Zeitenwende Schweiz

Zeitenwende Schweiz heisst auch: An vorderster Front für die Verteidigung der Festung Europa steht die SP.

dom. Europaweit wird unter dem Schlagwort «Zeitenwende» aufgerüstet – koste es, was es wolle. Und auch die Schweiz wird vom Rüstungswettlauf erfasst. Ein Blick auf die aktuellen Richtungskämpfe in der Schweizer Politik. Teil 2 zu den realen Grundlagen der Zeitenwende.

Das westliche Bündnis droht zu zerfallen. Trump sortiert die aussenpolitischen Prioritäten der USA neu. So wirft er zwar Bomben auf die Houthis im Jemen, wenn diese den Welthandel stören, zieht sich aber aus der Ukraine zurück, weil er sich um Europas Sicherheitspolitik nicht mehr kümmern mag. Die europäischen Führungsspitzen haben reagiert und Anfang März ein 800 Milliarden Euro schweres Aufrüstungspaket geschnürt – Schluss mit Schuldenbremse. Seit die Wiege der Demokratie nicht mehr nur vom Osten her bedroht ist, sondern auch im Oval Office ein Autokrat Platz genommen hat, ist für Europas Sicherheit kein Preis zu hoch. Ein ganzer Kontinent wird auf Vordermann gebracht, hochgerüstet, eingestellt auf Krieg.

Sicherheit als höchste Priorität
Und mittendrin die Schweiz, vor der die Zeitenwende auch nicht Halt macht. Zeitenwende Schweiz, das heisst: die Erhöhung des Zahlungsrahmens der Armee um vier Milliarden auf insgesamt 29.8 Milliarden Franken. Bis 2035 sollen die Militärausgaben 1 Prozent des BIP’s ausmachen. Bereits heute gibt die Schweiz pro Kopf mehr Geld fürs Militär aus als etwa Deutschland, Italien oder Österreich. Und doch wird die Schweiz von der Nato getadelt: 1 Prozent des BIP’s sei «eindeutig ein Witz in dieser ernsten Lage», meinte der kriegsbesoffene Roderich Kiesewetter, CDU-Politiker und Oberst a. D. der Bundeswehr.
Und auch hierzulande kann es manchen mit der Militarisierung nicht schnell genug gehen. Während Europa die Geldschleusen öffne, mache die Schweiz «nichts», schreibt «Der Bund». Und in der NZZ fordert der kampfbereite Georg Häsler Woche für Woche ein Ende «des Zögerns, der Zurückhaltung». Wer den «Militärexpertisen» von Oberst Kommandant Festungsminenwerfer Häsler folgt, könnte meinen, Putins Panzer stünden in der Ostschweiz und nähmen Kurs auf Bern. Das lässt nur eine Schlussfolgerung zu: aufrüsten, ausrüsten, nachrüsten.
Angepeitscht von Kriegstreibern, die auf dem Altar europäischer Freiheit und Demokratie noch die letzten Ukrainer:innen opfern wollen, ist der Bundesrat längst auf Kriegskurs eingeschwenkt – und zwar zweigleisig. Zeitenwende Schweiz heisst nicht nur Erhöhung des Rüstungsetats, sondern auch Annäherung an den imperialen Block des Westens: Übernahme der Sanktionen gegen Russland, Beschaffung des Nato-Kampfjets F-35, Beitritt zur hauptsächlich gegen Russland gerichteten Skyshield-Initiative, oder Teilnahme am europäischen Militarisierungsprojekt PESCO.

«Dynamische, politische Steuerung»
Weiter heisst Zeitenwende Schweiz: Strategisch wichtigen Unternehmen die Profite sichern und sie gleichzeitig an die kürzere Leine nehmen. Auch hierzulande schieben sich in geopolitisch instabilen Zeiten Sicherheit und Wirtschaft stärker ineinander. Korruption und Missmanagement belasten nicht nur die Staatskasse, sie bedrohen auch die nationale Sicherheitsstrategie. So will der Bundesrat der heimischen Waffenschmiede Ruag eine neue Rechtsform verpassen, um die Kontrolle über das skandalgeschüttelte Unternehmen zu gewinnen: Die geopolitische Lage verlange «eine dynamischere poli-tische Steuerung».
Weiter verabschiedete der Bundesrat Mitte Februar eine Botschaft an das Parlament, in der er die Kompetenz einforderte, «die Ausfuhrpolitik für Kriegsmaterial an sich ändernde geopolitische Gegebenheiten anpassen zu können». Das diene nicht nur den «aussen- oder sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz», sondern auch der Aufrechterhaltung einer «an die Bedürfnisse der Schweizer Landesverteidigung angepassten industriellen Kapazität».

Aussenpolitischer Drahtseilakt
Die immer enger werdende Verschränkung von Wirtschaft und Sicherheit verkompliziert die schweizerische Aussen- und Sicherheitspolitik. Der ungebrochene Einsatz für Freihandel steht zunehmend im Widerspruch zur innigen sicherheitspolitischen Beziehung zwischen der Schweiz und dem westlichen Bündnis. Eine von Joe Biden während seiner letzten Amtstage auf den Weg
gebrachte Regel erlaubt nur noch 18 Staaten, welche den USA als «vertraute Verbündete» gelten, uneingeschränkt auf die heiss begehrten KI-Chips zuzugreifen – die Schweiz zählt nicht dazu. So versuchen die USA jene, die «in der Mitte» stehen, zum Positionsbezug zu zwingen. Seither hat es die Schweizer Regierung an Anbiderungsversuchen an die USA nicht mangeln lassen: Aussenminister Ignazio Cassis lobte die Ukraine-«Friedensinitiative» von Donald Trump. Und Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter war nach der Rede des US-Vizepräsidenten J.D. Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz hin und weg: «Ein Plädoyer für die direkte Demokratie» habe er geliefert, von «liberalen Werten» habe er gesprochen, seine Rede sei «sehr schweizerisch» gewesen. Derweil garantierte Noch-Armeechef Thomas Süssli schon mal die Teilnahme an einer UNO-Friedenstruppe, sollte in der Ukraine tatsächlich Frieden geschlossen werden.
Hinter der diplomatischen Fassade ist die Regierung bemüht, die Handelswege in alle Richtungen offenzuhalten: «Die Strategie der Schweiz muss es sein, zur EU, zu den USA und zu China offene Türen zu haben», meint das SECO – und das weiss auch der Bundesrat. Protektionismus kann sich leisten, wer über eine grosse, selbsttragende Binnenwirtschaft verfügt oder strategisch wichtige Ressourcen kontrolliert. Für kleine, offene Volkswirtschaften wie die Schweiz bietet der Protektionismus hingegen kaum brauchbare Werkzeuge. Deshalb treibt Ignazio Cassis im Hintergrund die Unterzeichnung des Mercosur-Abkommens voran – obwohl die USA dies als Schritt in Richtung Brasilien, das eine führende Rolle bei den BRICS-Staaten spielt, interpretieren dürfte.

Die Festung Europa verteidigen
Zeitenwende Schweiz, das heisst: Die aussenpolitische Strategie, zu der die Regierung als ideeller Gesamtkapitalist gezwungen wird, ist umstritten – zumindest in der konkreten Ausprägung. In der Hauptsache, dass nun aufgerüstet und im sozialen Bereich alles zusammengespart werden soll, haben die politischen Kräfte von links bis rechts zusammengefunden – auch das ist Zeitenwende Schweiz. So fordert Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter in der SRF-Arena allen Ernstes die Einführung der Wehrpflicht für Frauen: Mehr Kita-Plätze, das sei ja schön und gut, aber «im Moment einfach nicht das Wichtigste».
Auch die SVP, welche sich im Namen des Friedens für uneingeschränkten Freihandel einsetzt, fordert mehr Geld für die Armee. Mit der Neutralitätsinitiative, der sich unter anderen Vorzeichen auch linke Kreise angeschlossen haben, fordert sie die Einhaltung einer umfassenden Neutralität, die von einer starken, eigenständigen Armee abgesichert wird. Für Links-Grün-Mitte führt der Weg ins Glück hingegen über eine vertiefte Zusammenarbeit mit Europa. Zeitenwende Schweiz heisst: An vorderster Front für die Verteidigung der Festung Europa steht die SP. Angesichts des schmutzigen Deals, der sich zwischen Trump und Putin abzeichnet, ist auch einigen Linken aufgegangen, dass sich der Ukraine-Krieg in einem inter-imperialistischen Kontext abspielt: Bei den Verhandlungen zwischen Trump und Putin habe man «das Gefühl, dass es nicht um Frieden geht, sondern um eine Aufteilung der Welt zwischen zwei Imperien», meint die ehemalige SP-Bundesrätin Michelin Calmy-Rey – ganz so, als wäre das was Neues.

In den Diensten der (guten) Kapitalinteressen
Angesichts der Gefahr, zwischen den Imperien zerrieben zu werden, entdecken staatstragende Linke den imperialen Charakter des Ukraine-Krieges – nur um dann umgehend die Selbstbehauptung Europas zu fordern. SP-Ständerätin Franziska Roth bedauert, dass die Schweiz, weil sie nicht entschlossener «auf der Seite Europas und der Ukraine steht», nicht zum Krisengipfel nach Paris eingeladen wurde – dem Gipfel, auf dem die beispiellose Hochrüstung des Kontinents beschlossen wurde. Während die – zumindest zu Beginn des Krieges – penetrant zur Schau gestellte «Solidarität» mit den Ukrainer:innen in der Breite schwindet, hält die zeitengewendete Linke umso stärker daran fest.
Mit Rekurs auf die ukrainische Subjektivität verurteilt Cédric Wermuth Trump’s «Friedensplan» und weiss genau, was die Ukraine braucht: Trotz drei Jahren Krieg seien «Mut, Resilienz und Entschlossenheit» der Ukrainer:innen ungebrochen. «Doch sie brauchen weiterhin unsere Unterstützung – politisch, wirtschaftlich und humanitär», so Wermuth. Gemeint ist damit die Sanktionierung russischer Unternehmen, die Einfrierung russischer Gelder auf Schweizer Konten und die Kooperation mit der SD Platform, die den Wiederaufbau in der Ukraine in erster Linie nach den Begierden des westlichen Kapitals gestalten will.
Als zeitengewendete Linke stellt sich die SP aber nicht nur in den Dienst von (westlichen, also «guten»0) Kapitalinteressen, sondern fordert, triefend vor Pathos, ein stärkeres Engagement für die europäische Sicherheitsarchitektur: «In diesen dunklen Zeiten kann und soll die Schweiz Teil eines hoffnungsvollen Europas sein, das an freiheitlichen Werten, an demokratischen Prinzipien und an grundlegenden Menschenrechten festhält und dieses Erbe der Aufklärung mit Standhaftigkeit und Haltung verteidigt.»

Die linke Speerspitze der Zeitwende
Auch Teile der ausserparlamentarischen Linken begreifen die ukrainische Bevölkerung erst im Zuge der Trump’schen Friedensverhandlungen als Verhandlungsmasse zwischen den grossen Weltmächten. Ginge es ihnen tatsächlich um die ukrainische Subjektivität, wüssten sie, dass sich inzwischen eine Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung für sofortigen Frieden ausspricht, auch um den Preis territorialer Verluste.
Sie können diesen Wunsch politisch nicht äussern, da in der Ukraine seit Beginn des Krieges keine Wahlen abgehalten werden, alle Demonstrationen verboten sind und kritische oppositionelle Medien nicht veröffentlicht werden. Ein Grossteil der männlichen Arbeiterklasse stimmt aber «mit den Füssen ab», indem sie vor den Greifkommandos der Armee flüchten und zu Zehntausenden das Land verlassen wollen.
Davon will die ausserparlamentarische linke Speerspitze der schweizerischen Zeitenwende nichts wissen. Sie beklagt, dass Trump Neuwahlen in der Ukraine fordert, und damit Selenskyj seine «demokratische Legitimität» abspreche. In Selenskyj sieht sie einen Freiheitskämpfer, einen «Wilhelm Tell». Wer ihn kritisiere, sei «unschweizerisch», ein «Habsburger». Ja, wenn die Zeitenwende die Schweiz erfasst, greifen auch Linke in die Mottenkiste der Schweizer Mythen.
Heldenverweise, positive Nationalgeschichte, Befreiungserzählungen, die auf der Stärke des «kleinen Mannes» abstellen – eine in der Schweiz eigentlich rechte Argumentationsfigur, die immer dann bemüht wird, wenn unabhängig von tatsächlichen Geschehnissen die nötige Kohärenz hergestellt werden muss, um glaubhaft zu erscheinen. Solche geistigen Verrenkungen bereiten heute den Boden für eine «Ruag-Antifa», die sich im Gefolge der SP formiert und sich «Tax the rich for weapons» auf die Fahnen schreibt: Aufrüstung ja, aber bitte mit den Steuergeldern der Reichen. Unter russischer oder amerikanisch-russischer Besatzung werde in der Ukraine keine Demokratie und Selbstbestimmung möglich sein – aber unter Selenskyj und Europa natürlich schon.

Teil 1 von «Zeitwende Schweiz» ist in der Ausgabe 07/08 zu lesen.

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