hans peter gansner. Kunst soll seit der Antike gefallen und bilden – so dachte man zumindest bis ins 19. Jahrhundert. Seither ist ein Wandel eingetreten: Kunst provoziert, wenn neue Stile entstehen. Heiner Müller sagte über die Politik: «Das erste Gefühl beim Auftritt des Neuen ist der Schrecken». Dies gilt heute auch bei einem grossen Teil der innovativen Kunstproduktion.
Was wirklich Kunst sei, war schon seit eh und je ein Zankapfel – der KritikerInnen. Die KünstlerInnen selber wussten es aber immer schon: Van Gogh, der von der Kunstakademie abgelehnt wurde mit der Begründung, er könne ja nicht einmal einen Stuhl in der richtigen Perspektive malen (heute ist das berühmte Gemälde seines Zimmerchens in Arles mit dem Strohstuhl in der Ecke Millionen wert), über Marcel Duchamps Flaschentrockner und Andy Warhols Suppendosenetiketten bestand bis heute ein wesentliches Merkmal der Avantgarde im gesellschaftlichen Skandal. In Basel war das Brancusi-Fudi in den Siebzigerjahren das Fasnachtsthema, und der Tinguely-Brunnen, das Prunkstück neben dem Restaurant Kunsthaus, heute der beliebteste Aufenthaltsort der Basler an besonders heissen Tagen, wurde damals von der NA (Nationale Aktion) als ein Haufen Schrott bezeichnet und in einer Nacht- und Nebel-Aktion verunstaltet.
Vaclav Pozarek oder die Liebe zur Geometrie
Das Bündner Kunstmuseum in Chur avancierte in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem Tempel der Gegenwartskunst. Jetzt kann das Publikum sich von dem in der Nähe von Bern lebenden tschechischen Künstler Vaclav Pozarek durch das Labyrinth seiner «Library of Sculptures» führen lassen. Graubünden war immer schon ein Nährboden für moderne und avantgardistische KünstlerInnen. Das Klima und das antifaschistische Exil spielten dabei eine wichtige Rolle. Ernst Ludwig Kirchner musste sich von seinem Lungenleiden erholen, war aber arm wie eine Kirchenmaus. Als er einmal dem Pöstler von Davos ein Bild schenken wollte, weil er nicht genug Geld für einen ungenügend frankierten Brief hatte, soll dieser dankend abgelehnt haben: Er glaube nicht, dass seine Frau Freude hätte, wenn er mit einem solchen Schwarten nach Hause komme. Das Bühnenbild, das Kirchner gratis für eine Dorftheatertruppe malte, wurde nach dem Krieg in Stücke geschnitten und in die USA verschifft, wo New Yorker Kunsthändler damit Millionen verdienten. Unsere «Eigenen» dagegen waren oft zur Emigration gezwungen, wie Alberto Giacometti (Paris) oder heute Not Vital aus dem idyllischen Engadiner Dörfchen Sent (USA), ein Vorkämpfer der «Land Art», oder Gaspare O. Melcher, der als Bürger von Tschlin in Chur geboren wurde und auch hier aufgewachsen ist, jedoch schon lange in Italien lebt und arbeitet. Ich kann mich erinnern, wie ich Caspare Melcher damals, anfangs Siebzigerjahre, in seinem Atelier in der Herengracht im Zentrum von Amsterdam besuchte, wo er seine Endlosvarianten auf wandgrosse Leinwände malte: ein unvergessliches Erlebnis (Walter Lietha hat die Dokumentation im Calven Verlag, Chur, herausgegeben). Auch der aus Chur stammende international bekannte Foto- und Installationskünstler Hans Danuser ist inzwischen in New York ebenso heimisch geworden wie in Zürich und im Bergell. Er geniesst im Bündner Kunstmuseum Chur grosszügiges Gastrecht. Was Not Vital betrifft: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mich die damalige Bündner Zeitung anfragte, ob ich Vitals «Not Vital Action» besprechen könne: die Kulturredaktion wisse nicht, ob das armdicke Hanfseil, das sich da aus der Galerie in der Kirchgasse um die Martinskirche schlängle, um sich dann in der Altstadt zu verlieren, Kunst, harmloser Unfug oder Scharlatanerie sei.
Labyrinth der Gegenwartskunst…
Im gleichen Spannungsfeld spielen sich die «Werke» Vaclav Pozareks ab, bestehen sie doch «eigentlich» nur aus einem riesigen Sammelsurium von jahrelang geduldig gesammelten fotografischen Reprografien, collagiert, montiert oder einfach «à l’état brut», die dem Betrachter Rätsel über Rätsel aufgeben, aber in einen lustvollen Rausch von Impressionen, Reminiszenzen und Reflexionen versetzen. Nur dass man heutzutage nicht mehr, wie zu Zeiten des radikal engagierten Zeichners und Karikaturisten Martin Disteli, sagen kann: «Und fluchend steht das Volk vor seinen Bildern», sondern «das Volk», wenn es überhaupt seine Schritte in eine Ausstellung lenkt, steht meistens ratlos und kopfschüttelnd da. Ausser wenn ein Künstler wie Thomas Hirschhorn im «Centre Culturel Suisse» in Paris den Darsteller einer seiner Kunst-Inszenierungen in der Pose eines Hundes gegen ein Portrait urinieren lässt, das einem bekannten SVP-Politiker sehr ähnlich sieht. Item, wegen solchen Interpretationsproblemen ist es auch sehr wichtig, einen guten Katalog als Faden der Ariadne durch das faszinierende Labyrinth der Gegenwartskunst zu legen. Und dies haben Stephan Kunz und Max Wechsler mit ihren erklärenden Beiträgen zu Pozareks «Library of Sculptures» glänzend hingekriegt. Ein phantastischer Fotoband mit Abbildungen von Büsten bekannter und unbekannter Persönlichkeiten und Personen aus den verschiedensten Epochen und Kulturen ergänzt die Ausstellung «Library of Sculptures» (Verlag Scheidegger & Spiess), die man nicht verpassen sollte, wenn man im Frühling in die Ferien nach Graubünden fährt. Schon der idyllische Ort, eine Jugendstilvilla in einem sagenumwobenen Park mitten im ringsum brandenden Verkehrschaos der Bündner Metropole, ist es wert, bei der Durchreise einen Zug auszulassen und erst den übernächsten zu nehmen. (Bündner Kunstmuseum Chur, Postplatz Chur, bis zum 6. Mai 2012)
Kienholz: Installationen des Schreckens
Ich kann mich an den Schrecken erinnern, den ich anfangs Siebzigerjahre empfand, als ich im Kunst-haus Zürich zum ersten Mal zwischen den Grauen erregenden Installationen des amerikanischen Künstler-Ehepaars Kienholz wandelte. Der ganze Horror der Epoche mit Antikommunismus, Vietnamkrieg, Sexismus und Polizeibrutalität gegen Minderheiten war da in einer Art politisch-sozialer Geisterbahn mit lebensgrossen Statuen in Intérieurs zu sehen, die an Realismus nicht zu überbieten waren. Diese Ausstellung hat mich damals stärker politisiert als alle linken Reden und Bücher zusammen, die ich gehört und gelesen hatte… Nun kommt das Werk des Francisco Goyas des 20. Jahrhunderts nach Basel: Harte Bandagen empfehlen sich! («Kienholz: Die Zeichen der Zeit» ist eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle in Frankfurt, wo sie bis Ende Januar zu sehen war, in Kooperation mit dem Museum Tinguely. In Basel dauert sie bis zum 13. Mai.)
Der Genfer Provokateur
Wolfgang-Adam Töpffer (1766-1847) war der Vater des viel bekannteren Rodolphe Töpffer, Verfasser so bekannter Bücher wie den «Voyages en zigzag» und der «Nouvelles Genevoises» (alle kürzlich im Slatkine Verlag, Genf, neu publiziert), die er auch selbst mit Zeichnungen illustrierte, die in vielem an Wilhelm Busch erinnern. Rodolphe Töpffer, der auch ein Pensionat gründete, das aber nichts mit der heutigen «Ecole Töpffer» im Quartier de Champel in Genf zu tun hat, endete als fremdenfeindlicher, reaktionärer Eiferer. Auf ihn berief sich in den Dreissigerjahren eine rechtsradikale, Mussolini zu dienende Künstlergruppe unter Führung des antisemitischen Karikaturisten Noël Fontanet, die sich als «Les petits-fils de Töpffer» bezeichnete. Sie fiel auf durch spektakuläre kunstpolitische Happeninigs, die durchaus im heutigen Hirschhorn-Stil, aber politisch diametral gegenteilig verortet, abliefen und in der Genfer Arbeiterklasse für Empörung und Verwirrung sorgten, da die «Actions» den populären Linkspolitiker Léon Nicole zum Ziel hatten. Nun ist zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst eine Gesamtdarstellung des malerischen Werkes von Rodolphe Töpffers Vater, Wolfgang-Adam Töpffer, erschienen. Als 1789 in Genf die Revolution ausbricht, verliert er schlagartig sein Einkommen – unter den Waffen schweigen die Musen –, und er muss als Zeichenlehrer im Pensionat seines Sohnes Rodolphe Unterschlupf suchen. Zum Glück hat er hochrangige Mäzene, zu welchen sogar die Kaiserin Joséphine gehört. Doch in dem soeben bei Benteli publizierten Gesamtwerk entdecken wir überrascht, dass sich hinter dem als genialer Landschaftsmaler einer ganz eigenständigen deutsch-französischen Romantik, beliebt bei der ganzen europäischen Aristokratie und dem entstehenden Geldadel in der Schweiz, auch ein äusserst provokativer Karikaturist versteckte, was ihm in der intoleranten und engherzigen Stadt Genf selber keine Freunde machte. Man verwechselt ja immer wieder den so hoch gelobten «Esprit de Genève», den es eigentlich erst seit der Gründung des Roten Kreuzes, des Völkerbundes und der Uno gibt, und den «esprit genevois», der kleinlich, nachtragend, geldgierig und im Grunde bis heute zutiefst kunst- und geistfeindlich ist. Vater Töpffers beinah surrealistisch anmutenden Grotesken über die Genfer «Momiers», wie die calvinistischen Eiferer damals genannt wurden, machten im keine Freunde bei der Genfer Bourgeoisie, die fest an die Lehren des Kirchenreformators glaubte, der die Rhonestadt zu Glanz und Reichtum geführt hatte. Der Künstler schreibt denn auch etwas verbittert am Ende seines Lebens: «In Genf findet man die wenigsten meiner Werke», um mit übertriebener Bescheidenheit fortzufahren: «Ich fertigte viele Karikaturen verschiedenster Art an und war wohl in dieser Beziehung einigen Erfindungen der Zeit ein paar Schritte voraus». Das kann man wohl sagen, parbleu! Der Kunstwissenschaftler Lucien Boissonas hat dem prachtvollen Band eine kenntnisreiche Einleitung und einen Strauss Zitate über Vater Töpffer vorausgeschickt. (W.-A. Töpffer, 1766-1847, Peintures, Benteli Verlag, 2012).