Vorfall zeigt, dass mangelnde Sensibilität und Geschichtsvergessenheit kombiniert mit einer zu bestimmten Themen eingeschliffenen Bildsprache, gefährlichen Unsinn produzieren kann. Die hämischen Kommentare von Rechts, die den Antisemitismus in der Feindschaft der Linken zum Kapitalismus verorteten, sind aber vor allem eines: Die Legitimation ihrer eigenen Politik in der Diffamierung einer Alternative. Sie können und wollen nicht sehen, wie sich der Antisemitismus in den Strukturen des von ihnen geliebten Kapitalismus reproduziert: Versachlichung und Verschleierung gesellschaftlicher Beziehungen, eine bestimmte Ausgestaltung der Zirkulationssphäre, Prekarisierung der Lebenssituation, Leistungsdruck und Konkurrenz, nationale Separation und Identifikation… Die Liste kapitalismusspezifischer Ursachen von Ideologie im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen ist lang. Es wäre gerade die marxsche Kritik, die ein Antidot dazu sein könnte, weil sie Zusammenhänge aufzeigt und Strukturen offenlegt und weil sie die Totalität kritisiert, die der Antisemit nicht abschaffen, sondern bloss von besonderen «Auswüchsen» befreien will. Das aber will der gute Bürger der Mitte nicht hören. Er zeigt in seiner Linkenschelte auch auf jene, die mit dem ganzen Verhängnis und damit auch mit dem Antisemitismus aufräumen möchten.

Mehr Sensibilität

Wenn aber die Linke mit islamistischen Kräften Demonstrationen für Palästina organisiert, an denen auch Fahnen von antisemitischen Organisationen wehen (man muss sich bloss mal die Charta der Hamas durchlesen), dann geht das über ein Versehen hinaus. Dann gewinnt die Warnung der Mitte an Plausibilität. Man muss sich klar gegen die betreffenden Gruppen stellen und ihre Ideologie kritisieren. Das bedeutet keineswegs in einen moralischen Alarmismus zu verfallen, der die Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs durch die politische Mitte reproduziert. Aber die Linke muss dringend ihren Blick schärfen und sich von jeglichen antisemitischen Spurenelementen distanzieren. Und wenn die jüdische Gemeinde Zürich sich genötigt sieht vom Staat Unterstützung für die steigenden Sicherheitsvorkehrungen zu verlangen, dann sollte die Linke das ernst nehmen.

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«Bildung soll kostenlos sein»

Am 28. Februar bildungsdemooo im Kanton Zürich die Bildungsinitiative zur Abstimmung kommen. Im Gespräch mit dem vorwärts erklärt Harald Lukes, Mitglied des Initiativkomitees sowie der Kommunistischen Jugend Zürich, worum es geht und weshalb ein Ja in die Urne gelegt werden muss.

Was will die Bildungsinitiative und wer steckt dahinter?

Harald Lukes: Unsere Initiative, die von verschiedenen linken Organisationen, Studierendenverbänden und Gewerkschaftsgruppen gestützt wird, will die Bildung an den öffentlichen Schulen kostenlos machen. Das bedeutet, die Bildungseinrichtungen von der Primarschule über die Berufsschulen bis zur Universität sollen nichts mehr kosten. Sie will die Kosten für das Schulmaterial an den Berufsschulen und die Studiengebühren an den Universitäten abschaffen. Auch Ausflüge mit der Schulklasse und der Instrumentalunterricht sollen gratis werden. Die Bildung sollte kostenlos sein, damit auch für wirklich alle Lernenden, SchülerInnen und Studenten der Zugang dazu gewährleistet ist. Die Kosten machen es den schlecht Verdienenden schwerer, sich für eine höhere Bildung zu entscheiden, und halten sie deshalb eher davon ab, an die Universität zu gehen. Nur schon für eine Lehre stellen die Bildungskosten eine schmerzhafte Hürde dar: Die Lernenden haben sowieso schon tiefe Löhne und müssen dazu noch das Schulmaterial bezahlen.

Kostenlose Bildung, tönt gut. Aber wie wollt ihr das finanzieren? Hat das Initiativkomitee einen konkreten Vorschlag zur Finanzierung gemacht?

Es muss gesagt werden: Die Kosten, die die Initiative verursachen würde, wären nicht einmal 1 Prozent des kantonalen Budgets. Zur Finanzierung hat das Initiativkomitee keinen konkreten Vorschlag gemacht, es wird dem Kanton überlassen, wie er das machen möchte. Wir von der Kommunistischen Jugend würden gerne die Unternehmen dafür bezahlen lassen.

Die Unternehmen?

Ja. Diese machen doch mit der Arbeit der Lernenden riesige Millionengewinne. Auswendig weiss ich zum Beispiel für 2009, dass die Arbeitsleistung der Lernenden den Betrieben Einnahmen in der Höhe von 5,8 Milliarden Franken eingebracht hat, während die Ausgaben für die Lernenden nur 5,3 Milliarden betrugen. Den Unterschied von 500 Millionen konnten die Unternehmen als Gewinne für sich behalten.

In der Bildung wird gegenwärtig stark gespart. Macht es da Sinn, für noch mehr Kosten zu
sorgen?

Die Bildungsinitiative setzt sich dem Trend entgegen, immer mehr einzusparen und zusammen zu kürzen. Dieses Jahr will die Regierung im Kanton Zürich bei der Bildung wieder 50 Millionen einsparen und der Bundesrat möchte bei der Bildung und der Forschung ab 2017 jedes Jahr 250 Millionen kürzen. Es stellt sich die Frage: Wieso muss denn überhaupt gespart werden? Weil die Bürgerlichen den Unternehmen in der Vergangenheit ein Steuergeschenk nach dem anderen gemacht haben. Etwa die Unternehmenssteuerreform II; damit wurde ein Steuerloch von 7 Milliarden Franken für den Bund erzeugt. Und statt das notwendige Geld für die Bildung bei den Unternehmen zu holen, werden uns diese Sparprogramme aufgezwungen. Gleichzeitig werden weiter Steuergeschenke gemacht, bald steht die Unternehmenssteuerreform III an, die wieder Milliarden an Steuerausfällen verursachen wird. Die Folgen dieser Sparprogramme haben wir, die Arbeitenden, zu tragen. Wir müssen uns mit einer schlechteren Bildung begnügen und uns mit grösseren Klassen und höheren Kosten für die Lernenden und Studierenden abfinden.

Wem nützt die Initiative am meisten?

Es sind vor allem ärmere, schlecht verdienende Personen, der sie am meisten Nutzen bringt. Solange es Ausbildungsgebühren gibt, werden gerade Leute aus ärmeren Schichten von der Bildung ferngehalten. Wer in einer armen Familie zur Welt kommt, der hat eine grosse Chance, auch arm zu sterben. Reichere hingegen vererben ihren Reichtum und ihre Bildungsprivilegien. So kommt etwa die Hälfte der Studierenden schon aus Familien, die selbst studiert haben. Es ist also eine Elite, die grösstenteils unter sich bleibt.

 

Die Bildungsinitiative ging ursprünglich von Studierenden der Uni Zürich aus, der Verband der Studierenden unterstützt sie.Tatsächlich wurde sie ursprünglich von Studierenden lanciert. Sie entstand als Reaktion auf die Erhöhung der Studiengebühren. Aber es geht bei der Bildungsinitiative um viel mehr. Der Umgang mit Bildung hat sich in eine völlig falsche Richtung entwickelt, dagegen muss endlich Widerstand geleistet werden. Die Bildungsinitiative unterstützt gerade auch SchülerInnen, Berufslernende und deren Eltern. Wie schon erwähnt würden durch die Bildungsinitiative alle Weiterbildungen kostenlos. Auch die Bücherkosten an den Berufsschulen würden wegfallen, genauso wie die für das Schreibmaterial, Ausflüge und Musikunterricht. Sie müssten nicht mehr von den Lernenden oder ihren Eltern bezahlt werden. Als Konsequenz wird die Bildungsinitiative den SchülerInnen und Lernenden der Mittel- und Berufsschulen am meisten nützen, verhältnismässig weniger stark den Studierenden. Trotzdem geht sie Studierende und Lernende gleichermassen an.

Weitere Infos: www.bizh.ch

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Schluss mit Lohndumping

geldDer Kampf um Lohndumping geht in die nächste Runde: Am 28. Februar ist die Stimmbevölkerung im Kanton Zürich dazu aufgerufen, über verschärfte Massnahmen gegen Lohnunterbietungen abzustimmen. Grosskonzerne und Politik sind nicht erfreut.

Ende Februar steht im Kanton Zürich ein gewichtiges Thema auf dem Stimmzettel: die Lohndumping-Initiative der Gewerkschaften. Um das florierende Geschäft mit der Billigarbeit einzudämmen, sollen die Behörden künftig Arbeitsstopps verfügen können, sofern ein Verdacht auf Lohndumping besteht und sich die verantwortlichen Unternehmen nicht kooperativ zeigen. Der Betrieb müsste dabei solange ruhen, bis der Fall geklärt ist.

Zwar hat das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) bereits heute, im Rahmen der flankierenden Massnahmen, die Möglichkeit, einem fehlbaren Unternehmen nicht nur Lohnnachzahlungen, sondern auch Konventionalstrafe und Sanktionen aufzuerlegen – doch wiegen diese Strafen für Grosskonzerne nicht schwer. Eine Busse von bis zu 5 000 Franken zahlen sie aus der Portokasse; eine Arbeitssperre bis zu fünf Jahren kann durch die Gründung eines neuen Unternehmens umgangen werden. Und: Bis ein Fall von Lohndumping definitiv geklärt ist, können bis zu fünf Jahren ins Land gehen, wie die NZZ jüngst vorrechnete. Bis dahin «sind die jeweiligen Arbeiten abgeschlossen und die Firma möglicherweise über alle Berge», so die Unia. Um dies zu verhindern, müsse frühzeitig gehandelt werden können.

Das «Lohndumping-Konstrukt»

Darüber, mit welchen perfiden Methoden Lohndumping betrieben wird, ist mittlerweile – insbesondere aus der Baubranche – einiges bekannt. Zu einem beliebten Mittel gehört etwa die sogenannte «Scheinselbständigkeit». Dabei werden ArbeiterInnen, zumeist aus dem Ausland, von Firmen dazu angeregt, eine «Ich-AG» zu gründen und als solche Aufträge auszuführen. Mit diesem Trick können die Unternehmen Gesamtarbeitsverträge (GAV) und somit geltende Mindestlöhne umgehen.

Hilfreich, um die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse und Lohnzahlungen zu verschleiern, ist zudem die Weitergabe von Teilaufträgen an Sub- und Subsubunternehmen. Während das Unternehmen, das sich den Auftrag gesichert hat, seine Stammbelegschaft korrekt bezahlt, holen sich die Sub- und Subsubunternehmen, an die Teile des Auftrags ausgelagert werden, BilligarbeiterInnen aus Süd- und Osteuropa. Die ArbeiterInnen schlafen in Containern, manchmal direkt an der Baustelle, arbeiten statt 42 bis zu 60 Stunden die Woche und erhalten einen Lohn, der weit unter dem geltenden Mindestlohn liegt. Um dies zu vertuschen, werden sie dazu angehalten, KontrolleurInnen anzulügen und gefälschte Arbeitszeitrapporte sowie Lohnabrechnungen vorzuweisen.

«Alltag auf Zürcher Baustellen»

Aus Sicht der Unia ist dieses «Lohndumping-Konstrukt» zum «Alltag auf Zürcher Baustellen geworden». So wurden im vergangenen Jahr etwa auf der Baustelle Hardturmpark über mehrere Monate Dunpinglöhne von 10 Franken die Stunden bezahlt und beim Grossprojekt Mattenhof in Schwammendingen systematische Verletzungen durch mehrere Subunternehmen festgestellt. In beiden Fällen sahen sich die BauherrInnen nach gewerkschaftlicher Beweisführung und Streiks dazu gezwungen, hohe Lohnnachzahlungen zu leisten.

Die Liste von Verstössen dürfte insgesamt um einiges länger sein als bekannt. Die Arbeitskontrollstelle für den Kanton Zürich (AKZ) registrierte allein im letzten Jahr 3 500 Fälle, bei denen Verdacht auf Verletzung eines GAV besteht. Die Fälle, bei denen die Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden konnten, seien «nur die Spitze des Eisbergs», heisst es seitens der Unia.

Dass Lohdumping ein «Problem» ist, finden mittlerweile, zumindest offiziell, auch Politik und Konzerne, es brauche aber höchstens «Verbesserungen im Vollzug» der flankierenden Massnahmen, heisst es. FDP, CVP und GLP versuchten im Kantonsrat das Volksbegehren gar für ungültig erklären zu lassen, da die flankierenden Massnahmen im Bundesrecht geregelt seien und es für kantonale Bestimmungen «keinen Raum» gebe. Dabei kennen bereits die Kantonen Basel-Land und Genf eigene Gesetze gegen Lohndumping.

Klar ist: Sollte die Vorlage im Kanton Zürich angenommen und Arbeitsstopps künftig tatsächlich verfügt werden, würde das die UnternehmerInnen dort treffen, wo es am meisten weh tut. Denn: Eine ruhende Baustelle kostet die Herrschaften weitaus mehr als drohende Bussen.

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Nichts geschenkt

schweizer fahnDie Schweiz nimmt Flüchtlingen bei ihrer Einreise das Bargeld ab. Usus ist das bereits seit mehr als 20 Jahren. Die Behörden verteidigen das Vorgehen.

Es sind Bilder, die international hohe Wellen schlugen: «1380 Schweizer Franken», steht auf dem Zettel, den der syrische Flüchtling A.T. dem Reporterteam des Schweizer Fernsehens in die Kamera hält. Es ist die Quittung für den Betrag, den die Polizei dem Schutzsuchenden bei der Einreise in Zürich abgenommen hat. Von ursprünglich 2387 Schweizer Franken bleibt dem Familienvater weniger als die Hälfte. Er habe von dem Geld Kleidung für seine Familie kaufen wollen, sagt A.T. Doch das eingezogene Geld wird nur dann zurückerstattet, wenn er das Land innerhalb von sieben Monaten freiwillig verlässt. Andernfalls wird die Barschaft einbehalten – als Anzahlung für die Kosten, die durch seinen Aufenthalt in der Schweiz «verursacht» werden.

Gesetzlich verankertes «Raubrittertum»

Der Beitrag, der am 21. Januar in der Sendung «10vor10» ausgestrahlt wurde, zeigt eine ähnliche Praxis, wie auch Dänemark sie kürzlich beschlossen hat. Nur: In der Alpenrepublik ist die sogenannte «Vermögensabnahme» bereits seit dem Jahr 1992 Gesetz. So sind Geflohene, die in der Schweiz Zuflucht suchen, verpflichtet, bei der Einreise ihre gesamten Vermögenswerte zu deklarieren. Alles, was den Wert von 1000 Schweizer Franken übersteigt, darf vom Staat konfisziert werden. Dazu gehören Geld, Bankguthaben und Wertgegenstände, wobei man «persönliche Gegenstände» wie Eheringe nicht an sich nehmen würde, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) in einer Mitteilung betont. Darüber hinaus seien nur wenige Menschen von der «Vermögensabnahme» betroffen, so Léa Wertheimer, Sprecherin des SEM. Von «theoretisch» 45000 Betroffenen, die in der Schweiz im vergangenen Jahr Schutz suchten, sei bei 112 Personen ein Gesamtwert von 210000 Schweizer Franken eingezogen worden. «Die allermeisten Flüchtlinge, die die Schweiz erreichen, scheinen mittellos zu sein», so Wertheimer.

Gänzlich unumstritten ist die herrschende Regelung jedoch nicht. So bezeichnete Stefan Frey, Sprecher der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH), das Vorgehen der Behörden als «Raubrittertum». Die Flüchtlingshilfe sei zwar nicht gegen den Einzug von Vermögen, aber gegen die Art und Weise, wie diese geschehe, erklärte Frey auf Anfrage. Ein grösserer Dorn im Auge als die «Vermögensabnahme» ist der Flüchtlingshilfe indes die sogenannte «Sonderabgabe». So haben asylsuchende und vorläufig aufgenommene Personen, die trotz langwieriger Bewilligungsverfahren eine Arbeitsstelle finden, während zehn Jahren bis zu zehn Prozent ihres Gehalts an den Staat abzuliefern. Betroffen davon sind alle Personen ab dem 18. Lebensjahr, Auszubildende eingeschlossen. Die «Sonderabgabe» hat zum Zweck, dem Staat die in der Erwerbslosigkeit entstandenen Ausgaben für Leistungen wie «Fürsorge-, Ausreise- und Vollzugskosten» zurückzubezahlen. Aus Sicht der Flüchtlingshilfe handelt es sich hierbei um eine «ungerechtfertigte Doppelbelastung» von arbeitstätigen Flüchtlingen, da diese auch steuerpflichtig seien. Das SEM hält dagegen, dass es sich bei der «Sonderabgabe» um keine Diskriminierung oder Benachteiligung von Flüchtlingen handle. «Auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz müssen die Kosten zurückerstatten, die sie der Sozialhilfe verursachen», erklärt SEM-Sprecherin Wertheimer.

«Sonderabgabe» soll ersatzlos gestrichen werden

Tatsächlich müssen BürgerInnen, die im Wohlstandsland Schweiz einmal auf Hilfe angewiesen sind, dem Staat das Geld für die bezogenen Leistungen zurückgeben. Der Gesamtbetrag, der eine asylsuchende oder vorläufig aufgenommene Person über «Sonderabgabe» zu berappen hat, richtet sich derweil aber nicht nach tatsächlich bezogenen Leistungen, sondern beläuft sich, über zehn Jahre, auf eine Pauschale von 15000 Schweizer Franken pro Person. Jährlich nimmt der Bund auf diesem Weg rund vier Millionen Schweizer Franken ein.

Diese Einnahmen dürften bald jedoch wegfallen. Die «Sonderabgabepflicht» soll in den kommenden Jahren «ersatzlos» gestrichen werden. Grund dafür ist die im Februar 2014 angenommene «Masseneinwanderungsinitative», die verlangt, dass die Einwanderung beschränkt und inländisches «Potential» an Arbeitskräften besser genutzt wird. Wie der Bundesrat in einem Bericht vom Februar 2015 schreibt, würde mit dem Wegfall der «Sonderabgabe» sowie Ersetzung der Bewilligungs- durch eine Meldepflicht der «administrative Aufwand bei der Anstellung» für Unternehmen reduziert und für Flüchtlinge «die Annahme einer Arbeit auch im Niedriglohn- oder Teilzeitbereich» lukrativer machen. Dadurch würde sich auch der Bezug von Sozialhilfe verringern, womit die Ausfälle durch die gestrichenen «Sonderabgaben» kompensiert werden sollen, rechnet der Bund vor. Erfreut über die Absichten des Bundesrats zeigt sich demnach nicht nur die Flüchtlingshilfe, sondern auch ein Grossteil der Unternehmerverbände. Keine Änderung geben soll es indes bei der «Vermögensabnahme». So wird es auch Zukunft heissen: Wer nach der Flucht in die Schweiz noch etwas hat, dem wird es genommen.

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Öffentlich gekürzt

unia.streik.1.11. 040Infolge einer desaströsen Steuerpolitik drohen dem Service public schmerzhafte Sparprogramme. Die Gewerkschaften leisten laustark Widerstand.

Die Parlamentswahlen waren gerade vorbei, als der Bundesrat die konkreten Pläne bekannt gab, in den kommenden Jahren jedes Jahr rund eine Milliarde Franken im Bundeshaushalt zu sparen. Ein Drittel davon soll der Bund bei sich selber ansetzen, weshalb «namhafte Kürzungen im Personalbereich vorgesehen» sind. In den einzelnen Kantonen wird ebenfalls radikal der Rotstift angesetzt: In Genf sollen die Lohnkosten der Staatsangestellten um 5 Prozent gekürzt, die Arbeitszeit auf 42 Wochenstunden verlängert und ein Einstellungsstopp erlassen werden. 10 000 Menschen sind dagegen auf die Strasse gegangen. Dem Kanton Luzern steht ein «gigantisches Sparpaket» von 330 Millionen bevor. In Zürich regt sich unter den SchülerInnen und LehrerInnen heftiger Widerstand gegen die beschlossenen Kürzungen im Bildungsbereich. Zwei Drittel aller Kantone drehen dieses Jahr die Sparschraube an. Mehr als die Hälfte aller Städte in der Deutschschweiz wird Sparmassnahmen umsetzen.

Fundamentale Veränderungen

Vor diesem bedrohlichen Hintergrund haben der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und die Personalverbände zu einer Tagung eingeladen unter dem Leitspruch «Den Service public stärken. Jetzt erst recht!». Giorgio Tuti, Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, wusste aber auch von einem ersten Erfolg zu berichten: Infolge der grossen Protestaktionen in Genf, an denen sich das Personal und die Personalverbände gemeinsam wehrten, konnte erreicht werden, dass die geplanten Sparmassnahmen aufgeschoben und die Regierung ohne Vorbedingungen mit den Gewerkschaften verhandeln wird. Er verortet das Problem aber tiefer: Die einst stabilen Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst haben sich fundamental verändert. Im gleichen Betrieb arbeiten heute Festangestellte neben Mitarbeitenden mit befristeter Anstellung und viel schlechteren Löhnen. Das Personal steht unter dauerndem Rechtfertigungsdruck; es zählt nicht mehr die Arbeitsleistung, sondern die Kosten, die der Einzelne verursacht. Verstärkt werden die Probleme durch die Angriffe der Bürgerlichen. Die rechten Medien hetzen kontinuierlich gegen den Service public, während die neue bürgerliche Mehrheit im Parlament ihn nun ganz grundsätzlich infrage stellt. «Wir müssen den Service public wieder stärken, wir müssen die Abbau- und Sparmassnahmen verhindern», forderte Tuti im Gegensatz dazu.

«Wir sind dabei, etwas zu verlieren»

Franz Schultheis, Professor für Soziologie an der Universität St. Gallen, machte die Veränderungen im Service public deutlich. In einer Studie hatte er Beschäftigte des öffentlichen Dienstes über ihre Arbeitsbedingungen befragt. Eine besonders starke Transformation habe die Post durchgemacht: Sie sei immer mehr zu einem Supermarkt verkommen. Er zitierte eine Postangestellte, die die Veränderung treffend beschreibt: «Wenn ein Kunde eine Einzahlung machen kommt, bediene ich ihn nicht, ich verkaufe ihm etwas.» Die Strategie des Verkaufes und der Maximierung der Profite ist ein typisches Muster im Service public. «Der Idealtypus Detailhandel, der sich überall durchsetzt, stellt eine wirkliche Infragestellung der eigentlichen Kernaufgabe des Service public dar.»

In der anschliessenden Diskussion wurden die beobachteten Veränderungen im Service public von den TeilnehmerInnen der Tagung bestätigt. Auch bei den Schweizerischen Bundesbahnen sowie im Gesundheitswesen gäbe es die Tendenz zur Ökonomisierung. Ein Gewerkschafter aus dem Spitalbereich stellte fest: «Bei uns gibt‘s keine Patienten mehr, sondern Kunden.»

Auf die Frage, wie er selber zu der Transformation des öffentlichen Dienstes stehe, antwortete Schultheis, dass der Service public seinen Sonderstatus behalten müsse. Man dürfe hierbei konservativ sein und für seine Bewahrung kämpfen, denn: «Wir sind dabei, etwas zu verlieren.»

Die Gesundheitsökonomin Anna Sax sagte: «Mir hat noch nie jemand erklären können, wie die Privatisierung eine Verbesserung darstellt.» Es gebe keine empirische Evidenz dafür, es sei eine rein ideologische Frage. Die Verwirtschaftlichung der öffentlichen Hand betrifft nicht nur ihre einzelnen Teilbereiche. «Die Kantone verstehen sich zunehmend als Unternehmen», konstatierte Daniel Lampart, Chefökonom des SGB. Sie müssen rentieren und stets volle Kassen haben. Das sei ein fundamentaler Denkfehler. Denn die Kantone dürfen Schulden haben. «Das ist der grosse Unterschied zu einer Aktiengesellschaft. Wir, die Bevölkerung, sind der Staat, wir sind die Kantone und solange es uns gut geht, geht‘s dem Kanton auch gut, egal wie seine Zahlen aussehen.» Die Schulden dienen als Argument in der Finanzpolitik. Die finanzielle Lage der Kantone wird dramatisiert wie die Analyse von Lampart zeigt: «Erstens neigen die Kantone dazu, zu pessimistisch zu budgetieren, so dass die Kantonsfinanzen in Wirklichkeit besser sind als in den düsteren Zukunftsszenarien. Zweitens wird die kantonale Verschuldung überschätzt, denn die Kantone haben mehr Vermögen als Schulden.»

Ein Projekt mit dramatischen Auswirkungen steht vor der Tür

«Die Schweizer Kantone haben im internationalen Vergleich sowohl für juristische als auch für natürliche Personen tiefe Steuern. Bei dieser Ausgangsbasis ist es kaum möglich, über Steuersenkungen weitere Unternehmen und Gutverdienende anzuziehen.» Die Steuerbelastung ist lediglich für den Standort- und Investitionsentscheid hochmobiler Gesellschaften relevant, spielt für die übrigen Unternehmen jedoch beinahe keine Rolle. Wichtiger sind qualifizierte Arbeitskräfte, gute Infrastruktur und Absatzmöglichkeiten. Wird infolge von Steuersenkungen und Einnahmeausfällen bei Bildung und Infrastruktur gespart, wirke sich das negativ auf die Wirtschaft aus. Einen Input aus dem Publikum gab Urs Stauffer, Steuerverwalter der Stadt Biel. «Die Tendenz, natürliche Personen steuerlich stärker zu belasten, wird sich in Zukunft fortsetzen.» Ein Projekt mit dramatischen Auswirkungen stehe vor der Tür: Die Unternehmenssteuerreform III. In der städtischen Steuerkonferenz wurde berechnet, welche Steuerausfälle die Reform produzieren wird. «Auf kommunaler Ebene kamen wir auf 1,3 Milliarden Franken Steuersubstrat, das vernichtet wird. Bei den Kantonen rund 2 Milliarden.» Die Stadt Zürich allein würde zwischen 200 und 300 Millionen verlieren. Die Schweizer Regierung will als Kompensation den Kantonen eine Milliarde Franken zur Verfügung stellen. Aber: «Im Kanton Bern reicht das nicht mal, um die Steuerausfälle von unseren Städten Bern und Biel zu finanzieren.» Die Folgen werden laut Stauffer brutal sein: «Wir werden mit der Unternehmenssteuerreform III sicher Sparprogramme erleben, wie wir sie bis jetzt noch nie hatten.»

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Kämpferische Demo statt Lichterkette

bildungsdemoKämpMit dem Zürcher Manifest riefen verschiedene Verbände und Institutionen zum Protest gegen die geplanten Kürzungen in der Bildung im Kanton Zürich auf. Die Kundgebung, welche die Aktionen, die tagsüber im ganzen Kanton stattfanden, beschliessen sollte, wurde aber drei Tage vor dem «Tag der Bildung» abgesagt. Bildung sei ein Investitionsgut, bei dem nur eines teurer sei, als mehr auszugeben: zu sparen. So liessen Personalverbände aus dem Bildungsbereich, verschiedene Rektorenkonferenzen, Elternverbände, die Hochschulen und auch eine SchülerInnenorganisation in ihrem «Zürcher Manifest» verlauten. Auf Basis dieses Manifestes, sollten durch den eigens für den 13. Januar gegründeten Verein «Tag der Bildung» Aktionen an den Schulen und Hochschulen im Kanton Zürich stattfinden. Am Ende der Aktionen sollte mit einer Kundgebung und Lichterkette auf dem Bürkliplatz das Ende des «Tag der Bildung» eingeläutet werden.

Unsere Antwort auf eure Politik

Die Aktionen zum «Tag der Bildung» wurden von Beginn weg von bürgerlicher Seite kritisiert. Vor allem die FDP und die SVP monierten, dass zwar bekannt sei, dass in den nächsten drei kantonalen Budgets des Kantons Zürich jährlich rund 48 Millionen eingespart werden sollten, wo genau gekürzt werden sollte, sei aber noch nicht klar, was jeglichem Protest die Legitimität nehme. Auch von linker Seite gab es Kritik. Das Aktionsbündnis «Kämpfen für Bildung» fand insbesondere den neoliberalen Bildungsbegriff im Zürcher Manifest stossend, kritisierte, dass Kürzungen ausserhalb des Bildungssektors nicht ebenso in die Kritik des Vereins «Tag der Bildung» einbezogen wurden und riefen dazu auf, sich im Anschluss an die Kundgebung die Strasse für eine unbewilligte Nachdemo zu nehmen.

Die Ankündigung einer Nachdemo jagte den OrganisatorInnen der Kundgebung mit Lichterkette den Schrecken in die Knochen. Nachdem die Zürcher Kantonspolizei den MittelschulleiterInnen des Kantons Zürich ankündigten, dass sie im Falle einer unbewilligten Nachdemo nicht für die Sicherheit der Kundgebung garantieren könnten, sagten die RektorInnen ihre Veranstaltung ab. Im Vorfeld zur Absage wurden sowohl von den bürgerlichen Medien wie auch vom Verein «Tag der Bildung» eine regelrechte Diffamierungskampagne gegen das Aktionsbündnis betrieben. So hätte die Benutzung des Begriffs «Kämpfen» seitens des Bündnisses von Anfang an klar gemacht, dass es den OrganisatorInnen der Nachdemo nur um Gewalt ginge. Mittlerweile ist bekannt geworden, dass einige LehrerInnen ihre SchülerInnen von der Nachdemo fernhielten, indem sie verbreiteten, dass es bei der Nachdemo sowieso zu Gewalt käme und den SchülerInnen, die trotzdem dorthin gingen, der Schulverweis drohe. Das Aktionsbündnis kommunizierte gleichzeitig, dass von der Nachdemo keine Gewalt ausgehen werde. Trotz der Androhung von Repressalien und den Verleumdungen fanden am 13. Januar rund 700 Personen, AktivistInnen, SchülerInnen, Studierende und auch manche Eltern und LehrerInnen den Weg an den Bürkliplatz zur nichtbewilligten Demo des Aktionsbündnisses. Nach einigen Redemeldungen, deren Inhalt vor allem eine Botschaft enthielt – Bildung müsse der Profitlogik der Märkte entzogen werden – setzte sich die Demo in Bewegung. Mit lauten Sprechchören skandierten die Demonstrierenden «Kampf in der Schule, Kampf in der Fabrik – das ist unsere Antwort auf eure Politik». Die Polizei war mit einem enormen Aufgebot in Vollmontur, mit Mehrfachwerfern im Anschlag und zwei Wasserwerfern vor Ort und lenkte die Demonstration um die mehrbesseren Einkaufsviertel der Stadt herum. Trotz der martialischen Atmosphäre blieb der Demonstrationszug friedlich.

Gemeinsam kämpfen statt spalten

Der Umstand, dass die SchulleiterInnen in vorauseilendem Gehorsam eine Kundgebung absagten, um im gleichen Atemzug die Bewegung gegen Sparprogramme zu spalten, demonstriert eindrücklich, wie politische Naivität den Erfolg von gesellschaftlichen Kämpfen gefährden kann. In der Hoffnung den Bürgerlichen mit knalligen, bunten – aber zahnlosen Aktionen – so zu gefallen, dass sie sich entscheiden, doch lieber im Sozialen und bei der Gesundheit statt im Bildungswesen zu sparen, erwies sich als vollendete Tagträumerei. Die Gewerkschaft VPOD hatte in ihrer Erklärung, die sie als Folge der Absage herausgab, recht, als sie sagte, dass etwas mehr Gelassenheit angebracht gewesen wäre. Den Lügen der Polizei, dass für die Sicherheit der Kundgebung nicht garantiert werden könne, wurde unkritisch aufgesessen und als Hauptfeind wurden linke KürzungsgegnerInnen wahrgenommen, während man mit den UrheberInnen der Sparübungen den Dialog suchte. Das Ziel der Bürgerlichen, die Bewegung zu spalten, haben die SchulleiterInnen als willige VollzugsgehilfInnen gleich selber in Angriff genommen und erreicht. In seiner Wirkung blieb der Kampf gegen die Kürzungsmassnahmen im Kanton Zürich, die die logische Folge einer Politik von Steuergeschenken für Unternehmen und Superreiche ist, weit hinter den Kämpfen, die geeint und auf der Strasse in Luzern oder Genf geführt worden sind.

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